Das Böse ist kein Hirndefekt

Der forensische Psychiater Hans-Ludwig Kröber erkundet das Denken und Entscheiden von Verbrechern – und warnt davor, die Schuld für Straftaten im Gehirn zu suchen

 

Nach besonders grausamen Verbrechen heißt es oft, der Täter sei ein Monster, er sei psychisch krank oder in seinem Gehirn stimme etwas nicht. Doch psychische Krankheit ist nur selten die Ursache einer Straftat. Weit mehr als 99 Prozent der psychisch Kranken werden nie straffällig.

Bei zwei Gruppen spielen psychische Störungen jedoch eine gewichtige Rolle für Straffälligkeit. Einerseits bei Psychosekranken, die sich akut bedroht und verfolgt fühlen und deswegen Gewalthandlungen begehen. Ihre Hirnbefunde unterscheiden sich jedoch nicht von denen der übergroßen Mehrheit an Schizophrenen, die keine Gewalttaten begehen. Andererseits bei Tätern, die eine Persönlichkeitsstörung haben.

Vor einigen Jahren habe ich Mario M. begutachtet. Er hatte eine Jugendliche entführt, in seine Gewalt gebracht und fünf Wochen lang gefangen gehalten. M. ist weit überdurchschnittlich intelligent, sehr eigenwillig, sehr narzisstisch. Er hat eine ausgeprägte Persönlichkeitsstörung, eine narzisstische Selbstüberhöhung, hielt sich für genial. Von außen betrachtet führte er ein sehr eingeschränktes Leben, aber mit großen Fantasien und Plänen. Er wusste genau, dass seine Tat verboten war, und hat sie entsprechend sorgfältig geplant. Es war ihm bewusst, dass er diesem Mädchen, das er verschleppt und zum Sex zwingt, Gewalt antut, dass das Mädchen darunter leidet und er dessen Rechte verletzt. Er hat es sich schöngeredet: Die wahre Liebe würde schon irgendwann kommen.

Einige Neurobiologen wie Gerhard Roth und Wolf Singer vertreten lautstark eine These, die darauf hinausläuft, dass es das Böse nicht gebe, ebenso wenig wie Verantwortung und individuelle Schuld. Sie behaupten, weil es für das menschliche Denken, Fühlen, Wahrnehmen, Urteilen und Handeln eine materiale Basis in Form des Gehirns gebe, sei nicht der Mensch, sondern dessen Gehirn die determinierende Ursache allen Handelns. Freiheit sei nichts weiter als eine Illusion. Das endet in einer Generalabsolution für jegliches Verbrechen – von der Steuerhinterziehung bis zum Massenmord. Das Gehirn war ja schuld, nicht der Täter.

„Alles, was Menschen denken und tun, hat neuronale Korrelate: Diese erklären aber nichts.”

Forensische Psychiater sehen das anders. Alles, was Menschen denken und tun, hat neuronale Korrelate: Diese erklären aber nichts. Unsere Erfahrungen bestimmen unser Handeln, nicht die Tatsache, dass sie neuronal gespeichert werden. Wir kümmern uns um die Frage, warum Menschen Straftaten begehen. Unsere Aufgabe ist es, den Juristen und der Allgemeinheit eine Antwort darauf zu geben, ob von Tätern weiterhin ein Risiko ausgeht. Dem kann man durch Hirn-Kartierung nicht auf die Schliche kommen, sondern nur durch intensive Beschäftigung mit der Person.

Die Psychiatrie hat lange nur auf die Person des Täters geschaut, auf das klinische Bild und auf mögliche Hirnschädigungen. Gerade bei dissozial Persönlichkeitsgestörten wie Mario M. berücksichtigen wir inzwischen aber viel stärker das Wechselverhältnis zwischen dem sozialen Rahmen und dem Individuum. Fast die Hälfte aller Straffälligen ist unter katastrophalen Bedingungen aufgewachsen, hat als Kind Gewalt erlebt oder ansehen müssen. Doch auch hier gilt: Wer so aufwächst, wird nicht zwangsläufig straffällig – die allermeisten werden es nicht.

Wie also schätzen wir einen Fall wie Mario M. ein? Die Frage lautete, ob man ihm wegen seiner Persönlichkeitsstörung, also dem, was Juristen „schwere seelische Abartigkeit” nennen, eine verminderte Schuldfähigkeit zuschreibt. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass M. ein starkes Motiv hatte, eine starke Selbstrechtfertigung, die sozialwidrig und normwidrig ist. Die Entscheidung für oder gegen diese Straftat lag durchaus im Rahmen seiner Möglichkeiten. M. hat sich für diese böse Tat entschieden, nicht sein Gehirn an seiner Stelle.

Hans-Ludwig Kröber ist einer der profiliertesten Gerichtsgutachter Deutschlands. Seit 1996 ist er Direktor des Instituts für Forensische Psychiatrie an der Berliner Charité. In seinem Buch „Mord. Geschichten aus der Wirklichkeit” (Rowohlt, 2012) erzählt er anhand wahrer Fälle, was Menschen zu Mördern macht.

Text: Martin Kaluza