Jugend in Bewegung

Die junge Generation wird oft mit Fridays for Future assoziiert. Ist das Label gerechtfertigt oder greift es zu kurz? Wie politisch sind die 14- bis 24-Jährigen heute wirklich? Und wie unterscheiden sich die Generationen? Berliner Politikwissenschaftler*innen schauen genauer hin

Ein mächtiger Zirkuslöwe mit dem Schriftzug „Marktwirtschaft“ auf seinem Fell hat einen kleineren Löwen zur Hälfte verschluckt, dessen Körper das Motto „Soziales“ schmückt. Im Hintergrund steht ein hilfloser Dompteur, der das Wort „Politik“ auf seinem T-Shirt stehen hat. „Der Marktwirtschaftslöwe hat die Überhand, die Wirtschaft hat einen höheren Rang als das Soziale“, erläutert Kim, 15 Jahre alt, die am Whiteboard prangende Karikatur. „Bei der sozialen Marktwirtschaft geht das Soziale mehr und mehr verloren“, ergänzt Elias, ihr Klassenkamerad. Die Schüler*innen der 10b des Walther-Rathenau-Gymnasiums in Berlin-Wilmersdorf melden sich und nehmen sich gegenseitig dran. Blitzschnell leiten sie die Kernfrage der Stunde im Schulfach Politische Bildung her: Lässt die Politik zu, dass die soziale Marktwirtschaft immer unsozialer wird?

Es müssen nur die richtigen Personen an den richtigen Positionen sitzen, um sich für die Sache der Menschen einzusetzen.

Nele, 17, Barnim (Brandenburg)

In den Feuilletons werden in die „Jugend von heute“ oft große politische Hoffnungen gesetzt. Hatte man die 14- bis 17-Jährigen im Anschluss an die nicht-repräsentative Sinus-Jugendstudie von 2016 noch als „Generation Mainstream“ verschlagwortet, wurde ihr seit 2018 in zahlreichen Medienberichten ein ungleich politischerer Habitus bescheinigt. Vor der Gründung von Fridays for Future (FFF) seien die Mitglieder dieser sogenannten Generation Z höchstens durch niedrigschwelligen armchair activism aufgefallen – nun so die häufig bemühte Erzählung, stelle die Jugend wieder die Systemfrage. Auf der anderen Seite hält sich der Mythos, Jugendlichen fehle die politische Reife – noch immer wird auf dieser Grundlage gegen „Wählen ab 16“ argumentiert.

Demokratie ist die Grundlage meiner Freiheit und die meiner Umwelt.

Aydan, 23, Berlin-Friedrichshain

Wie politisch aber ist die Alterskohorte der 14- bis 24-Jährigen wirklich? Ist „Alter“ überhaupt eine adäquate Kategorie, um demokratische Mündigkeit zu messen? Welche Rolle spielen Bildungshintergründe? Sind die Generationennarrative sozialwissenschaftlich hinreichend gedeckt oder gründet das vermeintliche „Wesen“ von Kohorten auf wenig mehr als „Anekdoten-Evidenz“?

Demokratie ist das Recht auf die Wahl der Zukunft.

Enrico, 17, Berlin-Lichtenberg

„Manche meiner Altersgenossen kaufen sich eine FCK-NZS-Handyhülle und glauben, damit sei es getan“, sagt Kim. Sie selbst sei auf vielen Demos gewesen, von Black Lives Matter bis Fridays for Future. Ihr Freundeskreis sei zwar stark politisiert, das lasse sich aber nicht auf ihre Klasse, die Schule oder gar „die Jugend“ übertragen.

So ähnlich sieht es auch der Soziologe Dieter Rucht, ehemaliger KoLeiter der Forschungsgruppe „Zivilgesellschaft, Citizenship und politische Mobilisierung in Europa“ am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Die Wahrheit einer gefühlten wachsenden Politisierung der Jüngeren lasse sich empirisch kaum belegen. Geringfügige Schwankungen des politischen Interesses von Altersgruppen, wie sie zum Beispiel die im mehrjährigen Abstand durchgeführten Shell-Studien registrieren, würden in den Medien oft zu Trends verklärt, so Rucht. „Kleine Differenzen werden generalisiert.“

Tatsächlich wird zum Beispiel der unter dem Label „Generation Y“ firmierenden Alterskohorte – den zwischen 1985 und 2000 Geborenen – oft eine große Egozentrik nachgesagt. Dagegen hat eine Studie des WZB ergeben, dass die Millenials keineswegs unpolitisch sind. Vielmehr würden sie sich heute, im dritten Lebensjahrzehnt, stärker engagieren als ihre Vorgänger*innen, die Generation X, in der gleichen Lebensphase. „Und wenn der Trend anhält“, resümieren die Berliner Politwikwissenschaftler Marcus Spittler und Philippe Joly, „werden sie sich in ihren Dreißigern stärker beteiligen, als es die Babyboomer vor ihnen taten.“

Die Daten sind allerdings mit Vorsicht zu genießen. Denn was man daraus nicht ableiten sollte: dass die Generation Y generell politischer ist als die beiden Vorgängergenerationen. So muss die sozialwissenschaftliche Generationenforschung mit der statistischen Schwierigkeit umgehen, dass sich vermeintliche „Kohorteneffekte“ mit „Periodeneffekten“ überschneiden – und ferner auch noch „Alterseffekte“ erwägen. Konkret: Dass sich die Generation Y heute stärker engagiert als die Xer, hat nicht zuletzt damit zu tun, dass Letztere heute beruflich und familiär gebunden, also in einer gesetzteren Lebensphase ist. Auch dass wir in chronischen Krisenzeiten leben und die ganze Gesellschaft politischer ist, als sie es noch in den Nullerjahren war, muss man beim Einordnen der Kohorten bedenken.

