Metropole der Zahlen

Berlin lockt junge Menschen aus der ganzen Welt, auch viele Nachwuchsmathematiker. Eine besonders gut vernetzte Forschungslandschaft bietet ihnen beste Bedingungen für einen Senkrechtstart in die höheren Sphären der Mathematik

Man könnte denken, man sei aus Versehen ins Jahr 1980 gereist: Wände aus grauem Sichtbeton, im Fahrstuhl blättert der Lack. Architektonisch befindet sich das Mathematikgebäude der Technischen Universität (TU) Berlin, ein mit Anbauten versehener Hochhausriegel aus getöntem Glas und Stahl, sicher nicht auf der Höhe der Zeit. Doch auch wenn äußerlich nicht viel darauf hindeutet, im Innern des Bürocontainers an der Straße des 17. Juni arbeiten einige der Besten ihres Faches.

Im achten Stock hat der Mathematiker John Sullivan sein Büro, ein etwa 15 Quadratmeter großer, schmuckloser Raum in der Mitte eines langen Ganges. Der jungenhaft wirkende 52-Jährige hat an der Harvard University und der University of Cambridge studiert, an der Princeton University promoviert und unter anderem an der University of Illinois gelehrt, bevor er 2003 als Professor für mathematische Visualisierung an die TU gerufen wurde. 

Damals war Berlin längst nicht so international wie heute. "Dauerhaft nach Berlin zu gehen, das war für mich als Amerikaner schon ein großer Schritt", sagt Sullivan.

Inzwischen ist er mit einer Deutschen verheiratet, seine Kinder gehen in Zehlendorf auf die Internationale Schule Berlin.

Auch in der Berliner Mathematik ist Sullivan mittlerweile fest verwurzelt: Seit seiner Berufung hat er wegweisende Projekte mitgestaltet, die zu einem Boom seines Faches in Berlin geführt haben. Etwa als Beiratsmitglied und Projektleiter des seit 2002 bestehenden Matheon, eines mathematischen Forschungszentrums für Schlüsseltechnologien, sowie bis 2014 als Sprecher des Graduiertenkollegs Berlin Mathematical School (BMS), an der besonders Begabte aus der ganzen Welt auf hohem Niveau zügig zur Promotion gelangen können.

Viel schwieriger ist es bis heute, ein weiteres Ziel der BMS zu erreichen: die Geschlechterparität. Gerade mal 30 Prozent weibliche Studierende gibt es bisher an der BMS, und das, obwohl Spitzenmathematikerinnen wie Hélène Esnault und Gitta Kutyniok in Berlin wirken. Dennoch findet man sie natürlich, die besonders begabten jungen Mathematikerinnen. Ágnes Cseh zum Beispiel, Doktorandin in der Forschungsgruppe für mathematische Optimierung von Martin Skutella an der TU. Die 26-Jährige legte 2012 den besten Master ihres Jahrgangs in Mathematik ab. "Eigentlich wollte ich nie in so eine große Stadt wie Berlin", erinnert sich die fließend deutsch sprechende Ungarin, die inzwischen Stipendiatin der Telekom Stiftung ist. "Ich komme vom Land, mir war eigentlich schon Budapest zu viel, zu dreckig, zu laut." Zum Glück sagte sie dennoch nicht nein, als sie zu den Kennenlerntagen der BMS eingeladen wurde. “Alle meine Professoren in Ungarn hatten mir zu Berlin geraten, und ich wusste, dass es ein bedeutendes Zentrum für Optimierung ist. Also habe ich mir die Stadt angesehen und gemerkt: Berlin ist zwar groß, aber keine Megastadt. Ich liebe die vielen verschiedenen Kieze, die es hier gibt. Hier kann jeder so ruhig oder verrückt leben, wie er möchte.”

Mit dem Motto "we love real problems" hat sich das Matheon als Berliner Vorzeigeprojekt viel Aufmerksamkeit in der Welt der Nichtmathematiker erobert. Mathematische Modellierung und Optimierung werden hier in den Dienst gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Herausforderungen gestellt, sei es zur Verbesserung des öffentlichen Nahverkehrs, der Gasversorgung oder der Flugverkehrslogistik. Seit 2014 die Förderung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft für das Matheon ausgelaufen ist, bietet das von der Einstein Stiftung Berlin gegründete Einstein Center for Mathematics Berlin (ECMath) eine neue übergreifende Basis für exzellente mathematische Forschung in der Hauptstadt. "Das Matheon ist ein Erfolgsmodell, das bereits internationale Nachahmer gefunden hat. Intensive Kontakte und stabile Netzwerke sind dadurch in den letzten Jahren beispielsweise mit Frankreich, Chile, Australien, den Niederlanden, Kanada oder Polen entstanden. Dieses Modell werden wir in die Zukunft tragen und in den kommenden Jahren um weitere Themenfelder erweitern", sagt Volker Mehrmann, Mathematikprofessor an der TU Berlin, Sprecher des Matheons und von ECMath.

