Geduld, Geld, Glück

Gerhard Ertl hat die moderne Oberflächenchemie entscheidend geprägt. 2007 erhielt er dafür den Nobelpreis. Mit ALBERT sprach er über Risiko und Neuland in der Forschung, die unerschöpfliche Vielfalt der Moleküle und die Fähigkeit, das Alter zu akzeptieren

Wie läuft das, wenn man den Nobelpreis bekommt? Der Anruf kam ja sogar an Ihrem 71. Geburtstag.

 

Ich habe zwar gewusst, dass ich gehandelt werde, aber nicht damit gerechnet. Ich sagte morgens zu meiner Frau: „Gestern hat in Physik ein Deutscher gewonnen, es wird heute nicht nochmal ein Deutscher sein.” Und dann kam der Anruf, auf dem Display habe ich schon gesehen: Stockholm. Es war der Sekretär der Akademie der Wissenschaften. Er sagte zu mir: „Sie dürfen niemandem Bescheid sagen. Das dauert etwa eine halbe Stunde. Da können Sie sich ein paar Gedanken machen. Und dann rufen wir Sie nochmal an und schalten Sie zur Pressekonferenz, auf der die Bekanntgabe erfolgt.” Ich sagte: „Darf ich meine Frau vorher anrufen?” – „Nein, sollten Sie nicht, denn es könnte ja sein, dass Sie jemand aus Jux und Dollerei anruft und es gar nicht stimmt.” Das hat mir dann eingeleuchtet. Und ich blieb sitzen, und mein Herz raste und nach 20 Minuten kam der richtige Anruf. Und dann kam ich gar nicht mehr dazu, meine Frau anzurufen, weil ständig bei mir das Telefon klingelte. Sie hat es erst am Nachmittag erfahren, als mich ein Journalist sprechen wollte. Ja, warum denn? Ich will ihm gratulieren. Zum Geburtstag? Nein.

 

Wie haben Sie die Feier erlebt?

 

Es war eine großartige Inszenierung, die machen das seit 100 Jahren. Das war eine ganze Woche, von einem Empfang zum anderen. Jeder Nobelpreisträger darf 16 Gäste einladen. Jeder muss Abendkleid oder Frack tragen. Und mein kleiner Enkelsohn hat sich geweigert. Da wurde noch mal nachgefragt: Darf er auch im dunklen Anzug kommen? Und man erklärte: Ja, ausnahmsweise.

 

Wünschten Sie, Sie hätten den Preis als junger Mann schon bekommen?

 

Ich bin froh, dass es nicht früher kam. Wenn man jünger ist, erwartet die ganze Welt, dass weitere Großtaten folgen. Ich war im Ruhestand. Ich konnte mich zurücklehnen und genießen.

 

Sie haben mit Physik begonnen. Wieso haben Sie dieses Fach gewählt, als es darum ging, als junger Mann zu sagen: Dem will ich jetzt mein Leben widmen.

 

Die Neigung zu den Naturwissenschaften war schon früh da. Wir hatten in der Oberschule einen guten Physiklehrer und einen schlechten Chemielehrer. Das führte dazu, dass ich mich für die Physik entschied. Aber die Neigung zu Chemie blieb. Deswegen bin ich im Fach dazwischen gelandet: Physikalische Chemie.

 

Ist es als Wissenschaftler klüger, sich zwischen Welten zu bewegen? Die Natur ist ja auch nicht eindimensional.

 

Im Grunde genommen sind es nicht zwei Welten. Mittlerweile kennen wir die Grundlagen der Naturwissenschaften, der Biologie und auch der Chemie, und das sind die physikalischen Gesetze. Dass jeder in seinem Kämmerlein vor sich hin kocht, die Zeiten sind vorbei.

 

Als Ihr Studium begann, mussten Sie erst mal ein Industrie-Praktikum machen.

 

Sechs Monate bei der AEG, und das war auch ganz gut. Da hat man für die experimentellen Wissenschaften viel gelernt, was man später auch handhaben konnte. Drehbank, Feilen, Löten, auch Materialprüfung und solche Dinge.

 

Was zeichnet aus Ihrer Sicht einen Wissenschaftler aus?

 

Das Wichtigste ist, dass man neugierig ist. Dass man Fragen erkennt, für die man Antworten finden will, und dass man nicht das, was vorgegeben ist, als bare Münze nimmt, sondern selber fragt. Und hat man seine Frage gelöst, ergibt sich daraus immer eine neue.

 

Was waren in Ihrem Forscherleben die großen Fragen?

