Der Mathematiker Albrecht Gündel-vom Hofe lehrt an der Technischen Universität Berlin Mathematik, spielt in Jazzbands und bearbeitet Kirchenchoräle für den Jazz. Der Komponist Martin Supper leitet an der Universität der Künste Berlin das Studio für Klangkunst und Klangforschung und lehrt computergestützte Komposition. Beide haben eine geteilte Leidenschaft.
Text: Martin Kaluza
Im ehemaligen Gasthof von Trebel hat sich das kulturell interessierte Publikum der umliegenden Dörfer versammelt. Ein Bildhauer aus Berlin hat das Haus im Wendland gekauft und veranstaltet hier nun Ausstellungen, Vorträge und Konzerte. Viele Intellektuelle hat es in den letzten Jahren hierher verschlagen, das Einzugsgebiet reicht von Hamburg bis Berlin. An den Wänden des Festsaals hängen abstrakt wirkende Grafiken und Bilder, regelmäßige Muster, Linien und Bögen. Es sind Visualisierungen der Beziehungen zwischen den Primzahlen. Vor dem Publikum steht Albrecht Gündel-vom Hofe, Jahrgang 1957, dünne ovale Brille und gestutzter Bart, und hält mit sanfter, aber lebhafter Stimme einen Vortrag über den Zusammenhang von Musik und Mathematik. Er wird es nicht bei der Theorie belassen. Nach dem Vortrag wird er sich ans Klavier setzen und Jazz spielen, begleitet von Kontrabass, Saxophon und Schlagzeug. Das Repertoire: eigene Kompositionen, Jazz-Klassiker und Kirchenchoräle, die er in die Sprache und die harmonischen Strukturen des Jazz übersetzt hat.
Gündel-vom Hofe ist Mathematiker. An der Technischen Universität (TU) Berlin unterrichtet er angehende Ingenieure und Mathematik-Lehramtsstudenten. Und er ist Musiker. Regelmäßig tritt er als Jazzpianist in unterschiedlichen Besetzungen auf, veröffentlicht sogar Alben. Schon als Dreijähriger begann er mit dem Klavierspielen, lernte später unter anderem bei der japanischen Jazzpianistin und Komponistin Aki Takase. Doch weil die beruflichen Perspektiven besser waren, entschied er sich für ein Studium der Mathematik, belegte aber nebenher Seminare in Musikwissenschaft und gründete bald sein erstes Jazzquartett. „Unseren Premiere hatten wir vor fast 24 Jahren bei einer Feier hier am Mathematischen Institut der TU.“
Mit seiner Doppelbegabung für Musik und Mathematik ist Gündel-vom Hofe in guter Gesellschaft. Der Mathematiker Leonhard Euler (1707–1783), der einen großen Teil der heutigen mathematischen Symbolik entwickelt hat, galt als hervorragender Musiker. Auch Albert Einstein spielte Violine und Klavier und pflegte einen regen Briefwechsel mit dem Komponisten Arnold Schönberg. Dennoch gelten Musik und Mathematik oft als Gegensätze – oder zumindest als weit voneinander entfernte Sinnprovinzen. Liegen sie am Ende doch eng beieinander?
Pythagoras und die Mathematik des Wohlklangs
„Ich glaube, dass wir Menschen sehr viel mehr Mathematik in uns tragen, als uns bewusst ist. Musik ist nur ein Beispiel dafür“, sagt Gündel-vom Hofe. „Vielleicht sind wir so gestrickt, dass wir bestimmte Ordnungen suchen oder intuitiv erkennen. Wenn ein Ton schwingt, schwingen auch die Obertöne mit, also das Mehrfache einer Schwingung. Wahrscheinlich spüren wir das als eine Resonanz auch in uns.“ Er bewegt sich damit in einer Tradition, die sich letztlich auf Pythagoras von Samos zurückführen lässt, der ungefähr von 560 bis 480 vor Christus lebte. Pythagoras versuchte die Ordnung der Welt in Zahlenverhältnissen zu erkennen. Er sah Zahlen in der Musik ebenso wie in der Mathematik als Ausdruck einer göttlichen Harmonie. „Alles ist Zahl“ lautete sein Credo.
Gündel-vom Hofe zieht einen zwei Meter langen schmalen Holzkasten auf die Bühne, der mit drei Saiten bespannt ist. Es ist ein Trichord – die dreisaitige Version eines Monochords. Anhand eines solchen Instruments untersuchte Pythagoras die Teilungsverhältnisse einer Saite. Daraus leitete er seine Konsonanztheorie ab. Gündel-vom Hofe zupft und streicht eine Saite in ihrer Mitte so, dass ein Oberton entsteht – ein Flageolett-Ton, genau die Oktave des Grundtons. „Die Oktave entspricht für Pythagoras dem Zahlenverhältnis 1:2“, sagt Gündel-vom Hofe. Und er fährt fort: „Der nächste Oberton entsteht, wenn man die Saite auf zwei Dritteln ihrer Länge teilt – das ist die Quinte. Bei einem Viertel der Länge schwingt wieder der Grundton, nur zwei Oktaven höher.“
Gündel-vom Hofe zupft an den Saiten. Auf dem Korpus des Instruments sind bestimmte Stellen mit ganzzahligen Brüchen markiert: 1:2, 2:3, 3:4. Was die Zuschauer nacheinander hören, ist die Reihe der natürlichen Obertöne.