Das neue Einstein Center bildet eine Plattform nicht nur für das Matheon, sondern auch für die BMS und für das vor vier Jahren gegründete Deutsche Zentrum für Lehrerbildung Mathematik. Zugleich soll es den Austausch zwischen allen dreien verstärken. Insgesamt bis zu acht Millionen Euro stellt die Einstein Stiftung dafür bis 2017 zur Verfügung. "Wir wollen Projekte fördern, die Neuland betreten. Die Fördermittel kommen dabei dem Nachwuchs, aber auch den etablierten Forschern zugute", sagt Volker Mehrmann.

Ein wichtiger Grund für den Erfolg der Berliner Mathematik ist vor allem die außergewöhnlich große Vielfalt der mathematischen Institutionen in Berlin. "Drei exzellente Universitäten mit mehreren Sonderforschungsbereichen und Graduiertenkollegs, dazu das Weierstraß- Institut für Angewandte Analysis und Stochastik und das Konrad-Zuse-Zentrum für Informationstechnik, das sind schon bemerkenswert viele bedeutende Forschungseinrichtungen an einem Ort" erklärt Sullivan,der als Vorstandsmitglied auch am ECMath beteiligt ist. Wie erfolgreich diese eigenständigen Institutionen sich tatsächlich zu gemeinsamen Forschungsgruppen zusammenschließen konnten, beweist die beeindruckende Bilanz, 12 Jahre nach Gründung des Matheons: 147 Projekte, über 200 Forscher und 56 beteiligte Professoren kann das als Netzwerk strukturierte Forschungszentrum bis dato vorweisen.

"Die Basis einer institutsübergreifenden Kooperation wurde bereits 1998 entwickelt, im Umfeld des Internationalen Mathematikerkongresses mit Martin Grötschel als Präsident des Organisationskomitees", sagt Sullivan. Ein einschneidendes Ereignis: Zum ersten Mal überhaupt fand damals die weltweit bedeutendste Konferenz für Mathematik in Berlin statt.

Der Grundgedanke, den die Berliner Mathematiker damals entwickelten: Berlin sollte mit exzellenter Forschung wieder an die Bedeutung anknüpfen, die es vor dem Zweiten Weltkrieg gehabt hatte.

Seitdem ist viel passiert. Nicht nur, dass seit 2011 das ständige Büro der Internationalen Mathematischen Union IMU in Berlin seinen Sitz gefunden hat, angebunden an das Weierstraß-Institut am Hausvogteiplatz. Auch in Sachen Nachwuchs ist eine deutliche Internationalisierung der Berliner Mathematikwelt zu erkennen. "Die wichtigste Barriere, die dafür fallen musste, war die Sprachbarriere", erinnert sich Sullivan an die Anfangsjahre der Graduiertenschule BMS, an der bis heute bereits mehr als 100 Mathematiker promoviert haben. 50 Prozent internationale Doktoranden setzte man sich zum Ziel, die Kurse wurden von Anfang an ausschließlich auf Englisch abgehalten. Mittlerweile kommen die Doktoranden aus 50 verschiedenen Ländern, die Professoren neben Deutschland etwa auch aus Serbien, Frankreich, Russland, den USA, Spanien oder Ungarn.

Die Zeit war reif für die sprachliche Öffnung. Auch für die meisten deutschen Studierenden an den mathematischen Fakultäten ist Englisch längst kein Hindernis mehr, sondern die akademische Arbeitssprache und Lingua franca für den internationalen Schmelztiegel Berlin. “Wir hatten sehr schnell zahlreiche ausgezeichnete Bewerbungen aus den unterschiedlichsten Ländern, sicher auch weil Berlin als Stadt auf viele sehr anziehend wirkt.”

Ihr mathematisches Thema passt wie ein Motto zu ihrem Berliner Lebensgefühl: "stabile matches". "Es geht dabei um die mathematische Aufgabe, optimale Paarungen zu finden", erklärt Cseh. Solche, mit denen möglichst viele glücklich werden, zum Beispiel in Zulassungssystemen, bei denen auf der einen Seite die Kriterien der Universitäten stehen und auf der anderen die Wünsche der Bewerber. Ob Berlin für sie so ein optimaler "match" sei? Die hochgewachsene Frau in dem blauen Stretchkleid nickt entschieden. Warum? Zum Beispiel, weil auf ihre Rundmail, ob jemand zum Wochenendseminar nach Bad Belzig gemeinsam mit ihr per Fahrrad fahren möchte, gleich zwei berühmte Professoren einfach mit "na klar" geantwortet haben. Das fand sie wunderbar entspannt. Und auch sonst sei es so einfach, Forschungskontakte zu den vielen anderen Mathematikern in der Stadt aufzubauen. "Das ist total wichtig", sagt sie. 
 

"Man kann Mathematik zwar auch allein betreiben, aber das ist sehr uneffektiv. Für die Formulierung der Ausgangsfrage und die Diskussion darüber, wer sich für welche Anwendungen interessiert, ist Austausch unbedingt erforderlich."



