Mehr zutrauen!

Im Mathematikunterricht ist mehr Muße und Vertrauen in die Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler vonnöten, sagt Jürg Kramer, Mathematik-Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin und Direktor des Deutschen Zentrums für Lehrerbildung Mathematik (DZLM). Für die stark belasteten Lehrkräfte fordert er mehr Freiräume und verpflichtende Fortbildungen, damit sie besser gerüstet sind für ihre anspruchsvollen Aufgaben. Und damit sie ihren Schülerinnen und Schülern eine solide mathematische Allgemeinbildung mit auf ihren Lebensweg geben können.

Es verblüfft mich, wie selbstständig Schülerinnen und Schüler arbeiten können, wenn man sie nur lässt. Das merke ich immer wieder bei der Sommerschule „Lust auf Mathematik“, die ich seit 15 Jahren gemeinsam mit anderen Berliner Mathematikerinnen und Mathematikern im Jugendbildungszentrum in Blossin im Südosten Berlins organisiere. Daran nehmen begabte Schülerinnen und Schüler aus Berliner Gymnasien teil. Sie müssen selbstständig und in kleinen Gruppen mathematische Probleme bearbeiten, die an den Schulstoff der Sekundarstufe II anknüpfen und in Elemente der modernen Mathematik und ihrer Anwendungen einführen. Dabei entfalten die Jugendlichen Aktivitäten, die mich immer wieder überraschen und die ich oft für nicht möglich gehalten hätte. 

Die Erlebnisse in Blossin haben mir klargemacht, dass wir der Versuchung widerstehen müssen, die Lernenden in ihrem Denken zu sehr zu steuern. Wir sollten ihnen viel mehr Selbstständigkeit zumuten. Ich beschränke mich in meinem Unterricht daher auf kurze Inputphasen, auf die eine Arbeitsphase und das gegenseitige Präsentieren der Ergebnisse in der Gruppe folgt. Meine Tätigkeit als Lehrender wird so zunehmend zu einer „mathematischen“ Moderatorentätigkeit.  

Im Mathematikunterricht fragen viele Schülerinnen und Schüler zunächst nur nach einem Rezept, das schnell zum Ziel führt. Wenn man ihnen aber klar macht, dass sie durch Nachdenken einen Lösungsweg durchschauen und oft auch selber finden können, dann nehmen sehr viele die Herausforderung zum selbstständigen Nachdenken an.
 

"Entscheidend ist, dass sie merken, wie wichtig mir als Lehrendem ist, dass sie tatsächlich etwas lernen."

Zugleich muss man ihnen kontinuierlich ein fachliches Feedback über ihre Lernfortschritte geben. Das hat unter anderem die viel beachtete Studie des neuseeländischen Bildungsforschers John Hattie gezeigt. Die nächste Aufgabe muss sich immer am aktuellen Lernstand ausrichten, damit sie ein erreichbares, aber kein einfaches Ziel ist. Das stellt hohe Anforderungen an die Lehrenden, es setzt fachliche Kompetenz, Diagnosefähigkeit sowie pädagogisches Geschick voraus, und das bei zunehmend uneinheitlichen Lerngruppen. Vor allem in Metropolen liegen Vorkenntnisse, Anstrengungsbereitschaft, soziales Verhalten und kulturelle Hintergründe zwischen den Schülerinnen und Schülern oft sehr weit auseinander.

Durch aufbauendes fachliches Lernen entsteht nach und nach ein solides Fundament an Fachwissen, das Anwendungen ermöglicht. Sobald Schülerinnen und Schüler zum Beispiel den Satz des Pythagoras kennengelernt haben, sollte man ihnen zutrauen, selbst herauszufinden, wie man damit die Entfernung zwischen zwei Punkten im Raum ermitteln kann. Das bringt Erfolgserlebnisse mit sich. Ich habe mal einen Schüler zu einem Mitschüler sagen hören: „Weißt Du, was ich an den Lehrern doof finde? Die sagen einem immer, wie man es machen soll.“ 

Mathematikunterricht, wie er derzeit stattfindet, bietet den Schülerinnen und Schülern zu wenig Muße, sich die fachlichen Grundideen und Werkzeuge gründlich anzueignen. Es wird zu linear nach Rahmenplaninhalten und Lehrbuch vorgegangen und zu wenig vernetzt zwischen den verschiedenen Gebieten der Mathematik und ihren Leitideen. Auch intelligente Aufgaben kommen zu kurz, also Aufgaben, für die es keine Standardlösungen gibt und die Kinder dazu anregen, herumzuprobieren, auszuschließen, vorwärts und rückwärts zu arbeiten sowie Muster und Zusammenhänge zu entdecken. Ich wünschte mir, dass solche intelligenten Aufgaben, die man zum Beispiel beim Wettbewerb „Känguru der Mathematik“ finden kann, in den täglichen Unterricht einfließen.

Lehrerinnen und Lehrer haben heute einen sehr schweren Job und wenig Freiräume. Sie werden durch administrative Belange stark belastet und durch Vergleichstests gefordert. Auch die zunehmende Heterogenität der Schülerschaft erschwert ihre Arbeit. Sie könnten es besser schaffen, wenn sie sich zusammentäten, um zum Beispiel in einer Klassenstufe gemeinsam die mathematischen Inhalte zu strukturieren, Lernstände zu erheben, Klassenarbeiten zu konzipieren und auszuwerten sowie intelligente Aufgaben zu sammeln. Doch man sollte ihnen auch mehr Freiräume zugestehen und sie andererseits zu Fortbildungen verpflichten, damit sie mit dem Wissen über Lernen und Lehren und über gesellschaftliche Prozesse Schritt halten können.

Eine gute mathematische Allgemeinbildung ermöglicht nicht nur eine souveränere Bewältigung alltäglicher Anforderungen wie Einkaufen, Sparen, Versichern, Geld leihen, sondern auch eine strukturierte Wahrnehmung der uns umgebenden Welt. Sie hilft uns dabei, gesellschaftliche Prozesse zu hinterfragen und eine begründete Meinung zu bilden. Kurzum: Ohne mathematische Allgemeinbildung ist ein mündiger Bürger nicht denkbar. Die im Mathematikunterricht vermittelten Fähigkeiten zum Strukturieren, Schließen, Widerlegen, Verknüpfen oder Verallgemeinern sind wichtiges Rüstzeug zum Verständnis der Welt. Indem wir den Schülerinnen und Schülern im Unterricht mehr zutrauen, geben wir ihnen Selbstvertrauen für ihr Leben mit auf den Weg.

Text: Jürg Kramer