Die Unvollendete

Sie war Preußens erste Frau mit einem Doktortitel in Chemie. Doch bald nach ihrer Heirat mit dem Chemiker Fritz Haber erstickt Clara Immerwahr in „Wirtschaft und Näharbeit” und zunehmend auch an den Erfolgen ihres Mannes, der im Ersten Weltkrieg todbringendes Giftgas entwickelte

Clara kann stolz sein. Die öffentliche Verteidigung ihrer Dissertation in der prunkvollen, mit barocken Gemälden geschmückten Aula Leopoldina der Universität Breslau im Dezember 1900 ist eine kleine Sensation. Eigentlich dürfen Frauen in Preußen nicht studieren, Clara Immerwahr hat es dennoch geschafft – und mit magna cum laude bestanden. Souverän trägt sie ihr Wissen zu „schwerlöslichen Salzen des Quecksilbers, Kupfers, Bleis, Cadmiums und Zinks” vor. Viele sind an diesem Wintertag gekommen, um ihr zuzuhören, wie ein Reporter der Breslauer Zeitung beobachtet: „…die Mehrzahl natürlich Damen, wohl ebenso aus Neugier erschienen wie, um das erhebende Gefühl zu genießen, eine Geschlechtsgenossin sich würdig einreihen zu sehen in die Klasse der doctorae philosophiae.”

Der Dekan richtet an die Frauen im Saal eine ambivalente Botschaft. Alle, die „den unwiderstehlichen Drang und den Beruf zu Wissenschaft” verspürten, die wolle er darin unterstützen. Die dreißig Jahre alte Clara Immerwahr lobt er als „leuchtendes Vorbild”: Unter großen Schwierigkeiten habe sie ihr ersehntes Ziel erreicht. Dennoch wünsche er nicht, „daß jetzt eine neue Aera anbreche, und daß die Frauen als doctores in die Universität hineinströmten”, sie müssten weiterhin „ein Hort der Familie sein”. Die Breslauer Zeitung berichtet am nächsten Tag stolz über das Ereignis. „Unser erster weiblicher Doktor” steht über dem Artikel.

Um Clara zur Doktorprüfung zuzulassen, müssen der Dekan und 30 Dozenten den Kultusminister persönlich um eine Ausnahme bitten.

Seit Jahren schon mehrt sich in Preußen weiblicher Widerstand gegen den Ausschluss der Frauen aus den Universitäten. Bereits 1887 hatte eine Gruppe von Frauenrechtlerinnen vom Preußischen Abgeordnetenhaus eine bessere Mädchenbildung und Zugang zur akademischen Ausbildung gefordert und damit eine heiß geführte Debatte angestoßen. Doch die Beharrungskräfte der patriarchalen Gesellschaft sind stark. „Amazonen sind auch auf geistigem Gebiet naturwidrig”, schreibt etwa der berühmte Physiker Max Planck noch zehn Jahre später im Sammelband „Die Akademische Frau” – und er betont mit Nachdruck, dass „die Natur selbst der Frau ihren Beruf als Mutter und als Hausfrau vorgeschrieben hat”. Während an der Universität Zürich 1874 die erste Frau ihre Promotion ablegt, wird es in Preußen noch bis 1908 dauern, bis Frauen regulär studieren dürfen.

Gasthörerin in Experimentalphysik

Wie gelingt es Clara Immerwahr, sich gegen all die Widerstände durchzusetzen und Preußens erste Frau mit einem Doktortitel in Chemie zu werden? Zunächst deutet nicht viel darauf hin. Die junge Clara wächst auf dem väterlichen Gut in Polkendorf, dem heutigen Wojczyce, bei Breslau auf. Doch als Bürgertochter aus der säkularisierten jüdischen Oberschicht hat sie beste Chancen auf eine höhere Bildung. Bis sie sieben ist, bekommt sie zusammen mit ihren drei älteren Geschwistern Elli, Lotte und Paul Privatunterricht, dann besucht sie die höhere Töchterschule. Als sie 20 Jahre alt ist, stirbt ihre Mutter an Krebs. Ihr Vater Philipp, ein Unternehmer, der selbst in Chemie promoviert hat, zieht mit Clara nach Breslau. Clara genießt das blühende Leben der schlesischen Metropole, nimmt Tanzstunden – und verliebt sich. Ihr Schwarm, Fritz Haber, ist ebenfalls Kind eines jüdischen Unternehmers. Er hat in Berlin und Heidelberg ein Chemiestudium angefangen und ist für seinen Militärdienst in der Stadt. Auch Fritz ist ganz verliebt, doch er geht bald nach Jena, um sein Studium fortzusetzen.

