Schwarmintelligenz

Am neuen Berliner Exzellenzcluster Science of Intelligence erforschen Informatiker*innen und Biolog*innen mit Roboterfischen und mithilfe anderer unkonventioneller Methoden, welche Grundprinzipien individuelle, kollektive und künstliche Intelligenz miteinander verbinden

 

Der Biologie-Professor Jens Krause sitzt, ein Atemschutzgerät vor dem Gesicht, am Ufer eines Sees. Er ergreift ein Holzschild, das auf einer Steinmauer neben ihm liegt, reckt dessen weiße Fläche in die Höhe – und plötzlich bilden sich an der Was- seroberfläche kräftige Wellen. „Erstaunlich, nicht wahr?“, fragt David Bierbach, Krauses Kollege vom Berliner Exzellenzcluster Science of Intelligence, und klickt mit der Maus auf „Stopp“. Den Videoclip, den er am Computerbildschirm zeigt, hat er vor wenigen Monaten in Südmexiko aufgenommen. Als Schutz vor giftigen Dämpfen aus einer nahen Schwefelquelle mussten er und Krause während der Experimente Gasmasken tragen. Und der Trick mit den Wellen? Der Verhaltensforscher lächelt. „Die haben Fische erzeugt“, verrät er: wenige Zentimeter lange Schwefelmollys. „Sie hielten die Kelle für das Gefieder eines weißen Reihers“, erklärt Bierbach. Bei den Schwefelquellen im mexikanischen Bundesstaat Tabasco machen Reiher, Kormorane und Eisvögel Jagd auf Fische. „Und künstliche Wellen sind deren einzige Waffe, um diese Angriffe abzuwehren“, weiß der Biologe. Wenn die Vögel die Wellen sehen, erschrecken sie sich, machen erst einmal eine längere Pause – und die Fische sind in Sicherheit.

Doch wie entstehen die Wogen genau? Und was ermöglicht es den kleinen Fischen, diese manchmal über 50 Quadratmeter großen Wellenflächen gemeinsam zu erschaffen? Solche Fragen beschäftigen Krause und Bierbach. Einer ihrer Mitstreiter, der Physiker Pawel Romanczuk, analysiert die Wellen am Computer. Er will herausfinden, welchen mathematischen Gesetzen ihre Ausbreitung folgt. Lassen sich dabei womöglich ähnliche Muster erkennen wie bei der Verbreitung von Fake News in sozialen Netzwerken?

Die Erforschung der Raubvogel- Abwehrwellen ist beispielhaft für die interdisziplinäre Ausrichtung des Berliner Exzellenzclusters Science of Intelligence der Technischen Universität (TU Berlin) und der Humboldt-Univer- sität (HU Berlin). Insgesamt arbeiten hier rund 50 Forschende eng zusammen – Biolog*innen, Physiker*innen, Roboterforscher*innen und Informatiker*innen, aber auch Philosoph*innen und Psycholog*innen. Sie wollen entschlüsseln, welche gemeinsamen Prinzipien allen Formen von Intelligenz – individueller, kollektiver und künstlicher – zugrunde liegen. Eine weitere Besonderheit des Clusters: Alle Erkenntnisse sollen in technologische Entwicklungen einfließen – in Roboter oder Computerprogramme. Dass auch die Fachbereiche Philosophie und Psychologie am Projekt beteiligt sind, hat einen Grund: Bei der Entwicklung von Künstlicher Intelligenz (KI) stellen sich viele ethische Fragen. Wer bestimmt zum Beispiel, welchen Regeln Entscheidungen unterworfen werden, die künftig von Maschinen gefällt werden?

Ein Fischschwarm ist ein biologischer Rechner. Und jedes Individuum in diesem System bewegt und verhält sich in unglaublich hohen Variationen.

Tim Landgraf

Viele Projekte des Exzellenzclusters sind von der Natur inspiriert. Dem Roboterforscher Oliver Brock von der TU Berlin etwa, dem Sprecher des Exzellenzclusters, gab die Analyse der Schnabelbewegungen von Kakadus wichtige Anregungen zur Entwicklung von sensiblen Roboterhänden aus Silikon. Den Softwareexperten Tim Landgraf wiederum fasziniert besonders die Intelligenz von Kollektiven. „Ein Fischschwarm oder ein Bienenvolk sind aus meiner Sicht biologische Rechner“, sagt der Informatik-Professor von der Freien Universität Berlin (FU Berlin), der ebenfalls am Cluster beteiligt ist. „Und jedes Individuum in diesem System bewegt und verhält sich in unglaublich hohen Variationen.“ Um sie alle im Blick zu behalten, müsse man sie digital erfassen. „Das geht nicht mit bloßem Auge und Strichlisten – wir nutzen Computersysteme, die bis zu 4000 Individuen gleichzeitig beobachten können.“ So will Landgraf herausfiltern, wie Fische oder Bienen ihr komplexes Verhalten koordinieren.

