Die Beobachterin

Gwendolyn Sasse ist von Oxford nach Berlin gekommen, um ein Forschungsinstitut aufzubauen, das die gesellschaftlichen Veränderungen in Osteuropa und im postsowjetischen Raum mit sozialwissenschaftlicher Gründlichkeit durchleuchtet – teils gegen den Willen von Autokrat*innen

Die Wahlen in Belarus waren gelaufen. Machthaber Lukaschenko hatte sich zum Sieger erklärt. 80 Prozent der Bevölkerung sollen für ihn gestimmt haben, so die offizielle Verlautbarung. Doch viele Belaruss*innen wollten das nicht glauben, gingen auf die Straße. Sie protestierten, auch auf die Gefahr hin, eingesperrt, misshandelt oder getötet zu werden.

Das war der Moment, als Gwendolyn Sasse im rund 1100 Kilometer entfernten Berlin an ihrem Schreibtisch saß und sich fragte, wie sie es schaffen könnte, unter dieser belarussischen Bevölkerung eine Meinungsumfrage durchzuführen. Wer demonstriert da und warum? Wer nicht und warum nicht? Wer glaubte Lukaschenko? Was für ein politisches System wünschten sich die Belaruss*innen?

Sich immer wieder solche Fragen zu stellen, um die Transformationsprozesse in osteuropäischen Staaten zu verstehen, das ist der Beruf von Gwendolyn Sasse. Die 49-Jährige empfängt in ihrem Büro in Berlin-Mitte: aufgeräumter Schreibtisch, eine volle Bücherwand, dazwischen eine Tafel, auf der steht: „Always look on the bright side of life.“ Draußen tobt das Leben, hier drinnen ist es ruhig. In einer Ecke stehen Kisten. Bücher aus Oxford, noch nicht ausgepackt, „keine Zeit“, sagt Sasse und lacht. Sie ist schlank, hat halblange Haare und eine geduldige Art. Vor fünf Jahren kam die Oxford-Professorin für vergleichende Politikwissenschaft in die Hauptstadt an der Spree, um eine neue Aufgabe anzugehen: ein interdisziplinäres Forschungsinstitut aufbauen, das die Russland- und Osteuropakompetenz in Deutschland stärkt und die Öffentlichkeit informiert. 2015 beschloss der Bundestag die Gründung des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS), Geld kam vom Auswärtigen Amt, 2016 konnte Sasse loslegen.

Der Sprung nach Berlin bedeutete eine Umstellung. War im altehrwürdigen Oxford noch alles geregelt gewesen – die Lehre, die Mitarbeitenden, die Zeit für die eigene Forschung –, war in Berlin alles offen. „Als ich hier anfing, gab es nur ein ganz kleines Team, wir mussten alle Strukturen erstmal aufbauen“, erinnert sie sich. Heute arbeiten am ZOiS mehr als 40 Leute. Sie forschen zu Themen wie gesellschaftlicher Wandel, Migration, Konflikte und Grenzen, Jugend und politische Ökonomie – vor allem in Russland, Belarus, der Ukraine, der Republik Moldau, im Südkaukasus und in Zentralasien, aber auch in Teilen Mittelosteuropas.

„Wir beschäftigen uns mit tagesaktuellen Fragen und Ereignissen wie zum Beispiel Wahlen, Protesten, Sanktionen, interessieren uns aber auch für größere Fragen wie die Veränderung von Einstellungen und Identitäten im Angesicht von gesellschaftlichen Krisen oder Konflikten“, sagt Sasse. „Gerade der Russland-Ukraine-Konflikt zeigt uns, dass wir vielfältige Prozesse gut verstehen müssen, um dann auch adäquat handeln zu können.“

Fragen stellen, neugierig sein, das zieht sich durch Sasses Biografie wie ein roter Faden. Eben mit dem Abitur fertig – Deutschland war ein Jahr zuvor wiedervereinigt worden – hatte sie zwei Uni-Bewerbungen ausgefüllt: eine für Medizin, die andere für Geschichte, Politik und Slawistik. Welche sollte sie abschicken? Da erinnerte sie sich an ihren Geschichtslehrer, was für einen spannenden Unterricht er ab 1989 gehalten hatte. Was geschieht nun mit der Sowjetunion? Was bedeutet das kommunistische Erbe für Osteuropa? Da waren sie wieder, die Fragen nach gesellschaftsverändernden Dingen, die Sasse so sehr interessierten. Die Bewerbung für das Medizinstudium ließ sie liegen.

Intime Einblicke

Um Antworten zu finden, betreiben Sasse und ihr Team detaillierte empirische Forschung. Um im Nachgang der Lukaschenko-Wahl in Belarus herauszufinden, wie die Stimmung in der Bevölkerung wirklich ist, wählte sie die Methode der quantitativen Befragung. Sasse und ihre Kolleg*innen erarbeiteten einen umfangreichen Fragebogen, während Bilder von protestierenden Frauen, die schwer bewaffneten Polizisten Blumen überreichen, durch die Medien gingen. Die Fragen streiften gesellschaftliche, religiöse, politische und ökomische Bereiche. „Wir haben mehrere Disziplinen bei uns versammelt und können so Entwicklungen aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten – politisch, soziologisch, kulturwissenschaftlich“, sagt Sasse.

