Knuts Vermächtnis

Eisbär Knut war eine Berliner Ikone. Der Neurologe Harald Prüß erzählt, wie er der Ursache seines plötzlichen Todes auf die Schliche kam

 

Die Ereignisse rund um Eisbär Knut habe ich ehrlich gesagt nur am Rande verfolgt: die Millionen Besucher, die er dem Berliner Zoo bescherte, und der plötzliche Tod seines Pflegers. Aufgehorcht habe ich das erste Mal, als die Medien nach Knuts Tod im März 2011 berichteten, die Autopsie habe ergeben, dass er unter einer Gehirnentzündung litt, einer Enzephalitis. Als Ursache vermutete man eine Virusinfektion.

Knapp drei Jahre später hörte ich wieder genau hin. Damals stellten Forscher vom Berliner Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) die abschließende Diagnose: Enzephalitis mit unklarer Ursache. In den Medienberichten klang ihre Enttäuschung durch. In Laboren auf der ganzen Welt hatten sie über Jahre Proben von Knut auf Bakterien, Parasiten und mehrere Tausend Viren untersucht und lediglich Antikörper gegen Influenzaviren gefunden. Die kamen als Ursache für die Gehirnentzündung aber nicht infrage. In diesem Moment erinnerte ich mich an eine Patientin, die ich 2006 als junger Arzt auf der Intensivstation der Charité betreut hatte und bei der ich später eine bis dahin weitgehend unbekannte Krankheit nachweisen konnte: Die Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis. Wegen der verblüffenden Gemeinsamkeiten war mir sofort klar: Daran muss auch Knut gelitten haben.

Das Nervenwasser dieser Patientin war, wie später das von Knut auch, untersucht worden und man hatte eine Gehirnentzündung festgestellt, ohne einen Erreger zu finden. Weil die junge Frau unter Wahnvorstellungen litt, wurde sie in die Psychiatrie verlegt. Über ein Jahr später hörte ich einen Vortrag der Neurowissenschaftlerin Angela Vincent von der Universität Oxford. Sie beschrieb als eine der Ersten das Krankheitsbild der Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis: den abrupten Wechsel zwischen wahn- und komahaften Zuständen und wachen Phasen, aber auch epileptische Anfälle. Knut hatte durch einen epileptischen Anfall die Kontrolle über seinen Körper verloren, war in das Wasserbecken seines Geheges gestürzt und ertrunken.

Mit viel Mühe gelangte ich an eingefrorene Proben meiner Patientin. Die Blutproben und das Nervenwasser ließ ich in einem Lübecker Labor untersuchen, das einzige, das zu der Zeit den Antikörpertest in Deutschland machen konnte. Der Befund war positiv. Sowohl im Blut als auch im Nervenwasser waren die Antikörper, die im Gehirn einen Rezeptor an den Synapsen – den NMDA-Rezeptor – blockieren und dadurch die Gehirnentzündung auslösen. Wir holten die Patientin sofort auf die neurologische Station. Mit Blutwäschen, die den Antikörper herausfiltern, und Kortison, das die Immunreaktion unterdrückt, konnten wir sie heilen. Diese Geschichte hat sich bei mir eingebrannt. Und so ist diese Krankheit zu meinem wissenschaftlichen Thema geworden.

Knut konnten wir leider nicht retten. Er ist erst posthum „mein Patient” geworden. Ich habe damals, als die vermeintliche Abschlussdiagnose feststand, sofort Alex Greenwood, den Experten für Wildtierkrankheiten beim IZW angerufen. Dann hat es noch ein gutes halbes Jahr gedauert, bis wir die Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis bei Knut nachweisen konnten. Glücklicherweise hatte Greenwood Nervenwasser von Knut aufbewahrt, aber wir mussten erst neue Verfahren entwickeln, um nun die Eisbär-Antikörper sichtbar zu machen. Das Testergebnis war eindeutig.

Knuts Tod war nicht umsonst. Zootierforscher und Veterinäre wissen nun, dass die Krankheit auch im Tierreich vorkommt, dass sie gezielter danach suchen müssen und die Tiere auch behandeln können. Was für mich aber wichtiger ist: Weil Knut so bekannt war, haben viele Menschen von der Krankheit erfahren. So sind auch Angehörige von Patienten mit Gehirnentzündungen unklarer Ursache und den typischen psychiatrischen Symptomen zu mir in die Sprechstunde gekommen. Bei zwei Patienten konnten wir eine eindeutige Diagnose stellen. Für sie besteht nun Hoffnung auf Heilung. Für mich ist das Knuts Vermächtnis.

Harald Prüß ist Facharzt für Neurologie an der Charité und leitet die Arbeitsgruppe für Autoimmune Enzephalopathien am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen in Berlin. Seit 2009 erforscht

er die Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis, die bis vor zehn Jahren noch niemand kannte. Sie wird ausgelöst durch Antikörper, die der Körper selbst bildet – beim Menschen wie beim Eisbären.

Aufgezeichnet: Kristina Vaillant