Wir haben die Pflicht, uns für die Demokratie einzusetzen und sie gegen demokratiefeindliche Tendenzen zu verteidigen.

Erik, 19, Berlin-Schöneberg

Ich setze mich nicht für Demokratie ein. Wir haben bereits eine Demokratie in Deutschland, mit der ich relativ zufrieden bin. Zudem bin ich politisch nicht besonders engagiert.

Johannes, 15, Berlin-Mitte

„Darauf zu bauen, dass solche Trends anhalten, ist soziologisch unredlich“, sagt Rucht. Bezogen auf die ganz junge Generation bedeute dies, dass man nicht vorhersagen könne, ob die etwa bei Fridays for Future gemachten Politisierungserfahrungen Sickerungseffekte hervorrufen, ob sich die beteiligten Akteur*innen in Zukunft also noch genauso engagieren wie heute.

Zwar könnten historische Großereignisse – wie Pandemien oder die Klimakatastrophe – eine Alterskohorte umfassend prägen. Ob und wie diese Erfahrungen in politisches Handeln übersetzt werden, unterscheide sich aber sowohl innerhalb von als auch zwischen sozialen Gruppen, so Rucht. Und ändere sich außerdem im Laufe der Zeit. „Von solchen Ereignissen wird nie eine Generation im Ganzen erfasst und in gleicher Weise berührt werden.“ Ohnehin sei Fridays for Future eine von primär weiblichen Gymnasiast*innen zwischen 11 und 18 Jahren getragene Bewegung, deren Eltern überdurchschnittlich oft einen akademischen Hintergrund hätten. „Schülerinnen und Schüler von Haupt- oder Berufsschulen haben an den Demos so gut wie gar nicht teilgenommen“, erklärt der Soziologe. In dieser Lesart ist FFF der Aufstand eines Teils der Wohlstandsjugend.

Demokratie ist die Chance für jeden Menschen, egal welcher sozialen Herkunft, für seine oder ihre Werte einzustehen.

Max, 23, Berlin-Reinickendorf

Dass Bildungshintergrund und Beteiligungsgrad in der Demokratie oft zusammenhängen, weiß auch Thorsten Faas, Professor für Politische Soziologie der Bundesrepublik Deutschland am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität (FU) Berlin. Faas hat in der Studie „Wählen mit 16“ die Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg im Jahr 2019 verglichen. In einem Fall war das Wahlalter 18, im anderen durfte schon mit 16 gewählt werden. „Was sich nicht belegen ließ, ist die normative Mutmaßung, bei Jugendlichen gebe es ein Reifedefizit.“ Im Gegenteil: Dass die 16- und 17-Jährigen noch einen tendenziell besseren Zugang zu „politischen Sozialisationsagenturen“ wie Schule und Familie hätten, sei mit Blick auf ihre Wahlbeteiligung eher von Vorteil, so Faas. Auch wenn sich das krampfhafte Beharren auf der 18 demokratietheoretisch nicht rechtfertigen lasse, wäre eine bundesweite Senkung des Wahlalters aber nicht notwendig egalisierend. „Das ist kein Selbstläufer zu mehr Gleichheit, hier bräuchte es flankierende Maßnahmen“, sagt Faas. Denn natürlich würden sich eher die 16-jährigen Gymnasiast*innen in den für die demokratische Kultur förderlichen Institutionen, zum Beispiel in schulischen Netzwerken, aufhalten, als jene, die im Alter von 16 Jahren die Schule bereits wieder verlassen haben. So zeigen diverse Erhebungen, dass unter Jugendlichen aus bildungsschwachen Familien oft eine große Ferne zum politischen Prozess vorherrscht.

Mein Umfeld geht wählen, weiß, dass nicht ein Einzelner seine Meinung durchsetzen kann, sondern dass die Mehrheit entscheidet, und übt demokratische Grundsätze wie Abstimmungen auch im Privaten aus.

Philippa, 16, Berlin-Wilmersdorf

„Hier gibt es dringenden Handlungsbedarf“, sagt auch Sabine Achour, Professorin für Politikdidaktik und Politische Bildung an der FU Berlin. So sei die politische Bildung im Nachgang des Pisa-Schocks und des auf Effizienz gepolten neoliberalen Zeitgeists massiv vernachlässigt worden. In den Berliner Schulen etwa hätten die Jahrgangsstufen 7 bis 10 – besonders in den Sekundarschulen – vor der 2019 erfolgten Stärkung des Unterrichtsfachs Politische Bildung auf zwei Stunden pro Schuljahr oft kaum Demokratie-Unterricht gehabt. Politik sei im Rahmen des Integrationsfachs Geschichte/Politik bloß der Wurmfortsatz des Geschichtsunterrichts gewesen. Die Lehrkräfte hätten kaum Zeit dafür gehabt, zudem habe vielen eine entsprechende Ausbildung gefehlt.