 

Ich hatte einen einmaligen Dozenten. Der sagte mir: „Über die Grenzfläche zwischen Festkörpern und Flüssigkeiten weiß man eine Menge. Aber über die Grenzfläche zwischen Festkörpern und Gasphase – wichtig für die Katalyse – weiß man wenig. Davon verstehe ich auch nichts. Trauen Sie sich zu, da einzusteigen?” Dieses Vertrauen fand ich großartig, dass man einem Doktoranden ein Gebiet zuweist, auf dem man selbst nicht beschlagen ist, und ihm dann freie Hand lässt und ihn unterstützt. Das war die erste große Frage.

„Das Wichtigste ist, dass man neugierig ist und nicht das, was vorgegeben ist, für bare Münze nimmt, sondern selber fragt.”

Sie haben die Katalyse mal als schwarze Kunst bezeichnet, die zur Wissenschaft wurde. Ist eigentlich traumhaft für einen Wissenschaftler, ein neues Feld aufzuschließen, oder?

 

Ja, aber es war auch ein großes Risiko. Es war Neuland. Ich habe mir überlegt, was man experimentell machen könnte. Es war zum Beispiel notwendig, ein Höchstvakuum zu erzeugen. Da bin ich zu einem Vertreter der Firma Leibold gegangen, habe gesagt, ich möchte so ein Vakuum erreichen. Und der sagte: Das geht nicht. Das sind so Schwierigkeiten, die man überwinden muss.

 

Gab es Momente, in denen Sie Angst gespürt haben?


Dann hat mich meine Frau unterstützt: Mach ruhig weiter.

 

Sie haben ja mal gesagt: In der Wissenschaft braucht man Geduld und Geld und Glück. Die drei G. Welches G hat bei Ihnen denn dominiert?

 

Das Glück, diesen Dozenten zu haben. Das war für mich der entscheidende Punkt. Geld? Wenn man gute Ideen hat, kriegt man das auch. Ja, und Geduld, das können Sie sich vorstellen, dass die notwendig ist, wenn Sie einen neuen Weg einschlagen.

 

Wäre der Weg, wie Sie ihn gegangen sind, heute noch zeitgemäß?


Es wird schwieriger. Als ich in meinem Gebiet anfing, war alles neu. Das ist nicht mehr der Fall. Wenn ich noch studieren würde, würde ich in die Lebenswissenschaften gehen. In der Chemie kennt man die Grundlagen. In der Physik gibt es zwar große Fragen, aber die wird man in absehbarer Zeit nicht lösen. In der Biologie jedoch gibt es Fragen, die eine Antwort erwarten lassen. Was ist Leben? Wie kann es entstehen? Das ist etwas, wofür Chemie und Physik die Ansätze liefern können. Zu meiner Zeit war die Biologie noch eine beschreibende Wissenschaft, die Molekularbiologie kam erst später auf. Und damit die Grundlage dieser Wissenschaften.

 

Zu den großen Herausforderungen der Menschheit gehört auch das Altern der Gesellschaft. Und da setzt auch die Biologie ein. Die Menschen werden immer älter, aber die letzten Lebensjahre sind oft geprägt durch Krankheit und entsprechende Kosten. Und dazu gibt es ganz neue und vielversprechende Erkenntnisse in der Stammzellforschung, in der Genetik. Wie sehen Sie diese Entwicklung?

 

Das ist eine interessante Wissenschaft. Aber ob sie gut ist – in dem Sinn, dass man sie weiterverfolgen soll, möchte ich in Zweifel ziehen. Die Leute können nicht immer noch älter werden. Wo soll das hinführen?

 

Und der Gedanke, dass man die guten Jahre verlängert, dass man sagt: Das Ziel ist gar nicht, dass die Menschen älter werden, sondern dass wir das Altern insgesamt verstehen?

 

Da spielen aber nicht nur naturwissenschaftliche, sondern auch psychologische Aspekte eine Rolle. Die Fähigkeit, das Alter zu akzeptieren und daraus das Beste zu machen. Es gibt so viele Leute, die einfach nicht alt werden können, weil sie meinen, sie haben im Leben so viel versäumt. Das ist ein psychologisches Problem. Wie man dem beikommen kann, weiß ich nicht. Auf ein zufriedenes Leben zurückblicken zu können, ist die große Kunst. Auch unter meinen Kollegen beobachte ich, dass es manche gibt, die einfach nicht aufhören können. Sie meinen, es kommt immer noch einmal etwas Großes dazu. Denen fällt es schwer zu sagen: Das war es, und nun blicke ich zurück.

 

Ist für Sie Forschung noch Teil Ihres Alltags?

