Montagmorgen

Montagmorgen 10 Uhr in Berlin

Wenn Mädchen und Jungen von der Grundschule in die Oberschule wechseln, wird Mathematik zum „Jungenfach“. Doch Mathematik-Lehrer können viel dazu beitragen, dass Schülerinnen Berührungsängste überwinden. Denn die haben vor allem mit Geschlechterstereotypen zu tun. Ein Besuch in einem Berliner Gymnasium.

Die erste große Pause ist vorbei, der Lärm im Treppenhaus des Dathe-Gymnasiums in Berlin-Friedrichshain verschwindet mit den Schülern in den Klassenzimmern. Die Schüler der 7a brauchen heute Morgen etwas länger, bis sie ihren Platz gefunden haben. Denn Mathematik-Lehrerin Jeanette Herrmann hat die Sitzordnung neu komponiert. Sie will, dass die Schüler mit ihren Sitznachbarn besser zusammenarbeiten. „Ich bin von Jungs umzingelt!“, ruft eine Schülerin, halb vorwurfsvoll, halb amüsiert. Andere werfen vor Freude über ihre neuen Nachbarn die Arme in die Luft. 

Jeanette Herrmann verfolgt die Szene in aller Ruhe. Dann stellt sie sich vor die Klasse. Mit ihrem offenherzigen Blick hat sie die Aufmerksamkeit ihrer Schüler schnell auf sich gezogen, die Gespräche ebben ab. „So, jetzt sind wir alle ganz ruhig“, sagt sie freundlich, aber mit Nachdruck und hält einen Moment lang inne. Unvorstellbare Stille in einem 60 Quadratmeter großen Raum mit 27 an der Schwelle zur Pubertät stehenden Kindern. Hausaufgabenkontrolle. Während die Lehrerin durch die Reihen geht, wirft sie einen Blick in die Hefter und gibt benotete Arbeitsblätter zurück. „Wenn’s eine Eins ist, dann ist das meins“, ruft ein Junge, dessen Stimme schon so tief klingt wie die eines jungen Mannes. 

Die Schüler tragen reihum ihre Hausaufgaben vor. Bruchrechnen. Ein Kind nennt sein Ergebnis, ein anderes muss es erläutern. Amelie aus der ersten Reihe hat keine Lösung parat. „7/4 plus 7/4, was musst du rechnen?“, fragt Jeanette Herrmann. Amelie rechnet laut vor und kommt am Ende auf ein Ergebnis: „Plus 14/4“, sagt sie mit zarter Kinderstimme. „Gut, und was ist der Betrag, wenn kein Plus davorsteht?“, fragt die Lehrerin und liefert die Antwort gleich mit: „Der Betrag bleibt immer positiv, egal ob die Zahl auf dem Zahlenstrahl rechts oder links von der Null steht.“ Die Schüler lernen, zwischen einer Zahl und ihrem Betrag zu unterscheiden – ein mathematisches Konzept, das mit ihrer Alltagserfahrung nur schwer in Übereinstimmung zu bringen ist. Die nächste Aufgabe. Wieder schnellen mehr als viele Arme in die Höhe. „Und wer hält sich heute zurück?“, fragt die Lehrerin. Ihr Blick bleibt bei einem Mädchen hängen, das sich nicht meldet. „Maja, je weiter links auf dem Zahlenstrahl die Zahlen liegen, desto kleiner sind sie, aber was ist mit dem Betrag?“ „Der wird größer“, sagt das Mädchen mit den großen, neugierigen Augen schüchtern. „Genau, und das ist jetzt eine wichtige Erkenntnis, bevor wir anfangen, mit negativen Zahlen zu rechnen“, fasst die Lehrerin zusammen.

Woran liegt das? Aus Sicht der Genderforschung vor allem an den Stereotypen, die unsere Gesellschaft laufend produziert und gelegentlich auch überspitzt. Etwa wenn ein Versandhaus Mädchen-T-Shirts anbietet mit dem Aufdruck „In Mathe bin ich Deko“.

