Wo rechnen sie denn?

Ohne Mathematiker würden viele Bereiche unseres Lebens nicht funktionieren – ihr Fachwissen ist in vielen Branchen gefragt. Wir haben fünf Berliner Mathematiker befragt, warum das so ist

 

Die Planetensammlerin

Karin Eichentopf (57), Abteilungsleiterin am Institut für Planetenforschung des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt e.V. (DLR) am Standort Berlin-Adlershof, Studium der Mathematische Methoden und Datenverarbeitung in der Wirtschaft an der Hochschule für Ökonomie Berlin-Karlshorst. 
 

Zahlen haben mich schon früh fasziniert, ich habe als Schülerin begeistert an Mathematik-Olympiaden teilgenommen und dann Mathematische Methoden und Datenverarbeitung studiert.

Nach der Wende bin ich zum Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt gegangen. Wir entwickeln Instrumente für Raumsonden der ESA und NASA, um zu verstehen, wie das Sonnensystem sich entwickelt hat und ob auch andere Planeten habitabel, also lebensfreundlich sein könnten.

Ich habe die Software mitentwickelt, mit der unsere Rechencluster die riesigen Datenmengen der Kamerasysteme auswerten und archivieren – etwa die von der „Mars Express“-Mission der ESA oder der „Cassini“-Mission der NASA zum Saturn. Eine der Kameras auf dem Lander Philae der ESA-Kometenmission Rosetta stammt ebenfalls von uns.

Bevor wir eine Kamera auf eine Mission schicken, kalibrieren wir die Instrumente. Das heißt, wir messen im Labor bestimmte Bilder und Spektren. Dann prüfen wir, wie sie von den Instrumenten dargestellt werden und wie die Instrumente auf Einflüsse wie elektromagnetische Strahlung reagieren. Wenn die Sonden dann ihre Daten aus dem All schicken, wissen wir, wie wir sie mathematisch korrigieren müssen.

Der Verbindungsmann

Christian Liebchen (41), Leiter Projekte im Bereich Produktion bei der S-Bahn Berlin GmbH in Berlin-Mitte, Studium der Wirtschaftsmathematik an der Technischen Universität Berlin.

Verkehrsnetze haben mich schon immer fasziniert. Schon als Kind kannte ich mich im Berliner U-Bahnnetz gut aus und habe später meine Diplom- und auch meine Doktorarbeit darüber geschrieben, wie sich die Fahrpläne von BVG und S-Bahn durch mathematische Methoden verbessern und verzahnen lassen.

Die Disziplin dahinter heißt ganzzahlige Optimierung. Beispielsweise können auf einer U-Bahnlinie ja nur ganze Fahrzeuge unterwegs sein, also genau 5 oder genau 6 – aber nicht 5,4 oder 5,8. Für Fahrpläne stellen sich außerdem ganz praktische Fragen: Wo sich allein zwei Linien kreuzen, bestehen bereits acht Umsteigebeziehungen. Wie lange müssen Züge also an diesen Knotenpunkten halten, damit die einen schnell umsteigen können, die anderen aber nicht zu lange warten müssen? Wie viele Fahrzeuge und Fahrer muss man pro Linie vorhalten? Wo nutzen mehrere Linien dasselbe Gleis? 

All diese Fragen machen uns Mathematikern zwar das Leben schwerer, aber nur wenn wir sie berücksichtigen, können unsere Lösungen von praktischem Wert sein und Fahrpläne verbessern.

Der Geheimniskrämer

Carl Stephan* (58), Kryptologe beim Bundesnachrichtendienst (BND) in Berlin-Lichterfelde.

An der Uni habe ich mich unter anderem mit Algebra, Gruppentheorie und Kombinatorik beschäftigt, also mit Gleichungen und Symmetrien. Das alles wende ich auch heute an, wenn ich Verschlüsselungsmethoden für die Kommunikation des Bundesnachrichtendiensts mit seinen Informanten entwickle. Wir prüfen hier einerseits Geräte und Programme, die man auf dem Markt kaufen kann, andererseits schreiben wir auch selbst mal eine Software. 

Wenn mir jemand in einer E-Mail vertrauliche Informationen schicken will, funktioniert eine gängige Verschlüsselungsmethode – stark vereinfacht – so: Man multipliziert zwei möglichst große Primzahlen miteinander, potenziert die Nachricht mit einem vorgegebenen Exponenten und bildet den Rest beim Teilen durch das Produkt der beiden Primzahlen. Ich entschlüssele die Nachricht dann mit einem anderen Exponenten.

Wir Kryptologen gelten innerhalb des BND sicher als Exoten, auch weil wir etwas abgeschieden von anderen Abteilungen arbeiten. Wir entwickeln aber manchmal auch zusammen mit Informatikern und Ingenieuren eine Hardware, die die Kollegen dann zum Beispiel für die Verschlüsselung der Gespräche in ein Mobiltelefon einbauen.

*Name vom Bundesnachrichtendienst geändert

Der Spiele-Theoretiker

Sadegh Jokar (36), Data Scientist beim Online-Spieleanbieter „Gameduell“ in Berlin-Mitte, Promotion am Institut für Mathematik an der Technischen Universität Berlin, Studium der angewandten Mathematik an der Sharif University of Technology (Iran).

Mein Spezialgebiet sind Approximationen und Dimensionsreduktion. Manche Zahlen, Vektoren oder Funktionen lassen sich nicht exakt berechnen, weil sie unbekannt oder sehr komplex sind. Darüber habe ich promoviert. Während meiner Forschungstätigkeit stieß ich auf eine Stellenanzeige: „Gameduell“ suchte einen Senior Data Architect – das Stellenprofil war erstaunlich nah an meiner wissenschaftlichen Arbeit. Die Nutzer spielen dort täglich Millionen von Spielrunden und erzeugen dabei riesige Datenmengen. Je nach Fragestellung, die wir uns im Big-Data-Team überlegen, fassen wir die Daten zu Clustern zusammen und reduzieren so ihre Komplexität. Unsere Erkenntnisse helfen der Firma, ihre Spiele zu verbessern und die Nutzer vor Betrügern zu schützen. 

Unser Team arbeitet ein bisschen abseits von den anderen. Deshalb denken manche Kollegen, dass wir in einer anderen Dimension leben. Das stimmt natürlich nicht: Ich schätze zwar das tägliche Brainstorming mit den anderen Datenanalytikern. Aber wir tauschen uns auch regelmäßig mit den Produkt-Teams und dem Management aus.

Die Einheizerin

Simone Besendörfer (29), Risikomanagement-Analystin beim Energieversorgungsunternehmen GASAG in Berlin-Mitte, Studium der Mathematik an der Universität Potsdam.

Ich war schon immer die Frau mit den Zahlen – in der Schule und auch jetzt in meinem Job. Dort schaue ich mir beispielsweise an, wie und warum der Gaspreis in der Vergangenheit geschwankt hat, und errechne daraus Szenarien, wie er in Zukunft schwanken könnte. Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung also. Ein wichtiger Faktor ist zum Beispiel das Wetter – wenn es plötzlich sehr kalt wird, heizen die Leute mehr. Dann steigt die Nachfrage und damit tendenziell auch der Preis. 

Meine Szenarien helfen den Kollegen, die Gas auf dem Rohstoffmarkt einkaufen und an den Kunden weiterverkaufen. Die wollen wissen, welche Risiken jeweils damit verbunden sind, wenn sie den Kunden bestimmte Angebote machen und zu einem bestimmten Zeitpunkt eine bestimmte Menge Gas kaufen.

Protokoll: Daniel Kastner