Experimente von Biologie-Professor Krause zeigten etwa, dass Fische in der Gruppe klügere Entscheidungen treffen als allein: An einer Weggabelung im Aquarium, an deren einer Seite ein Fressfeind lauert und auf deren anderer Seite freie Bahn ist, entscheidet sich fast jeder zweite Einzelfisch für die falsche Richtung. 45 Prozent der Tiere schwimmen dem Feind direkt vors Maul. Schwimmt dagegen eine Gruppe gemeinsam zur Weggabelung, wird in neun von zehn Fällen die richtige Entscheidung getroffen.

An den Raubvogel-Abwehrwellen in Südmexiko wirken Hunderttausende Schwefelmollys mit. Die Wellen entstehen durch ein raffiniertes Schwimmverhalten, wie computergestützte Feinanalysen ergaben. „Das Prinzip dabei ist ähnlich wie bei La- Ola-Wellen im Fußballstadion“, sagt David Bierbach: Die ersten Fische sehen den Vogel, tauchen ab und berühren dabei mit ihrer Schwanzflosse die Wasseroberfläche. „Das sehen die Vögel als Wellen“, sagt Bierbach. „Und wie bei umfallenden Dominosteinen oder einer La-Ola-Welle im Stadion ahmen die jeweils Nächsten die Bewegung der Vorgänger nach – und die Welle breitet sich immer weiter aus.“

Informatik-Professor Landgraf und seine Kolleg*innen möchten ähnliche Prinzipien künftig auf technische Systeme übertragen: zum Beispiel auf selbstfahrende Autos, die über eine Software untereinander Informationen austauschen. Erkenntnisse aus der Verhaltensforschung an Bienen brachten ihn auf eine besonders spannende Idee: „Wenn eine Biene kein Glück hatte bei der Nahrungssuche, gibt sie Artgenossen ein Signal, dass sie Hunger hat“, sagt Tim Landgraf. „Andere Bienen würgen dann gesammelten Nektar hoch und geben etwas davon ab.“ Die Informatiker*innen wollen nach diesem Prinzip nun ein System entwickeln, durch das Elektroautos unterwegs bei Bedarf intelligent von- einander Strom tanken könnten: Wagen mit leerem Akku sollen – etwa im Stau auf der Autobahn – einfach an Fahrzeuge mit voller Batterie andocken.

Computertechnologie und Künstliche Intelligenz können also konkret von der Verhaltensforschung profitieren. Die Befruchtung funktioniert aber auch in die entgegengesetzte Richtung: Eine große Hilfe sind den Biologen Krause und Bierbach zum Beispiel Roboterfische, die Landgraf entwickelt hat. „Wenn wir Schwärme beobachten, sehen wir zwar, was die Tiere tun“, erklärt David Bierbach. „Aber es ist schwer, Rückschlüsse darauf zu ziehen, wie sie ihre Entscheidungen treffen.“ Schwimmen die Fische etwa plötzlich alle nach links, weiß man noch lange nicht, weshalb. Wer gab das Zeichen dafür? Und wie erreichte die Botschaft die Artgenossen? „Um soziale Systeme besser zu verstehen, gab es bisher vor allem zwei Wege“, sagt Tim Landgraf. „Biologen beschreiben das Verhalten, Mathematiker stellen Modelle auf. Mithilfe von Robotern können wir ein mathematisches Modell nun aber direkt im lebenden System testen. Das ist sozusagen der Königsweg.“ Landgraf programmiert die Software der Roboterfische nach Vorgaben der Biolog*innen so, dass diese sich „arttypisch“ verhalten. Und Bierbach und Krause klären in Experimenten anschließend ab, ob die lebenden Fische auf die vermeintlichen Artgenossen so reagieren, wie es ihre Theorien erwarten lassen.