Oder wenn ein renommierter Neurowissenschaftler wie Gerhard Roth behauptet, Jungen seien mathematisch und musikalisch talentierter, und das als Grund dafür ansieht, dass es nur wenige bedeutende Mathematikerinnen und Komponistinnen gebe. „Diese Bilder von männlichen und weiblichen Domänen werden von Kindern und Jugendlichen übernommen“, sagt Anina Mischau, Soziologin und Genderforscherin am Fachbereich Mathematik der Freien Universität Berlin (FU). In der Pubertät könne das „Jungenfach“ Mathematik dann immer schlechter in die sich ausbildende Geschlechteridentität bei Mädchen integriert werden. Die Folge: Nach der Grundschule driften die Leistungen zwischen Jungen und Mädchen auseinander. Und auch wenn Mathematik nach Deutsch und Englisch der bundesweit beliebteste Leistungskurs ist, sitzen dort nur noch 40 Prozent Mädchen, obwohl sie in der Oberstufe mehr als die Hälfte der Schüler stellen. Um das zu ändern, hat Anina Mischau gemeinsam mit Erziehungswissenschaftlern und Mathematik-Didaktikern den bundesweit ersten Kurs entwickelt, der Lehramtsstudierende im Fach Mathematik gezielt in Genderkompetenzfragen schult und sie dazu bringen soll, das eigene Verhalten zu reflektieren.

In der 7a scheint den Schülern jetzt klar zu sein, dass der Betrag einer Zahl immer der Abstand dieser Zahl von der Null ist, also bei 4 und -4 gleichermaßen 4. Es folgt die Anwendung. „Summand + Summand = Summe“ schreibt Jeanette Herrmann an die Tafel und will wissen, welche Fälle es dabei gibt. Gemeinsam mit ihren Tischnachbarn sollen die Schüler eine Regel für das Addieren von rationalen Zahlen formulieren – ohne im Mathebuch nachzuschlagen. Was passiert, wenn vor beiden Summanden ein Minus steht? Was, wenn die Vorzeichen unterschiedlich sind? Unterhaltungen brechen los, auch quer über die Tische hinweg, nicht alle drehen sich um Mathematik. Die Mädchen reden mehr miteinander als die Jungen. Dann beruhigt sich ihr Redefluss. Alle arbeiten konzentriert mit ihren Tischnachbarn zusammen. „Ist eine Gruppe schon fertig?“, fragt die Lehrerin nach einigen Minuten. Quenten, ein Junge mit Bürstenschnitt, meldet sich. „Ben hat es herausgefunden“, sagt er und zeigt auf seinen Nachbarn. „Kann er es auch erklären?“, hakt Jeanette Herrmann nach. Sie weiß, dass es aus dem blonden Jungen oft nur so heraussprudelt, wenn er über Zahlen spricht. Er argumentiert dann so abstrakt, dass die meisten seiner Mitschüler ihm nicht folgen können. Doch Ben zögert für einen Moment. „Nein? Gut, dann nehmen wir erst die Beispielaufgaben dran“, entscheidet die Mathe-Lehrerin, um auch den anderen eine Chance zu geben. 

Die Lehrerin der 7a setzt in ihrem Unterricht ziemlich genau das um, was Forscher in der Theorie gendersensiblen Unterricht nennen: Sie geht auf die unterschiedlichen Bedürfnisse von Mädchen und Jungen ein. „Die Jungen sagen schneller, dass sie etwas verstanden haben, dann bitte ich sie noch einmal darüber nachzudenken, Mädchen dagegen brauchen mehr Bestätigung und Ermutigung“, weiß Jeanette Herrmann aus Erfahrung. Die Forschung bestätigt das. Aus Studien weiß man, dass sich Jungen im Mathematikunterricht tendenziell risikofreudiger verhalten. „Mädchen arbeiten genauso wie Jungen gerne konzentriert, aber sie brauchen viel stärker das Gefühl, dass das, was sie tun, auch zum Erfolg führt“, sagt Silke Fleckenstein. Die ehemalige Lehrerin und Didaktik-Expertin vom Deutschen Zentrum für Lehrerbildung Mathematik (DZLM) untersucht für ihre Doktorarbeit an der Universität Potsdam, wie Mädchen und Jungen in getrenntgeschlechtlichen Klassen Mathe lernen und welche speziellen Bedürfnisse sie haben. Es überrascht sie, wie sehr die Mädchen in den reinen Mädchengruppen an Selbstvertrauen gewinnen. Aus ihren Experimenten will sie Empfehlungen für die Lehrerfortbildung ableiten. Auch phasenweise getrennter Unterricht ist aus ihrer Sicht eine Option.