Die wohltemperierte Stimmung
Instrumente wurden bis in die Neuzeit nach einer Stimmung gestimmt, die auf Pythagoras zurückgeht. Allerdings gibt es dabei ein Problem. Gündel-vom Hofe setzt an, um das zu erklären. „Wenn Sie eine Saite sieben Mal halbieren, landen Sie bei einem Hundertachtundzwanzigstel ihrer Länge. Damit haben Sie sieben Oktaven durchschritten“, erklärt er. Wenn man vom gleichen Grundton zwölf Quinten durchschreitet, müsste man theoretisch beim gleichen a ankommen, weil zwölf Quinten sieben Oktaven ergeben. Doch das ist nicht der Fall. „Die Quinte entsteht, wenn ich eine Saite bei zwei Dritteln der Länge teile. Wenn Sie diese zwei Drittel zwölf Mal mit sich multiplizieren, kommt dabei nicht ein Hundertachtundzwanzigstel heraus, sondern nur einen Wert, der in der Nähe liegt. Und Sie hören den Unterschied!“
Das Problem hat Musiker und Theoretiker lange beschäftigt. „Pythagoras konnte es mit dem ihm zur Verfügung stehenden Vokabular rationaler Zahlen nicht lösen“, sagt Gündel-vom Hofe. Abgelöst wurde die pythagoreische Stimmung erst ab dem 17. Jahrhundert durch die wohltemperierte Stimmung. Die weicht von den ganzzahligen Intervallen, auf denen Pythagoras' Weltbild aufbaute, jeweils leicht ab.
Gündel-vom Hofe setzt sich ans Klavier, den Rücken zum Publikum. Bass und Schlagzeug nehmen den Beat auf, Gündel-vom Hofe wiegt den Oberkörper, tupft scheinbar mühelos swingend Melodien in die Jazzkadenzen. Im Wechsel spielen Klavier, Saxophon und manchmal Bass und Schlagzeug ihre Soli. Die Musiker haben die Mathematik der Harmonie und die rhythmischen Symmetrien so weit verinnerlicht, dass sie in ihren Improvisationen regelrecht mit ihnen spielen.
Schuberts entschlüsselte Handschrift
Doch nicht allein die Harmonielehre ist eng mit Mathematik verbunden. Auch in Kompositionen verbergen sich Ordnung und Symmetrien. Die Computertechnik ist inzwischen so weit fortgeschritten, dass sie die musikalische Handschrift eines Komponisten, seine Vorlieben, Marotten und Kompositionsprinzipien entschlüsseln kann. Sie kann sie sogar reproduzieren. „Innerhalb der künstlichen Intelligenz werden mit neuronalen Netzen hochintelligente Maschinen gebaut“, sagt Martin Supper, Jahrgang 1947, Komponist, Musikwissenschaftler und Professor an der Universität der Künste (UdK) in Berlin. Supper ist Experte für computergenerierte Musik und leitet dort seit 1985 das Studio für Klangkunst und Klangforschung. „Es hat schon Versuche gegeben, ihnen über Monate hinweg Schubert zu instruieren. Das neuronale Netzwerk war dann irgendwann in der Lage, etwas zu komponieren, von dem selbst ausgewiesene Experten sagen: Das muss doch von Schubert sein. Das kennen wir noch gar nicht.“
Doch heißt das, dass der Computer eigenständig komponieren kann? Kann er ein Stück Musik schaffen, das Bedeutung hat? Supper winkt ab, als habe er die Frage schon zu oft gehört. „Der Computer kann gar nichts, er folgt nur Handlungsanweisungen. Wenn man dem Rechner nur immer Schubert beigebracht hat, bleibt er auch bei Schubert“, sagt Supper. „Wenn Sie aber als Künstler einen Komponisten wie Schubert studieren, ist Ihr Ziel ja nicht, wie er zu komponieren, sondern Sie wollen neue Wege beschreiten. Neue Richtungen kann nur der Mensch beschreiten, die Maschine nicht.“
Der Computer öffnet Komponisten neue Wege
Supper sitzt im Regieraum des Studios für Klangkunst und Klangforschung am Ende eines Ganges im zweiten Stock des UdK-Gebäudes in der Fasanenstraße in Charlottenburg. Ein paar Zimmer weiter hämmert ein Student Rachmaninow in den Flügel. Im Nebengang dringt die Arie aus Alfredo Catalanis „La Wally“ durch ein offenes Fenster. Hier in Suppers Studio wird weder gesungen noch auf klassischen Instrumenten musiziert. Hinter einer Trennscheibe arbeitet eine Kollegin an einem Laptop. Hin und wieder dringen vom Computer elektronisch erzeugte Töne durch die gedämmten Wände.