Auch Emre Sertöz, Nachwuchsmathematiker aus Ankara, musste die Qualitäten von Berlin erst für sich entdecken. Er hatte bereits ein Fulbright-Stipendium in der Tasche. "Etwas anderes als die USA konnte ich mir eigentlich gar nicht vorstellen", erinnert sich der 25-Jährige. Dann kam auch bei ihm eine Einladung zu den Vorstellungstagen der BMS an und warf seine Pläne über den Haufen. Das war vor drei Jahren. Stundenlang streifte Emre durch eine Stadt, von der er bis dahin so gut wie nichts wusste. "Ich staunte über so viel fassbare Geschichte und die unaufgeregte Internationalität der Stadt. Dazu kam das, was ich über die mathematische Community rund um die BMS und über Gavril Farkas erfuhr, meinen Betreuer an der Humboldt-Universität. Es war so beeindruckend, dass ich sofort wusste: Ich will nach Berlin." Kurze Zeit später hatte er die Zusage der BMS in der Tasche. “Ich freue mich jedes Semester erneut über die unzähligen Seminarangebote an den drei Universitäten, aus denen ich wählen kann wie ein Kind aus den vielen bunten Gläsern im Süßigkeitenladen!”

Sertöz' Gebiet ist die algebraische Geometrie, ein ziemlich abstraktes Feld. Doch auch für ihn als reinen Mathematiker gibt es in der großen Mathematikszene der Stadt viele gute "matches" - Wissenschaftler, die genau verstehen, wovon er spricht. Auch Studienfreunde der BMS, die andere Spezialisierungen haben, tauschen sich begierig mit ihm aus, etwa wenn sie sich alle 14 Tage beim BMS-Friday in der Urania zum Gastvortrag internationaler Mathematiker mit anschließenden Häppchen und lockerem Zusammensein treffen. Manchmal, erzählt Sertöz, komme er erst Monate später über etwas ins Grübeln, was jemand bei diesen Treffen erwähnt hat. "Und dann kann ich es plötzlich für meine eigene Forschung gebrauchen."

Mathematik, sagen manche, ist ein wenig wie Tanzen.

Man wird besser, wenn man sie immer wieder in wechselnden Konstellationen praktiziert. Deswegen verlangt der akademische Weg von jungen Wissenschaftlern, dass sie früher oder später weiterziehen, ganz gleich, wie gut es auch an einem Ort funktionieren mag. Auch Sertöz geht davon aus, nach der Doktorarbeit Berlin zu verlassen. Dennoch hat er sich fest vorgenommen, sein Deutsch aufzupolieren. "Das ist mir bisher schwergefallen, weil es wissenschaftlich immer viel zu tun gibt. Und da überall Englisch gesprochen wird, herrscht keinerlei Druck, die Sprache besser zu lernen." Das will er jetzt angehen, aus einem ziemlich sentimentalen Grund: “Ich kann mir vorstellen, in Berlin alt zu werden. Irgendwann einmal wieder hierher zurückzukommen, vielleicht als Professor, und dann in ein Haus in Dahlem oder Mitte zu ziehen, das wäre einfach perfekt.”

Am Konrad-Zuse-Zentrum für Informationstechnik in Dahlem arbeitet Fabio D'Andreagiovanni (33) als Senior Researcher. Seit kurzem leitet der Italiener ein ECMath- Projekt zum Thema Datenunsicherheit und kabellose Telekommunikation. In Rom hat er erfolgreich belastbare mathematische Modelle für kabellose Kommunikationsnetze entwickelt und dafür einige Preise eingesammelt. Vor fünf Jahren wollte er unbedingt nach Berlin, weil ihn die Matheon-Idee und die einzigartige Mischung von Mathematik und Anwendung begeistert hat. 

D'Andreagiovanni forschte zuerst in einem Spin-off des Zuse-Instituts für Industrieberatung, wurde dann in eine Forschungsgruppe des Matheon geholt und hat jetzt wieder eine Stelle am Zuse-Institut. Seine Hoffnungen für das neue ECMath: "Eine noch engere Zusammenarbeit von Forschung und Industrie zum Vorteil aller." Er möchte bekannt machen, was mathematische Forschung wie die seine inzwischen bieten kann: "nicht mehr bloß Theorie, sondern empirisch am Computer getestete Lösungen für reale Probleme". 

Wegen der guten Kooperationsmöglichkeiten in Berlin will er unbedingt bleiben, auch wenn es schon Angebote aus Italien, anderen europäischen Ländern und den USA gab. "Auch in Rom gibt es drei Universitäten mit großen mathematischen Fakultäten und Arbeitsgruppen für Optimierung. Aber wenn du in Berlin in einer Forschungsgruppe bist, lernst du garantiert auch die Leute von all den anderen Gruppen kennen, die sich für ähnliche Themen interessieren."

Text: Kirsten Wenzel