Ich setze mich für Demokratie ein, da ich mitentscheiden möchte, wer an die Macht kommt und welche Entscheidungen fallen, anstatt einfach nur zuzuschauen.

Emil, 16, Berlin-Steglitz

Auch die Berliner Politik-Lehrerin Annalena Vitz ist der Ansicht, dass es für das Fach Politische Bildung einer speziellen Ausbildung bedarf. Die Bildung politischer Urteilskraft stehe im Vordergrund, so Vitz. Hierfür brauche es andere Methoden als jene aus dem Lehramtsfach Geschichte. „Es geht darum, die Schüler*innen demokratisch zu sensibilisieren, Interesse an politischen Themen zu wecken, aber es nicht mit dem Hammer zu tun.“ An ihrer jetzigen Schule, dem Walther-Rathenau-Gymnasium in Berlin-Wilmersdorf, herrsche unter den Schüler*innen ein weitreichendes demokratisches Selbstverständnis vor. Zuvor habe sie an einer Integrierten Sekundarschule unterrichtet. Da seien ihr auch demokratiefeindliche Haltungen, Rassismus und Antisemitismus begegnet.

Dass politische Ungleichheit mit sozialer Ungleichheit korreliert, sei auch institutionell begründet, sagt Achour. „Viele Schüler*innen in Deutschland gehen ohne vernünftigen Politikunterricht nach der 10. Klasse ab. Wer sich wundert, dass es einen Zusammenhang zwischen Bildungshintergrund und politischen Einstellungen respektive einem affirmativen Demokratieverständnis gibt, ist bestenfalls naiv.“ Inzwischen habe die Politik vielerorts begriffen, dass sich hier schnell etwas ändern muss. Achour selbst ist eine der Leiter*innen des seit Herbst 2018 vom Berliner Senat geförderten Projekts „Demos Leben“, das Demokratiebildung als Querschnittsaufgabe in den verschiedenen Fächern und einzelnen Phasen des Lehramtsstudiums verankern soll. Der demokratische Nutzen von politischer Bildung werde wieder stärker zur Kenntnis genommen.

Geld sollte in der Politik nicht mehr eine so große Rolle spielen.

Alina, 19, Berlin

Für die Zukunft wünsche ich mir, dass man auch schon mit 16 Jahren wählen gehen darf.

Leonie, 17, Berlin-Pankow

Nicht zuletzt deshalb, weil Rechtsextremist*innen versuchten, diese Lücke zu schließen, so Achour. Insbesondere im Osten Deutschlands würden rechte Akteure – von Wehrsportgruppen bis zur AfD-nahen Desiderius-Erasmus-Stiftung – gezielt junge Leute politisch agitieren. So ging kürzlich ein Aufschrei durch die Medien, als sich die AfD bei den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt als stärkste politische Kraft bei den Wähler*innen unter 30 erwies. Dieses unschöne Ergebnis sei allerdings oft falsch interpretiert worden, sagt Faas. Die anderen Parteien nämlich folgten auf dem Fuße, die Stimmen verteilten sich auf mehrere Blöcke mit ähnlicher Größe. Bei der Wahlstudie in Sachsen und Brandenburg haben die Jüngeren ebenfalls bunt gewählt. Diese seien häufig noch nicht festgelegt, sagt Faas. Das könne man als Manipulierbarkeit lesen – oder als kreative Offenheit.

Auch Politikwissenschaftler*innen wie die Digitalisierungsexpertin Jeanette Hofmann vom Berliner Weizenbaum-Institut für die vernetzte Gesellschaft benennen eine weitreichende Flexibilität als eigentliches Merkmal der jüngeren Kohorten. Zudem sei politische Beteiligung in Form von Online-Petitionen, Flashmobs und anderen kurzfristigen Formen des Engagements heute viel niedrigschwelliger als früher. So würden die Mitglieder jüngerer Generationen zwar immer seltener in Parteien oder Gewerkschaften eintreten – sich aber dennoch vielfach engagieren, oft eben situativ.

So demokratiegefährdend sich die Landgewinne der Rechtsextremen gesamtgesellschaftlich ausnehmen mögen – die Mehrheit der jungen Wählerinnen und Wähler sind überzeugte Demokrat*innen. Sie politisch auf Fridays for Future zu begrenzen, greift aber entschieden zu kurz.

Manchmal sei sie genervt davon, dass das Klimathema alles okkupiere, sagt Kim, die Zehntklässlerin aus Berlin. „Natürlich geht die Klimafrage alle etwas an, ich finde es aber schade, wenn andere Themen dadurch in den Hintergrund treten.“

Text: Christoph David Piorkowski

Stand: Dezember 2021