Supper ist auf entspannte Art fokussiert. Wenn er mit ruhiger Stimme spricht, bewegt er sich nicht viel. Man kann ihn sich als wachen und akribischen Tüftler vorstellen. Der Musik hat sich Supper von der Seite der Technik genähert. Zu Schulzeiten schon hatte er Radios gebaut, absolvierte dann eine Lehre als Radio- und Fernsehtechniker. „Studiert habe ich erst nach der Lehre, mit Schwerpunkt theoretische Informatik, Musikwissenschaft und Linguistik. Ich bin dann als Kind eines Musikerhaushaltes aber doch auf die Musik zurückgekommen“, sagt er.
Fasziniert von den Möglichkeiten elektronischer Klangerzeugung interessierte sich Supper schnell für Musik, die tradierte harmonische, klangliche und kompositorische Grenzen überschreitet. „Musik hat für mich per se keinen Unterhaltungscharakter. Ich habe nichts gegen Unterhaltungsmusik, aber sie interessiert mich null. Wenn ich in ein Konzert gehe oder eine Platte auflege, will ich, dass mir neue Räume aufgetan werden und mir nicht zum 150. Mal die G-Moll-Symphonie von Mozart anhören“, sagt Supper. In der Musikrichtung, die er vertritt, kommt es darauf an, neue kompositorische Regeln zu entdecken, mit alten zu brechen oder diese gezielt in neuen Kontexten einzusetzen.
Inspiration aus den Naturwissenschaften
Die Komponisten, mit denen Supper sich beschäftigt, haben sich, wie auch die Vertreter anderer Künste, immer wieder von den Naturwissenschaften und der Mathematik inspirieren lassen. „Als die Relativitätstheorie veröffentlicht wurde, hat sich jeder damit beschäftigt, auch wenn man es nicht völlig verstanden hat“, sagt Supper. „Als ich noch studierte, habe ich Bücher über Chaostheorie gelesen, ebenso wie die Komponisten damals.“ Einer der bekanntesten Vertreter dieses Ansatzes war Iannis Xenakis (1922–2001). Er suchte nach Wegen, Zufallsverfahren, Spieltheorie und Zahlentheorie in seinen Kompositionen umzusetzen.
Andere Musiker haben die Naturwissenschaften regelrecht nach Algorithmen abgesucht, um sie dann in Musik zu übersetzen. „Bekannt waren eine Zeit lang die sogenannten L-Systeme. Das sind mathematische Formalismen, mit denen der Biologe Aristid Lindenmayer Ende der 60er Jahre versuchte, das Wachstum von Pflanzen algorithmisch zu beschreiben“, sagt Supper. „Dessen Algorithmen wurden von zahlreichen Komponisten übernommen. Blättchen, Ästchen und Blütchen kann man dann bestimmte musikalische Parameter zuordnen, zum Beispiel Tonhöhen, -dauern und Lautstärken."
Ordnung und Symmetrien in den Kompositionen
Bei Kompositionen dieser Art ist die Verbindung zur Mathematik buchstäblich in die Musik hinein konstruiert. Doch das ist keine Erfindung des 20. Jahrhunderts. „Bach hat kunstvoll Symmetrien und Muster in seine Musik eingearbeitet. Er hat viel mit Verschlüsselungen gearbeitet. Das bekannteste Beispiel ist sein Name. Den hat er in Gestalt der Tonfolge B-A-C-H in Kompositionen hineinkodiert“, sagt Gündel-vom Hofe. „Die Musik wirkt sehr strukturiert. Sie passt in das Bild der Zeit: Barockgärten, barocke Schlösser und Häuser sind ja auch stark nach geometrischen Prinzipien gebaut.“
Bei Bach landet unweigerlich, wer sich mit der geteilten Leidenschaft für Mathematik und Musik befasst. So unterschiedlich ihre Vorstellungen von Musik sind, in der Bewunderung Bachs finden Gündel-vom Hofe, der Kirchen- und Jazzmusiker, und Supper, der sich für Musik begeistert und die Grenzen der traditionellen Harmonik sprengt, einen gemeinsamen Nenner. Doch woher kommt die emotionale Kraft, die diese gewissermaßen auf dem Reißbrett entworfene Musik entwickelt? Ist die enge Verbindung von Mathematik und Musik, von Symmetrien und Zahlenverhältnissen, die unser Harmonieempfinden und unseren Sinn für musikalische Schönheit ansprechen, vielleicht ein Hinweis darauf, dass wir als Menschen immer bestrebt sind, mathematische Ordnung in den Dingen zu erkennen?
„Schon Pythagoras hat verschiedenen musikalischen Skalen bestimmte Emotionen zugeordnet“, sagt Gündel-vom Hofe. „Genauso hat die Mathematik eine ästhetische Seite, die emotional wirken kann. Wenn ein Mathematiker forscht und dabei auf neue Strukturen und Zusammenhänge stößt, kann das bei ihm regelrecht zu Glücksgefühlen führen, ähnlich wie das Gelingen einer gemeinsamen Improvisation in einem Jazzensemble.“