Clara besucht das Lehrerinnenseminar, doch sie hat einen viel größeren Plan: Sie will Naturwissenschaften studieren. Ihr Vater unterstützt sie in ihrem Ansinnen, zahlt ihr Privatstunden zur Vorbereitung auf das Abitur, obwohl das für junge Frauen gar nicht vorgesehen ist. Clara weiß: Erst kürzlich gelang es elf Lehrerinnen mit Unterstützung des Vereins „Frauenwohl”, eine Erlaubnis zum Gasthören an der Universität Breslau zu erwirken. Im Oktober 1896 schreibt auch Clara ein solches Gesuch – mit der Begründung, das Abitur ablegen zu wollen. Es funktioniert. Im Wintersemester 1896/97 darf sie Vorlesungen zur Experimentalphysik gasthören. Das Abitur besteht sie nur ein Jahr später – und sie besucht weiter die Universität.

In ihrem zweiten Studienjahr als Gasthörerin trifft sie Friedrich Wilhelm Küster. Der Schüler des Thermochemikers und Ionenforschers Walther Nernst führt sie im nagelneuen Chemielabor der Universität Breslau in das junge Fach der Physikalischen Chemie ein. Bald darauf wird sie Assistentin von Richard Abegg – ein „Shootingstar” des werdenden Forschungsfelds, der schon für den berühmten Wilhelm Ostwald gearbeitet hat.

Als Preußen 1898 das Gasthören als gültiges Studium anerkennt, ist Clara nicht mehr zu bremsen: Sie beginnt gemeinsam mit ihrem Dozenten zu publizieren. Nach drei Jahren Studium reicht sie eigenständige Untersuchungen als Promotion ein. Um sie zur Doktorprüfung zuzulassen, müssen der Dekan und 30 Dozenten den Kultusminister persönlich um eine Ausnahme bitten.

Eine fehlende Seite im Buch des Lebens

In Claras Briefen an ihren Doktorvater Richard Abegg, mit dem sie bald eine enge Freundschaft verbindet, wird deutlich, dass sie auch mit inneren Widerständen zu kämpfen hat. Es koste sie eine „nicht unbeträchtliche Kraft”, schreibt sie ihm im März 1900, „überhaupt mit dem Dasein fertig zu werden”, und beklagt sich: „Was ‚des Lebens Frohsinn‘ ist, das habe ich immer nur in flüchtigen Momenten kennen gelernt und darf wohl sagen, daß jeder derselben mir Jahre voll Schwerem aufgewogen hat.” Richard ermuntert sie im Gegenzug zu „Schneid und frischem Mut”.

Auch für ihre Jugendliebe Fritz ist Richard ein geschätzter Kollege und Freund. Fritz hat seit seinem Weggang aus Breslau eine ehrgeizige Karriere verfolgt – und hat doch Clara nie vergessen können. Seit einigen Jahren lehrt er als Privatdozent Technische Chemie in Karlsruhe, arbeitet fast pausenlos und ist wegen nervöser Leiden oft auf Kur. Er gesteht Richard im Februar 1901, dass er „wirklich gräßlich herunter” sei und sich immer „allerhand Dinge” einbilde. Doch nur einen Monat später erkundigt er sich in übermütigen Versen bei Richard, ob das „Fräulein Dr. Clara Immerwahr” gedenke, mit ihm zur Tagung der Deutschen Elektrochemischen Gesellschaft nach Freiburg zu kommen. Die Absicht ist leicht zu erahnen: Als Clara ihn dort trifft, macht Fritz ihr prompt einen Heiratsantrag. Sie lehnt ab. Dann willigt sie doch ein. „Schließlich hat sich Clara erbitten lassen, es mit mir zu versuchen”, schreibt Fritz nüchtern einem Verwandten der Verlobten.