Als im Mathematikunterricht der 7a Jeanette Herrmann über längere Zeit die Mädchen Aufgaben erklären lässt, meldet sich Felix ungeduldig zu Wort: „Sie haben jetzt viel mehr Mädchen als Jungs drangenommen“, behauptet er. Ohne eine Antwort abzuwarten, liefert Samira von hinten ihre Begründung: „Das ist, weil die Mädchen Mathe weniger mögen.“

Mögen Mädchen Mathematik wirklich weniger als Jungen? Die Forschung spricht nicht von Mögen, vielmehr vom Selbstkonzept. Gemeint ist das, was Mädchen über ihre eigenen Fähigkeiten, Gefühle und Vorlieben in Bezug auf das Fach Mathematik verinnerlicht haben. Und das ist gerade in Deutschland nicht immer positiv. In der PISA-Studie 2012, die Mathematik-Leistungen von 15-Jährigen in mehr als 60 Ländern vergleicht, heißt es: 

„Bei der Selbsteinschätzung in Bezug auf Mathematik und die eigenen Fähigkeiten zum Mathematiklernen sind die Unterschiede zwischen den Geschlechtern in Deutschland deutlich größer als andernorts.“

Die OECD als Initiator der Studie hält das insbesondere deshalb für „besorgniserregend“, weil selbst die Schülerinnen, die gut in Mathematik sind, weniger Vertrauen in ihre Fähigkeiten entwickelten als Jungen. Das hält sie davon ab, in die Spitze aufzurücken. 

Jeanette Herrmann hat dieses Phänomen in ihren 25 Jahren Berufstätigkeit immer wieder beobachtet: Im Durchschnitt unterscheiden sich die Leistungen zwischen Mädchen und Jungen nicht gravierend, aber während die Jungen sowohl am oberen wie am unteren Ende der Leistungsskala vertreten sind, tummeln sich die Mädchen fast ausschließlich im Mittelfeld. Sie selbst war als Schülerin immer Klassenbeste und fand das auch ganz normal, denn Mathe ist ihr sehr leichtgefallen. Doch Mädchen, die mehr Berührungsängste haben, brauchen die bewusste Unterstützung von Lehrern wie Jeanette Herrmann. Bei der Soziologin und Genderforscherin Anina Mischau können angehende Mathematik-Lehrkräfte lernen, wie das geht. Die Nachfrage an der FU Berlin nach Mischaus Seminaren zum gendersensiblen Matheunterricht ist sehr hoch: Bisher gab es in nahezu jedem Semester mehr Interessenten als Plätze. „Ich hoffe, dass ich das Attribut gendersensibel in zehn Jahren streichen kann“, sagt Mischau. 

„Gut“, lenkt Frau Herrmann ein, „jetzt sind die Jungs wieder dran.“ Die Beispielaufgaben zur Subtraktion darf Quenten an die Tafel schreiben. Die Mädchen der 7a können sich trotzdem der besonderen Aufmerksamkeit ihrer Lehrerin sicher sein. „Wenn Mädchen Interesse an Mathematik zeigen, dann hätschle ich sie auch mal“, gibt die Lehrerin unumwunden zu. Schließlich will Jeanette Herrmann einige von ihnen in der 11. Klasse im Mathematik-Leistungskurs wiedertreffen.

Text: Kristina Vaillant