Die Ergebnisse der Online-Befragung stellten sie und ihre Kolleg*innen im Frühjahr 2021 in einem ZOiS-Report vor: 65 Prozent der 2000 Befragten gaben an, dass sie die Wahlergebnisse für gefälscht halten. Nur 14 Prozent nahmen an den Protesten teil. 60 Prozent interessieren sich seit der Wahl und den Protesten stärker für Politik. „Diese Umfrage war ein seltener Einblick in die öffentliche Meinung von Belarus“, sagt Sasse, die dazu in Zeitungen und anderen Medien Interviews gab. Auch das gehört zum Aufgabenspektrum von ZOiS: Gespräche mit Medien und Politikvertreter*innen führen, der Öffentlichkeit auf ganz unterschiedlichen Kanälen Hintergründe, aktuelle Ereignisse und Forschungsergebnisse nahebringen: „Das kann ein Podcast sein, unser wöchentliches Blog-Format ZOiS Spotlight, ein Newsletter, eine Veranstaltung oder ein Artikel in einer Tageszeitung“, sagt Sasse.

Face-to-Face-Interviews

Auch der seit Jahren andauernde Konflikt in der Ukraine beschäftigt Sasse. 2017 stellte sie die Frage, ob die Bevölkerung des umkämpften und geteilten Donbass, des großen Bergbaugebiets beiderseits der russisch-ukrainischen Grenze, dieses überhaupt noch als eine Region versteht oder schon als autonom beziehungsweise als Teil Russlands. Hier wählte sie auf der von Kiew kontrollierten Seite die Methode der quantitativen Face-to-Face-Befragung und ließ in den Separatistengebieten Telefoninterviews durchführen. Sie fand 2017 und 2019 heraus, dass eine Mehrheit der Bevölkerung des seinerzeit nicht von Kiew kontrollierten Teils des Donbass zur Ukraine gehören möchte. Eine Erkenntnis, die diametral zur Propaganda Russlands steht.

Überhaupt fühlt sich Sasse der Ukraine und auch der Krim verbunden: Für ihre Doktorarbeit an der London School of Economics forschte sie zur Entwicklung der Krim innerhalb der postsowjetischen Ukraine. Sie lernte Russisch und Ukrainisch, verbrachte viele Monate im Land und stellte fest, dass die Ukraine sehr divers ist, Sprachen und Kulturen sich vermischen, die Menschen häufig beide Sprachen anwenden. Wenn sie darüber erzählt, wie sie nach der Doktorarbeit eine Stelle nach der anderen antritt, an die Universität nach Budapest geht, von dort wieder nach London als Dozentin, verschiedene Fellowship-Programme in Florenz und Berlin wahrnimmt, dann als Professorial Fellow nach Oxford zieht und schließlich nach Berlin, redet sie von Glück und Fügung. Tatsächlich hat Sasse mit Bestnoten abgeschlossen, Auszeichnungen erhalten und „einfach richtig viel gearbeitet“. Seit April 2021 ist sie zudem Einstein-Professorin für Vergleichende Demokratie- und Autoritarismusforschung am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität (HU) zu Berlin. „Ich freue mich, dass ich nach fünf Jahren ZOiS nun auch wieder Lehre machen kann, das habe ich wirklich vermisst“, sagt sie. Forschen will sie an der HU auch, etwa zu politischen und sozialen Transfers von Migrant*innen in ihre Heimatländer.

Zerbrechliche Freiheit

Bei all den Fragen, die sie den Menschen stellt, kommen ihr auch Zweifel. „Wir müssen uns ständig überlegen, wie wir die Sicherheit derer schützen können, die mit uns zu tun haben“, sagt sie. Russland zum Beispiel würde viel stärker als früher versuchen, wissenschaftliches Arbeiten zu beeinflussen. Eine Wissenschaftlerin einzuladen, damit sie in Berlin über die politische Entwicklung Russlands nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion spricht, sei inzwischen sehr schwierig geworden. „Das könnte im Rahmen der Gesetzgebung zu ‚ausländischen Agenten‘ oder ‚unerwünschten Organisationen‘ ausgelegt werden und Druck oder Strafen nach sich ziehen“, sagt Sasse. Immer mehr Wissenschaftler*innen würden zögern, Kooperationen einzugehen, aus Angst vor beruflichen Nachteilen oder juristischen Repressionen. „Die Entwicklungen in Russland oder Belarus zeigen, wie autoritäre Systeme auch mit solchen Methoden intensiv an ihrem Systemerhalt arbeiten, aber auch in Polen und Ungarn sieht man, wie fragil eine Demokratie sein kann“, sagt Sasse. „In unseren westlichen Demokratien nehmen wir vieles als gegeben hin. Wenn man aber sieht, welches Risiko jemand in Belarus eingeht, um für Recht und Freiheit zu kämpfen, merken wir erst, dass diese Werte nicht selbstverständlich sind.“

Text: Karl Grünberg

Stand: Dezember 2021