Gesunde Zahlen

Die Mathematik hat ihre passive Rolle als Erfüllungsgehilfin der medizinischen Forschung längst hinter sich gelassen und ist zur Innovationstreiberin medizinischer Entwicklungen avanciert. In Berlin entwickeln Mathematiker bereits pharmazeutische Wirkstoffe, helfen bei der Krebsfrüherkennung oder unterstützen Chirurgen dabei, Hüftimplantate zu verbessern.

Die Inspiration zu seinem Forschungsthema überkam den Mathematiker Tim Conrad bei einem Arztbesuch. Er hatte einen Bluttest machen lassen – reine Routinekontrolle. Alle Werte lagen im grünen Bereich, dennoch war er unzufrieden: Was konnte die Auswertung von 30 Proteinen und Stoffwechselprodukten im Blut schon aussagen über ein solch komplexes System wie den menschlichen Körper? „Meine Neugierde war geweckt“, erinnert sich Conrad.

Heute, einige Jahre und eine Promotion später, leitet der Wissenschaftler an der Freien Universität (FU) Berlin eine Arbeitsgruppe zur computergestützten Analyse des Proteoms, also der Gesamtheit aller Proteine eines Organismus. Aus Milliarden von Einzelinformationen – gewonnen aus einem einzigen Tropfen Blut – versucht er aussagekräftige Signalmuster der Proteinkonzentrationen zu filtern, um Krebserkrankungen bereits im Frühstadium zu erkennen. Ein ehrgeiziges Ziel, wie Conrad zugibt: „Von jedem Patienten verarbeiten wir eine Datenmenge, die in Büchern ausgeschrieben locker einen Kleinbus füllt.“

Wie reduziert man diese Aufgabe auf ein handhabbares Maß? Die Forscher konnten beweisen, dass ein Bruchteil der Daten ausreicht, um tragfähige Aussagen zu treffen. Auf dieser Grundlage entwickeln sie nun – in Kooperation mit der Mathematikerin und Einstein-Professorin Gitta Kutyniok von der Technischen Universität Berlin (TU) – immer bessere mathematische Methoden und leistungsfähigere Algorithmen, um am Ende für jede Krebsart etwa 20 spezifische Signale zu identifizieren. Das mathematische Forschungsgebiet dahinter nennt sich Compressed Sensing und befasst sich vereinfacht gesagt damit, aus vereinzelten Daten auf gesamte Datensätze zu schließen (siehe dazu das Interview mit Gitta Kutyniok ab Seite x). Für sechs Krebsarten, darunter Lungen-, Darm und Blasenkrebs, haben die Forscher schon charakteristische Fingerabdrücke gefunden, erste klinische Vorstudien liefern gute Ergebnisse. Wird die mathematische Auswertung von Big Data künftig zur Schlüsseltechnologie bei der Krebsfrüherkennung? 

Algorithmen für neue Wirkstoffe

Wenige Meter vom Mathe-Institut der FU Berlin entfernt entwickelt der Mathematiker Marcus Weber am Konrad-Zuse-Zentrum für Informationstechnik (ZIB) pharmazeutische Wirkstoffe. Normalerweise sind es Chemiker und Pharmakologen, die in der frühen Entwicklungsphase neuer Medikamente riesige Wirkstoffbibliotheken durchforsten, zahlreiche Molekülvarianten synthetisieren, und die Kandidaten im Reagenzglas, an Zellkulturen und in Tierversuchen auf Wirksamkeit und Nebenwirkungen testen. „Da ist viel Versuch und Irrtum im Spiel“, sagt der Leiter der Forschungsgruppe für computergestütztes Moleküldesign.

Weber, der sich schon seit Beginn seines Mathematikstudiums für die Simulation von Molekülen interessiert, geht lieber berechnend vor. Er entwirft neue Wirkstoffe in silico – also im Computer. In mehreren Durchläufen optimiert er ihre Wirksamkeit und tilgt unerwünschte Nebenwirkungen. Erst wenn der neue Wirkstoff im virtuellen Labor tut, was er soll, wird er synthetisiert und Tests an realen Modellen unterzogen. „Dieser Ansatz erlaubt eine viel gezieltere Medikamentenentwicklung und spart Zeit und Kosten“, sagt Weber. 