Zögerte Clara, weil sie sich sorgte, als Ehefrau ihre eigene Karriere nicht länger verfolgen zu können? Das lässt sich nur vermuten. Jahre später resümiert sie: „Es war stets meine Auffassung vom Leben, dass es nur dann wert gewesen sei, gelebt worden zu sein, wenn man alle seine Fähigkeiten zur Höhe entwickelt und möglichst alles durchlebt habe, was ein Menschenleben an Erlebnissen bieten kann. Und so habe ich damals schließlich auch mit unter dem Impuls mich zur Ehe entschlossen, dass sonst eine entscheidende Seite im Buch meines Lebens und eine Saite meiner Seele brach liegen bleiben würde.”

„Was Fritz in diesen acht Jahren gewonnen hat, das – und noch mehr – habe ich verloren, und was von mir eben übrig ist, erfüllt mich selbst mit der tiefsten Unzufriedenheit.“

Sie zieht nach Karlsruhe zu Fritz. Nur wenige Monate nach der Hochzeit klagt Clara ihrem Brieffreund Richard, sie gehe unter „in Wirtschaft und Näharbeit” und könne bei den Ausführungen ihres Mannes über die Thermodynamik nicht mehr mitreden. Die Miete für die gemeinsame Wohnung in Karlsruhe ist mit 1500 Mark jährlich für damalige Verhältnisse hoch und Fritz bezieht kein Professorengehalt. Clara wünscht sich, dass sie „Millionäre” wären, Angestellte hätten und sie wieder ins Labor gehen könnte. Auf die Forschung, schreibt sie, wolle sie „selbst in Gedanken” nicht verzichten.
 

Dann wird sie schwanger. Die Schwangerschaft belastet sie körperlich und seelisch sehr. „Ich habe neulich zu Fritz gesagt, ich wolle lieber noch zehn Doktorarbeiten machen, statt mich so quälen zu müssen”, schreibt sie an Richard. Nur in wenigen Briefen klingt sie fröhlicher. „Ich arbeite jetzt jeden Tag im Institut und lese Manuskripte und mache Zeichnungen dazu”, berichtet sie ihm im Oktober 1901. „Jetzt geht es mir wieder viel besser; eine ganze lange Zeit war ich wieder tiefsinnig, aber ich glaube, das war diesmal rein physischer Natur.” Als ihr Sohn Hermann acht Wochen alt ist, verabschiedet sich Fritz auf eine viermonatige Forschungsreise in die USA.
 

Doch schon bald holt die Trübseligkeit sie wieder ein. „Was Fritz in diesen acht Jahren gewonnen hat, das – und noch mehr – habe ich verloren, und was von mir eben übrig ist, erfüllt mich selbst mit der tiefsten Unzufriedenheit”, lautet ihr bitteres Fazit, das sie im April 1909 Richard anvertraut – verfasst auf einem Kondolenzbogen mit schwarzem Rand. Fritz hatte kurz zuvor seinen großen Durchbruch mit der Ammoniaksynthese, dank der Entdeckung von Osmium als geeignetem Katalysator. Das Haber-Bosch-Verfahren, das auch seinen Namen trägt und für das er 1918 den Nobelpreis erhalten wird, revolutioniert die Landwirtschaft: Massenhaft kann das stickstoffbasierte Düngemittel Ammoniak nun hergestellt werden, was weltweit für steigende Ernteerträge sorgen wird. Clara findet derweil ein wenig intellektuelle Ablenkung, indem sie für den Karlsruher Arbeiterbildungsverein den Kurs „Naturwissenschaften im Haushalt” anbietet.

Schicksalsschläge und Berliner Jahre

1911 wird ihr Mann zum Professor und Gründungsdirektor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physikalische Chemie und Elektrochemie (KWI) nach Berlin berufen. Clara folgt ihm in die institutseigene Villa in Dahlem – der ersehnte Wohlstand ist erreicht. Doch für die Frau des berühmten Chemikers ist kein Platz im Labor vorgesehen, nur die Rolle der repräsentativen Professorengattin. Sie trägt Reformkleider, die die Taille nicht abschnüren und so schlicht sind, dass sie einmal für die Putzfrau des Hauses gehalten wird. Von Fritz entfremdet sie sich zusehends. Er ist reizbar und überarbeitet, Sohn Hermann häufig krank.

Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs meldet Fritz sich freiwillig zur Front. Er will einen „Gaskampfstoff” für die deutschen Truppen entwickeln, der „hinter jeden Erdwall und in jede Höhle dringt, wo der fliegende Eisensplitter keinen Zutritt findet”. Mit seinem Institutsteam testet er Chlorgas und Phosgen an Pferden, Clara begleitet ihn zu den Tests auf dem Gelände des KWI und in Wahn bei Köln und muss zusehen, wie die Versuchstiere kläglich am Gas verenden. Als bei einer Explosion während der Tests ihr Ex-Kommilitone Otto Sackur verletzt wird, eilt sie zu dem schrecklich Verstümmelten und hilft, ihn von der engen Kleidung zu befreien, während Fritz vom Schock gelähmt abseits steht. Otto stirbt.

Die vom KWI entwickelten Gasgeschosse werden bald schon von deutscher Seite todbringend gegen alliierte Soldaten eingesetzt. Ende April 1915 leitet Fritz Haber einen Angriff, bei dem erstmals 150 Tonnen Chlorgas aus 6000 Stahlflaschen auf den „Feind” abgeblasen werden. Bis zu 5000 Mann der belgisch-alliierten Truppen ersticken in der gelbweißen Giftwolke. Wieder zu Hause in Dahlem, feiert er diesen Durchbruch, die „zweite Flandernschlacht” bei Ypern, mit seinen Mitarbeitern und Freunden aus der Politik. Wenige Tage später, in der Nacht des 1. Mai 1915, erschießt sich Clara mit Fritz’ Dienstpistole im Garten der Villa. Ihr dreizehn Jahre alter Sohn findet sie dort, kurz bevor sie stirbt. Hermann bleibt ohne Eltern in Berlin zurück, denn der Vater reist schon am Tag nach Claras Tod wieder an die Front.

Geschichte, Mythos und Gedenken

Hat sich Clara Immerwahr aktiv gegen das Kriegstreiben ihres Mannes gewandt? Hat sie ihrem Leben gar deshalb ein Ende gesetzt? Darüber wird es nie Gewissheit geben. Mit dem tödlichen Heißluftballonunfall ihres Doktorvaters und Brieffreunds Richard 1908 versiegen die unmittelbaren Einblicke in ihre Gedankenwelt. Es bleiben die Urteile derer, die sie kannten. James Franck, ein emigrierter Mitarbeiter des KWI, schreibt rückblickend, die Gaskriegsforschung ihres Mannes habe „sicher Einfluß auf ihren Selbstmord gehabt”. Claras Vetter und Fritz’ einstiger Mitarbeiter Paul Krassa erinnert sich 1957: „Sie war verzweifelt über die grauenhaften Folgen des Gaskriegs, dessen Vorbereitungen und Prüfung an Tieren sie mit angesehen hatte.” Anderen Berichten zufolge habe sie sich zu Beginn des Kriegs stolz über die Erfolge ihres Mannes gezeigt.

In den 1980er und -90er Jahren wird Clara Immerwahr zur Pazifistin und Feministin stilisiert. Quellenhistorisch ist das nicht haltbar. Doch vieles spricht dafür, dass der kriegstreiberische Einsatz der Wissenschaft nicht ihren Werten entsprach, dass sie vielmehr für Naturverbundenheit und Humanismus stand. Sie sei, so Franck, „ein guter, begabter Mensch mit ausgesprochenen Ansichten” gewesen, der „die Welt reformieren” wollte.

Auf dem Gelände des heutigen Fritz-Haber-Instituts in Berlin, wo sie ihre letzten Jahre verbrachte und in dessen Garten sie sich erschoss, erinnert heute ein Gedenkstein an Clara Immerwahr. Ihr Grab allerdings liegt in Basel: Auf Fritz Habers Willen hin wurde ihre Urne nach seinem Tod ausgehoben und neben der seinen auf dem dortigen Friedhof am Hörnli beigesetzt.

Text: Eva Murašov

Stand: Dezember 2020