 

Ich habe noch mein Büro im Institut. Ich habe Korrespondenz, verfasse ab und zu Gutachten. Ich habe vor zwei Jahren den letzten Doktoranden betreut. Aber ich nehme keine neuen Projekte mehr in Angriff. Ich nehme einfach mit Interesse wahr, was sich so tut.

 

Physik und Chemie waren die Basis der industriellen Revolution. Jetzt haben wir eine neue Ära. Ist die Ära der Chemie damit vorbei?

 

Das ist richtig, die Chemie ist, was die Grundlagen anbetrifft, eine abgeschlossene Wissenschaft. Trotzdem: Wir entdecken ständig neue Moleküle. Es gibt ein schönes Bild dazu: dass ein Kind mit einem Löffel versucht, das Meer auszuschöpfen. So ist es mit der Chemie. Revolutionen werden sich aber auf dem Gebiet der Informatik und Mathematik abspielen. Was zu erwarten ist, mit Quantencomputern etwa, ist noch gar nicht abzusehen. Und wir stehen mittendrin in der Digitalisierung, die unsere Arbeitswelt verändern wird. Das ist aufregend.

 

Wissenschaft hat Schattenseiten. Albert Einstein, großer Pazifist, gilt als Vater der Atombombe. Und wenn man die Chemie betrachtet, die Katalyse, und sich anschaut, wie unsere Welt heute aussieht – mit der Klimaerwärmung, Plastik in den Meeren, Quecksilber in den Fischen –, dann können einem Zweifel kommen. Wie beurteilen Sie diese Schattenseiten?

 

Die Chemie wird eine wichtige Rolle dabei spielen, die Probleme zu lösen, die sie zum Teil selbst verursacht hat. Es gibt immer eine Schattenseite. Sie erwähnten Einstein. Er war Pazifist, natürlich. Aber die Situation damals im Krieg war so, dass die amerikanischen Wissenschaftler der Meinung waren, wir müssen etwas machen, damit die Deutschen nicht vor uns die Atombombe haben. Dann haben sie Einstein überredet, den berühmten Brief zu schreiben. So gesehen kann man ihn als Vater der Atombombe bezeichnen, obwohl er verabscheut hat, was daraus geworden ist. Auf die Frage wird es keine endgültige Antwort geben. Jeder muss für sich selber entscheiden, auf welcher Seite er stehen will.

 

Wie sehen Sie Fridays for Future?

 

Ich finde es großartig, dass die ganz jungen Leute jetzt erkennen, wo unsere Probleme liegen, dass unser Konsumdenken nicht weiter so wachsen kann. Und natürlich hat die Corona-Krise, glaube ich, viel dazu beigetragen, dass sich die Leute überlegen: Kann es so weitergehen? Nein, es kann auch anders gehen. Und Fridays for Future haben genau diesen Weg im Sinn. Für mich ist wichtig, dass die Jugend diese Aktivitäten in die Hand nimmt. Die Politiker sind dazu nicht in der Lage, weil sie offenbar andere Ziele haben: wiedergewählt zu werden.

 

Sie sagten, die Chemie hat die Chance, wiedergutzumachen, was sie mit verursacht hat. Was könnten Potenziale einer grünen Chemie sein?

 

Alles, was jetzt diskutiert wird auf dem Energiesektor, sind chemische Prozesse – etwa die Wasserstofftechnologie, die man anstrebt zum Schutz der Umwelt. Man muss das Wasser elektrolysieren, den Wasserstoff komprimieren und wiederum in einer Brennstoffzelle zur Stromerzeugung nutzen – alles chemische Prozesse. Deswegen wird auch weiterhin viel in der Richtung geforscht werden. Nicht umsonst gab es voriges Jahr den Nobelpreis für die Entwicklung der Lithiumbatterie. Die Chemie hat weiter eine Schlüsselrolle.

 

Was sind weitere große Fragen, die die Wissenschaft angehen sollte?

 

Die ganz großen Fragen stellen sich in der Physik: der Ursprung des Universums. Gibt es einen Urknall oder eine periodische Veränderung? Was ist die Dunkle Materie? Was Dunkle Energie? Das sind völlig offene Fragen, und die Theorie dazu ist noch nicht entwickelt. Es bräuchte dafür einen neuen Einstein.

Gerhard Ertl ist Physiker und Oberflächenchemiker. Er war von 1986 bis 2004 Direktor am Fritz-Haber-Institut der Max-Planck-Gesellschaft in Berlin-Dahlem. 2007 erhielt er den Nobelpreis für Chemie „für seine Studien von chemischen Verfahren auf festen Oberflächen”.

Interview: Lorenz Wagner

Stand: Dezember 2020