Biologen beschreiben das Verhalten, Mathematiker stellen Modelle auf. Mithilfe von Robotern können wir das Modell direkt im lebenden System testen.

Tim Landgraf

In der ehemaligen Tierärztlichen Abteilung auf dem Campus der HU in Berlin-Mitte blubbern Luftpumpen zur Sauerstoffversorgung der vielen Aquarien, in denen zwischen Wasserpflanzen unzählige kleine Fische umherschwimmen. Die Biolog*innen experimentieren hier vorwiegend mit Guppys, die auch als Zierfische beliebt sind. „Guppys bleiben nicht gerne allein, denn dann wären sie Fressfeinden schutzlos ausgeliefert, ähnlich wie die Schwefelmollys in Südmexiko“, erzählt David Bierbach. „Und auch bei den Guppys gibt es keine Chefs.“ Wer als Erster losschwimme, werde vorübergehend zum Anführer der Gruppe. „Ein lebender Fisch sollte also auch einem künstlichen folgen, wenn dieser eine Richtung vorgibt“, sagt der Biologe, während er einen Guppy aus einem der Aquarien fischt und zum Roboter ins Experimentierbecken umsetzt. Als der künstliche Fisch bald darauf nach links schwimmt, folgt der echte Guppy ihm bereitwillig – und dann immer weiter auf dessen Zickzackkurs durchs Becken. Eine Bestätigung für die Theorie der Verhaltensforscher*innen.

Landgrafs Robotersystem, das hierbei zum Einsatz kommt, besteht aus zwei Teilen, die über Magnete miteinander verbunden sind: einem Kunststofffisch und einem Waggon, der durch eine Software über WLAN gesteuert wird. Unterhalb des Experimentierbeckens, auf einer zweiten Ebene, fährt der Waggon eine vorgegebene Strecke ab, während sich der künstliche Fisch über ihm im Becken auf einer feinen Plastikstütze synchron dazu bewegt. So kommt die Elektronik nicht mit Wasser in Kontakt. Die Forscher*innen haben zahlreiche solcher Fischattrappen gebastelt und mit ihnen Tausende Experimente durchgeführt. Ein wichtiger Faktor hat sich bereits deutlich abgezeichnet: die Augen. Malt man den Attrappen diese nur auf, schwimmen ihnen lebende Fische nicht hinterher. Hat ein Kunststofffisch aber naturalistisch aussehende Glasaugen, folgen ihm die lebenden Artgenossen fast so bereitwillig wie einem echten Fisch.

Wahrscheinlich spielen Blickkontakte für die Entscheidungsprozesse und das gesamte Gruppenleben von Fischen also eine zentrale Rolle. Manche der Roboterfische in den Berliner Labors haben durch eine interaktive Programmierung bereits gelernt, flexibel auf die lebenden Fische einzugehen. „Die Grundregeln, die sie gespeichert haben, können sie – je nachdem, wie ihr Gegenüber reagiert – anpassen und verändern.“ War dem echten Guppy ein Roboter etwa zu ruppig und er schwimmt davon, ist dieser beim nächsten Kontakt vorsichtiger. „Die Maschinen erlernen also gewissermaßen soziale Intelligenz“, so Bierbach. Tim Landgraf trainiert die Software der schwimmenden Roboter dafür zunächst mit am Computer simulierten Fischen. Bald sollen auf diese Weise vorgeschulte Roboterfische erstmals mit lebenden Fischen konfrontiert werden, sich von diesen weitere Tricks abgucken – und in ihrem Verhalten noch intelligenter werden.

Ein „Bienenroboter“, den Landgraf konstruiert hat, kann bereits die Tanzbewegungen seiner echten Artgenossen nachahmen und so lebenden Bienen den Ort einer Futterquelle mitteilen. „Wenn Roboter mit Tieren interagieren, kann es aber auch zu Lösungen kommen, die über die Möglichkeiten der Natur hinausgehen“, prognostiziert der Informatikexperte. Vielleicht entwickle eine Maschine im Verlauf von Bierbachs Experimenten ja ein völlig anderes Kommunikationsverhalten als die lebenden Fische – eine noch effizientere Methode, um komplexes Gruppenverhalten zu steuern, als sie die Evolution erfunden hat. „Mittelfristig werden Tiere jedenfalls auch von Robotern lernen“, ist Tim Landgraf überzeugt. Und eines Tages wahrscheinlich auch der Mensch.

Text: Till Hein