Erste Früchte hat seine Arbeit schon hervorgebracht: Weber konnte – ausgehend von dem starken aus Opium gewonnenen Schmerzmittel Morphin – in silico einen Wirkstoff entwickeln, der ausschließlich an Rezeptormoleküle in entzündetem Gewebe andockt. Das Ergebnis ist ein hochpotentes Mittel für Entzündungsschmerzen ohne die gängigen Nebenwirkungen herkömmlicher opioider Schmerzmittel wie Benommenheit, Verstopfung oder Lähmungen des Atemzentrums.

Bis vor wenigen Jahren war es noch undenkbar, die Bindung von Wirkstoffen an ihre Zielstrukturen – meist Proteine – realistisch zu simulieren. Denn dabei treten mehrere Zehntausend Atome miteinander in Wechselwirkung. „Wir müssen Räume mit zehntausenden Dimensionen modellieren“, sagt Weber, „selbst moderne Hochleistungsrechner bräuchten für alle Kombinationsmöglichkeiten Jahrhunderte.“ Weber entwickelt neue stochastische Methoden, um dem Problem beizukommen: Er betrachtet viele verschiedene Molekülzustände gleichzeitig und berechnet aus den statistischen Ergebnissen die Wahrscheinlichkeit, mit der das Molekül an bestimmte Strukturen des Zielproteins bindet. Bis zu 80 Prozent des Fortschritts bei solchen Simulationen gehe auf das Konto innovativer mathematischer Forschungsansätze und leistungsfähiger Algorithmen, schätzt Weber – Hirnschmalz zählt hier mehr als Rechenkraft.

Die Mathematik hat in den meisten Feldern der medizinischen Forschung lange Zeit nur die Rolle einer Erfüllungsgehilfin gespielt – etwa für die statistische Auswertung klinischer Studien. Anfang der 1990er Jahre begannen Mathematiker dann, Moleküle und Organe in Rechnern zu simulieren. „Mittlerweile gibt es kaum ein großes medizinisches Forschungsprojekt ohne beteiligte Mathematiker“, sagt Christof Schütte, Leiter der Arbeitsgruppe für Biocomputing an der FU Berlin, Vizepräsident des ZIB und einer der Pioniere in der Simulation biologischer Prozesse. „Wichtige Beiträge leisten sie vor allem in der realistischen Simulation von physiologischen, molekularen oder biomechanischen Vorgängen und in der Analyse großer medizinischer Datenmengen.“ Die Mathematik ist zur Innovationstreiberin medizinischer Forschung avanciert. In Berlin ist auf diesem Gebiet ein weltweit sichtbarer Cluster entstanden. Das Einstein Center for Mathematics Berlin (ECMath) fördert Arbeiten in diesem Forschungsfeld mit einer eigenen „Innovation Area“.
 

Die Datenmengen jedes Patienten füllen in Büchern ausgeschrieben locker einen Kleinbus

Big Data ist in den Biowissenschaften spätestens seit der Entzifferung des menschlichen Genoms ein bestimmendes Thema. Die Datenflut beschränkt sich jedoch nicht auf Gensequenzen oder Proteomkarten, wie sie Tim Conrad für die Krebsdiagnose nutzt. Auch durch andere Innovationen, etwa in der Medizintechnik, entstehen immer mehr potenziell wertvolle Datensammlungen. Ein Beispiel: Herzschrittmacher. Die Geräte zeichnen inzwischen ein ganzes Spektrum unterschiedlicher Messwerte auf, darunter Puls, Herzfrequenz, elektrische Stromstärken am Herzmuskel, Lungenflüssigkeit. Teilweise liegen Zeitreihen über viele Jahre vor.

