Blick ins Böse

Berliner Krebsforscher*innen nutzen Künstliche Intelligenz, um gezüchtete Tumoren, Gewebeproben oder DNA-Veränderungen auszuwerten und die Heilungschancen für Krebskranke zu erhöhen

 

Die Gebilde, die auf Christian Conrads Bildschirm pulsieren, lassen an exotische Blumen denken. Immer wieder entfalten sich Knospen, flackern farbig auf und vergehen wieder. Dutzende dieser seltsamen Blüten reihen sich in einem Raster aneinander, in ständiger Veränderung begriffen.

Conrad forscht am Zentrum Digitale Gesundheit des Berlin Institute of Health (BIH) und natürlich betrachtet er auf seinem Monitor keine Pflanzen: Die vermeintlichen Blüten bilden vielmehr Organoide ab, kleine, nur wenige Hundert Mikrometer messende Gewebeklumpen. Conrads Team hat sie aus Krebszellen herangezüchtet, um an ihnen Medikamente zu erproben. Mit einer speziellen Technik, der Lichtblatt-Mikroskopie, kann Conrad die Mini-Tumoren dreidimensional und beinahe in Echtzeit beobachten. Die Blütenblätter, die sich entfalten und wieder zusammenziehen, sind dabei nichts anderes als Chromosomen, die während der Zellteilung vorübergehend sichtbar werden.

Experimente mit Organoiden, die wie echte Tumoren dreidimensionale Gebilde sind, liefern oft aussagekräftigere Ergebnisse als Tests mit herkömmlichen Zellkulturen. Beobachtet man jedoch eine größere Zahl dieser Tumorklümpchen dabei, wie sie auf bestimmte Medikamente ansprechen, fallen gewaltige Mengen an Bilddaten an, die es auszuwerten gilt. Möchte man das dann noch durch Genomdaten ergänzen – also verstehen, wie das Aussehen der Zellen mit Veränderungen im Erbgut einhergeht – kommen schnell ein paar Terabytes zusammen.

Bis vor Kurzem wäre eine solche Forschung technisch kaum möglich gewesen. Doch die enormen Fortschritte der Informationstechnologie, insbesondere schnelle Grafikprozessoren, ermöglichen es Conrads Intelligent-Imaging-Arbeitsgruppe, bis zu 100 Organoide gleichzeitig zu untersuchen. Die Experimente laufen vollständig automatisiert ab: Ein Roboter bringt die Krebszellen in 0,4 Mikroliter kleinen Tropfen Nährmedium auf Glasplatten aus, wo sie zu Organoiden heranwachsen. „Manuell schalten wir hier nur das Licht aus”, scherzt Conrad.

Der Biologe hofft, eines Tages allein aus dem Aussehen der Organoide – ob sie etwa hohl sind oder mit Zellen gefüllt, groß oder klein, kompakt oder ausgefranst – ableiten zu können, welche genetischen Veränderungen dem Krebs zugrunde liegen und welches Medikament ihn am besten bekämpfen kann. Derzeit arbeitet er mit Brustepithel-, Eierstock- und Bauchspeicheldrüsenkrebszellen.

„Unser Ziel ist es, verschiedenen Krebspatienten eine möglichst wirksame und nebenwirkungsarme Therapie anbieten zu können”, sagt Conrads Chef Roland Eils, Gründungsdirektor des Zentrums Digitale Gesundheit. „Und in Zukunft möchten wir das Verfahren so weiterentwickeln, dass wir es für möglichst viele Krebsarten einsetzen können.“ Conrads Projekt ist nur ein Beispiel für die bestechenden Möglichkeiten, die die Digitalisierung der Krebsforschung und -therapie eröffnet. Vor allem Aufgaben wie die Auswertung großer Mengen von Bilddaten sind geradezu prädestiniert, sie einer Künstlichen Intelligenz (KI) zu übertragen. Wobei Conrad diesen populären Begriff nicht sonderlich schätzt, weil er überzogene Erwartungen wecke. Er spricht lieber von „Maschinenlernen”. „Letztlich”, sagt er „geht es um Mustererkennung.”

Mithilfe intelligenter Software könnte man Patient*innen, bei denen der Verdacht auf ein Prostatakarzinom besteht, eine Biopsie ersparen, oder im Fall von Leberkrebs kontrollieren, ob die Therapie anschlägt.

 

Einen ähnlichen Ansatz wie der Biologe Conrad verfolgt Chris Sander, Professor für Zellbiologie an der Harvard Medical School und neuer Einstein BIH Visiting Fellow am Integrativen Forschungsinstitut für Lebenswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sander gilt als Pionier der Bioinformatik und wurde durch seine wegweisenden Arbeiten zur Faltung von Proteinen bekannt: Er entwickelte Algorithmen, mit deren Hilfe sich aufgrund einer Erbgutsequenz vorhersagen lässt, welche dreidimensionale Form das darin kodierte Eiweißmolekül einnehmen wird. Und er war Mitbegründer der sogenannten Perturbationsbiologie. Diese Forschungsrichtung versucht, mit Computersimulationen die Reaktionen von Zellen auf Störungen vorherzusagen. Da auch Krebsmedikamente solche Störungen darstellen, eignet sich dieser Ansatz gut, um Wirkstoffe einzeln oder in Kombination zu testen.

