Editorial

Das Gehirn versetzt uns immer wieder in Staunen. Das Nachdenken über seine Vollkommenheit führt direkt zu den großen Fragen des Lebens, so als schauten wir in die Sterne. Das Gehirn ist das Universum in uns – jeder Gedanke, den wir fassen, jede Erinnerung, die wir hervorrufen, jeder Schmerz, den wir verspüren, wird von ihm vermittelt. Und es ist das Gehirn selbst, das es uns ermöglicht, seiner milliardenfach vernetzten Komplexität auf den Grund zu gehen.

Doch wo stehen wir heute bei der Erforschung dieses Universums? Um es mit den Worten des Neuropsychiaters und ehemaligen Einstein Visiting Fellows Ray Dolan zu sagen: „Am Fuße des Himalaya – auf einem beschwerlichen Weg zu den Gipfeln der Erkenntnis.”

Wir möchten Sie einladen zu einer Wanderung durch die zerklüftete Bergwelt der Neurowissenschaften. Die zweite Ausgabe von Albert, dem Journal der Einstein Stiftung, widmet sich dem Gehirn und denen, die Tag für Tag versuchen, ihm Antworten abzuringen.

Für dieses Heft haben wir mit einigen der führenden Hirnexperten der Stadt gesprochen. Der Neurowissenschaftler Bassem Hassan erklärt uns, wie bei Fruchtfliegen Hirnentwicklung und individuelles Verhalten zusammenhängen, der Psychiater Andreas Heinz, wie sich Flucht und Ausgrenzung auf die Psyche auswirken. Wir begleiten den Hirnchirurgen Peter Vajkoczy in seinem aufreibenden Klinikalltag und erfahren von dem Neurologen Harald Prüß, wie er herausfand, dass der berühmte Berliner Eisbär Knut aufgrund einer seltenen Hirnentzündung starb.

In der Reportage „Mensch Maschine” lässt sich unser Autor die Gedanken auslesen und berichtet über Chancen und Gefahren neuer Gehirn-Computer-Schnittstellen, die es immer präziser vermögen, das Universum in unserem Kopf auszukundschaften, um Prothesen zu steuern – oder tödliche Schusswaffen.

Forscher gelangen auch immer wieder an unüberwindbare Schluchten, die sie zur Umkehr zwingen oder zu Fehltritten verleiten. Doch darüber schweigt sich der Wissenschaftsbetrieb meist aus. Der Schlaganfallexperte Ulrich Dirnagl fordert in seinem Kommentar einen massiven Kulturwandel in der biomedizinischen Forschung, der Raum fürs Scheitern lässt und dieses auch dokumentiert.

Albert erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. In Berlin gibt es weitaus mehr exzellente Wissenschaftler und Forschungsprojekte als in dieses Heft passen. Die Stadt entwickelt sich seit der Wende zu einem international beachteten Zentrum der Hirnforschung und knüpft damit an eine große Tradition der Vorkriegszeit an. Heute gibt es hier wieder zahlreiche neurowissenschaftliche Einrichtungen. Einige der innovativsten Techniken zur Erforschung des Gehirns entstehen in Berlin, wie unser Beitrag „Neuro-Tüftler” zeigt, und auf Seite 100 lesen Sie, wie das neu gegründete Einstein-Zentrum für Neurowissenschaften dazu beitragen will, all diese Energien zu bündeln.

Ich bin mir sicher, dass wir in den nächsten Jahren in Berlin viele spannende Gipfelversuche in den Neurowissenschaften erleben werden. Mit diesem Heft wollen wir zeigen, dass es sich lohnt, sich auf den Weg der Erkenntnis zu begeben. Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen bei der Lektüre!

Text: Günter Stock, Vorstandsvorsitzender Einstein Stiftung Berlin