Der Schatz, der in diesen Datensätzen steckt, muss jedoch erst geborgen werden: In einem aktuellen, vom ECMath geförderten Forschungsprojekt sucht Schüttes Arbeitsgruppe in solchen Datenreihen kritische Wendepunkte, um die Entwicklung des Gesundheitszustandes eines Patienten vorherzusagen. „Bei guter Datenqualität konnten wir in einem Pilotprojekt bis zu 100 Tage im voraus erkennen, dass ein Patient ins Krankenhaus eingewiesen werden muss“, sagt Schütte. Durch solche frühzeitigen Warnungen könnten die Mediziner künftig deutlich früher gegensteuern.

Die angewandten mathematischen Methoden, darunter Trend- und Wendepunktanalysen, kommen ähnlich auch in Klimamodellen oder zur Vorhersage von Börsenkursen zum Einsatz. Zu schaffen macht den Forschern jedoch die schwankende Qualität der medizinischen Daten: Unzählige Einflussfaktoren wie die Tagesform des Patienten oder Unregelmäßigkeiten bei der Einnahme von Medikamenten können die Ergebnisse verfälschen. Schütte arbeitet deshalb an Methoden, um solche Unsicherheiten zu quantifizieren und bei der Auswertung miteinzubeziehen – die dahinter stehende uncertainty quantification ist ein mathematisches Forschungsgebiet, das immer mehr an Bedeutung gewinnt. „Damit machen wir die Vorhersagen künftig deutlich robuster gegen Störfaktoren.“
 

Statistik gegen resistente Viren

Zurück am Mathe-Institut der FU Berlin: In seinem mit medizinischen Publikationen überfrachteten Büro hält es Max von Kleist schon lange nicht mehr auf dem Stuhl. Der in einer Medizinerfamilie aufgewachsene Mathematiker malt komplexe Evolutionsmuster von Viren an seine Tafel. Bereits seit dem Studium treibt ihn die Frage um, wie sich die Wirkung von Medikamenten auf den menschlichen Organismus und auf Krankheitserreger simulieren lässt. In einem ECMath-Projekt erforscht er nun, wie HIV-Erreger Resistenzen gegen Aids-Medikamente entwickeln. „Wir wollen herausfinden, wie sich mit neuen Behandlungsschemata die Entwicklung von Resistenzen eindämmen lässt“, erklärt er. 

Um mit seinen Simulationen der Realität möglichst nahzukommen, muss von Kleist den gesamten menschlichen Organismus detailgetreu modellieren. Er durchforstet Publikationen aus der HIV-Forschung, übersetzt die medizinischen Forschungsergebnisse in mathematische Formeln und integriert die Puzzleteile in ein Gesamtmodell, in dem Hunderte Millionen von Viren auf Millionen von Zellen treffen – eine gigantische Rechenaufgabe. „Wir rechnen deshalb erst Stichproben durch und leiten aus den Ergebnissen statistische Aussagen über die Dynamik des gesamten Systems ab.“

Ein Ergebnis seiner Arbeit: Ein frühzeitiger Wechsel der HIV-Medikation auf Basis der Statistik, also noch bevor Resistenzen durch herkömmliche Diagnostik sichtbar werden, könnte die Entstehung resistenter Erreger deutlich einschränken. Doch kann man auf der Grundlage mathematischer Modelle Handlungsempfehlungen für die Mediziner aussprechen? „Ich möchte vor allem Denkanstöße geben“, sagt von Kleist. Dabei erhält er auch Gegenwind. Was ihn ärgert: „Viele Gegenargumente sind nicht objektiv, sondern traditionalistisch.“ Derzeit leistet er Überzeugungsarbeit, damit seine Rechenergebnisse in einer klinischen Studie überprüft werden.
 