In Berlin wird Sander ein Projekt verfolgen, das unter anderem auf Organoide setzt, die aus Gewebeproben krebskranker Patient*innen herangezüchtet werden. Dabei will der Forscher die Reaktion der Tumoren auf Medikamente bis auf die Ebene einzelner Zellen studieren und so neue Therapien finden. Der Kampf gegen den Krebs hat für ihn auch eine persönliche Seite, starb doch sein Bruder, der bekannte Berliner Schauspieler Otto Sander, an dieser Krankheit.

Neben Biologen wie Sander und Conrad arbeiten in Berlin Wissenschaftler*innen unterschiedlichster Fachrichtungen daran, KI für die Onkologie nutzbar zu machen. Frederick Klauschen etwa, Professor für Molekulare Pathologie am Institut für Pathologie der Charité und ehemaliger Einstein Junior Fellow, entwickelt Bildanalyse-Tools, die Patholog*innen bei der Beurteilung von Gewebeproben unterstützen sollen. Die KI-Programme eignen sich besonders gut zur quantitativen Analyse, etwa wenn es darum geht zu ermitteln, welcher Anteil von Krebszellen in einer Probe bestimmte Merkmale zeigt.

Gemeinsam mit Forscher*innen der Charité–Universitätsmedizin und des Deutschen Krebskonsortiums hat Klauschen zudem eine Diagnosemethode entwickelt, die chemische Veränderungen der DNA mithilfe von KI auswertet und so die Herkunft von entartetem Gewebe ermittelt. „Wir können damit den Organursprung des Tumors sichern und zwischen Metastasen von Kopf-Hals-Karzinomen und primären Lungentumoren unterscheiden”, sagt Klauschen. Das sei hilfreich, um optimale, individuell zugeschnittene Therapien zu entwickeln. Denn von den rund 17.000 Menschen, die in Deutschland pro Jahr an Kopf-Hals-Tumoren erkranken, entwickelt ein Teil zusätzlich einen Lungentumor, der sich nur schwer von Metastasten des Kopf-Hals-Tumors unterscheiden lässt. „Für die Therapie der Betroffenen hat diese Unterscheidung jedoch große Bedeutung”, sagt Klauschen. Denn ein Lungenkarzinom kann mittels einer Operation entfernt werden, ein metastasierter Kopf-Hals-Tumor erfordert in der Regel eine Radiochemotherapie. Das Verfahren entwickelten die Mediziner*innen in Zusammenarbeit mit Klaus-Robert Müller, Professor für Maschinelles Lernen an der Technischen Universität Berlin. Sie trainierten ein tiefes neuronales Netzwerk, das Lungenkarzinome und Metastasen von Kopf-Hals-Tumoren in mehr als 99 Prozent aller Fälle verlässlich unterscheiden kann. Damit Krebskranke schon bald von dieser Genauigkeit profitieren können, läuft an der Charité bereits die klinische Erprobung.

Die Mathematikerin und Einstein-Professorin Gitta Kutyniok und ihre Kollegen Christof Schütte und Tim Conrad vom Exzellenzcluster MATH+ wiederum haben Algorithmen programmiert, die anhand von Blutproben den typischen molekularen Fingerabdruck bestimmter Krebsarten ausfindig machen können. Auch dabei geht es um Mustererkennung: Jeder Krebstyp hinterlässt im Zellstoffwechsel unverwechselbare Spuren. Es handelt sich um bestimmte Eiweißmoleküle, deren Konzentration im Blut man mit dem Massenspektrometer ermitteln kann. Allerdings wird das Krankheitssignal von einem Grundrauschen Abertausender verschiedener Proteine überlagert. Aus dieser Kakofonie von Störgeräuschen filtert die Software der Forscher*innen am MATH+ das gesuchte Signal heraus und erkennt so unterschiedliche Arten von Krebs, um passende Medikamente zu wählen.

Mustererkennung ist auch in der Radiologie, wo es auf Röntgenaufnahmen krankhafte Veränderungen auszumachen gilt, ein Schlüsselwort. An der Charité erforscht der Radiologe Tobias Penzkofer die Möglichkeiten und Grenzen von KI bei der Diagnose verschiedener Krebsarten. Mithilfe intelligenter Soft- ware könnte man zum Beispiel Patient*innen, bei denen der Verdacht auf ein Prostatakarzinom besteht, eine Biopsie ersparen, oder im Fall von Leberkrebs kontrollieren, ob die Therapie anschlägt oder ein Wechsel des Medikaments notwendig ist.