Die digitale Durchschnittshüfte

Auch Stefan Zachow kennt die Stolpersteine in der Zusammenarbeit zwischen Mathematikern und Medizinern: „Hier treffen Theoretiker auf Praktiker“, sagt der Leiter der Arbeitsgruppe „Therapy Planning“ am ZIB. „Mediziner wollen klare Entscheidungshilfen für die Anwendung, die mathematische Herleitung dahinter interessiert sie nicht.“ Zachow arbeitet mit seinem Kollegen Martin Weiser – Leiter der ZIB-Arbeitsgruppe „Computational Medicine“ – in einem weiteren ECMath-Projekt daran, Hüftoperationen mithilfe von Mathematik zu verbessern. Denn beim Einbringen von Hüftimplantaten haben die Chirurgen ein konkretes Problem: Oft steht ihnen für die Planung des Gelenkersatzes lediglich ein zweidimensionales Röntgenbild zur Verfügung – Position und Lage sowie Funktion des Implantates müssen aber ausgerichtet werden, um den dreidimensionalen anatomischen Gegebenheiten der Hüfte des Patienten gerecht zu werden. Das gelingt nicht immer perfekt, das Implantat verursacht dann Schmerzen oder lockert sich sogar. Rund jede zehnte Implantation eines künstlichen Hüftgelenks in Deutschland ist eine Zweitoperation.

Um die Chirurgen bei der Positionierung von Implantaten zu unterstützen, entwickelt das Team um Zachow ein Verfahren zur Berechnung virtueller 3D-Modelle der Hüfte aus dem zweidimensionalen Röntgenbild. Der Trick: Aus Tausenden vorhandenen 3D-Hüftmodellen haben sie eine Art digitale Durchschnittshüfte entwickelt. Ihre Software nimmt von diesem Modell ein virtuelles Röntgenbild auf und vergleicht es mit dem echten Röntgenbild des Patienten. Anschließend wird das 3D-Modell so lange schrittweise verändert, bis virtuelles und echtes Röntgenbild übereinstimmen. So kann aus dem zweidimensionalen Röntgenbild des Patienten ein exaktes 3D-Modell seiner Hüfte abgeleitet werden, wie es sonst nur durch computertomografische Aufnahmen möglich ist – jedoch ohne die damit verbundene Strahlenbelastung und zu einem Bruchteil der Kosten. 

Für Arbeiten auf diesem Gebiet hat das ZIB bereits mehrere Preise eingeheimst.

„Dabei treten wir gegen große Medizintechnik-Unternehmen wie Siemens und GE an, also echt harte Konkurrenz“, sagt Zachow.

Eine der größten mathematischen Herausforderungen dabei: Die einzelnen Raumkoordinaten des Modells wissen nicht, in welche Richtung sie sich verschieben müssen, damit die Ähnlichkeit mit dem echten Gelenk größer wird. Alle Varianten durchrechnen? Unmöglich. Der einzige gangbare Weg sind auch hier innovative Rechenverfahren – die Mathematiker entwickeln neue Optimierungsverfahren, um die schrittweise Änderung des 3D-Modells effizient und zielgerichtet durchzuführen. Dabei stehen sie vor einer besonderen Hürde: Die Rechenzeit muss kurz genug gehalten werden, um das Verfahren in eine praxistaugliche individuelle Operationsplanung integrieren zu können.

Anhand der erstellten 3D-Modelle möchten die Wissenschaftler dem Chirurgen anschließend konkrete Positionierungshilfen anbieten – der zweite Teil des Forschungsprojekts. In einem virtuellen Hüftmodell simuliert Martin Weiser für verschiedene räumliche Ausrichtungen des künstlichen Gelenks und verschiedene Bewegungsmuster Einflussfaktoren wie biomechanische Belastung, Abrieb oder Druck auf umliegende anatomische Strukturen. In Zukunft könnte daraus beispielsweise eine für jeden Patienten individuell erstellte Bohrschablone entstehen, die der Chirurg als Orientierungshilfe bei der Ausrichtung des Implantats verwendet. „Besonders in komplexen Therapien und Operationen kann die Mathematik Medizinern wichtige Entscheidungshilfen an die Hand geben“, sagt Weiser und betont: „Wir wollen die Chirurgen mit unserer Arbeit unterstützen, nicht ersetzen.“

Text: Dietrich von Richthofen