 

Künstliche Intelligenz wird einen wesentlichen Beitrag für die Medizin leisten, allerdings in Form von Assistenzsystemen, die die ärztliche Arbeit leichter machen und qualitativ verbessern.

Im Prinzip steht ein KI-Algorithmus in der Radiologie vor keiner grundsätzlich anderen Aufgabe als etwa eine App zur Vogelbestimmung auf dem Smartphone: Er soll ein Foto auf charakteristische Merkmale hin analysieren, diese mit bereits bekannten Bildern abgleichen und das neue Objekt dann richtig identifizieren.

Dafür muss die KI zuvor an möglichst vielen Aufnahmen ähnlicher Objekte – seien es Vögel oder Krebsgeschwulste – trainiert haben. Die Programmierer*innen geben dabei keine Regeln für die Bildanalyse vor, vielmehr findet der Algorithmus seine eigenen Gesetzmäßigkeiten. Doch so verblüffend die Leistungen der neuen Technik auch sind, sie liegen doch noch häufig daneben. Penzkofer versucht daher, den Hype um die KI zu dämpfen: „Wenn die Vogel-App mal ein Rotkehlchen mit einem Schwan verwechselt, ist das eben Pech oder ein schlechtes Foto. In der Radiologie dürfen solche Fehler nicht passieren.” Um die Algorithmen zu verbessern, versucht der Mediziner daher zu verstehen, wie bestehende KI-Algorithmen arbeiten und nach welchen Kriterien sie vorgehen.

Interessant ist zum Beispiel, welchen Bildausschnitt die Software zur Identifizierung nutzt. Würden beispielsweise im Fall der Vogel-App Rotkehlchen – aus welchem Grund auch immer – meist bei schönem, Schwäne hingegen bei Regenwetter fotografiert, könnte der Algorithmus auf die Idee verfallen, einen blauen Himmel im Hintergrund als typisches Merkmal von Rotkehlchen einzustufen. Deshalb muss man die lernende KI mit möglichst repräsentativen Daten füttern. Doch das ist nicht immer einfach; von schwierigen Krankheitsverläufen beispielsweise gibt es oft nicht genügend Input.

„So bald wird der Radiologe nicht überflüssig werden”, so Penzkofers Fazit, „obwohl das schon oft vorhergesagt wurde.” Dennoch sieht er sehr wohl Einsatzmöglichkeiten für die Algorithmen, vor allem bei wiederkehrenden, für den Menschen ermüdenden Aufgaben. Erste Softwarepakete zur Unterstützung der Radiolog*innen bei speziellen Fragestellungen sind bereits zugelassen, haben sich aber noch nicht in der ärztlichen Praxis etabliert. Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt auch Frederick Klauschen: „Künstliche Intelligenz wird einen wesentlichen Beitrag für die Medizin leisten, allerdings in Form von Assistenzsystemen, die die ärztliche Arbeit leichter machen und qualitativ verbessern.”

Die größte Herausforderung für die digitalisierte Krebsmedizin ist jedoch weniger die Entwicklung neuer, noch intelligenterer Algorithmen. Mindestens ebenso wichtig wäre es, die heute schon überall vorliegenden digitalen Informationen aus Forschungsinstituten und Kliniken zusammenzuführen, um daraus neue Erkenntnisse für Wissenschaft und ärztliche Praxis zu ziehen. Doch daran hapert es bislang – und das liegt nicht an der Technik.

„Vom technischen Standpunkt aus gesehen könnte die Digitalisierung im Gesundheitswesen bereits sehr viel weiter fortgeschritten sein”, sagt BIH-Direktor Roland Eils. Doch viele Prozesse in der Krankenversorgung würden noch in Papierform abgewickelt, oder aber die beteiligten Institutionen tauschten ihre Daten nicht aus. So kann es passieren, dass Wissenschaftler*innen mit den Krebszellen eines Patienten experimentieren, die behandelnde Ärztin aber nichts von deren Ergebnissen weiß, wenn der Betroffene später mit einem Rückfall in die Klinik kommt. Dabei könnten die Daten wichtige Hinweise für die weitere Therapie liefern.

Ein Grund für den stockenden Informationsfluss ist – neben dem Aufwand, den er verursacht –, dass es noch immer keine allgemeingültige Sprache gibt, in der alle Mediziner*innen ihre Diagnosen und Laborwerte dokumentieren. „Wir brauchen so etwas wie die DIN-Normen in der Industrie”, sagt Sylvia Thun, Direktorin der Core Unit eHealth & Interoperabilität am BIH. Ein Blutwert etwa müsse immer und überall mit derselben Variable bezeichnet und in derselben Maßeinheit erfasst werden. Erst dann könnten Computerprogramme diese Daten institutionenübergreifend verwerten. „Wir haben einen riesigen Erfahrungsschatz in Deutschland in der Behandlung von Krebspatienten”, sagt Thun. „Wir müssen ihn nur heben!” 

Text: Alexandra Rigos