Katalyse ist =

... liminal, planetarisch, edel, schwungvoll, reinigend, verbindend

 

liminal

Mit der Katalyse beschreibt die Chemie einen flüchtigen Moment der Veränderung, was mich an den Begriff der Liminalität denken lässt, den man in den Kulturwissenschaften für Schwellenzustände und Übergangsphasen gebraucht. Er kommt ursprünglich aus der Anthropologie und bezieht sich auf Übergangsriten, kann auch Geburt, Tod, Krise und Wandel meinen – globale, existenzielle Themen, die auch die Katalyseforschung berühren.

Susan Squier, Literaturwissenschaftlerin

vielschichtig

Obwohl ursprünglich von dem Chemiker Jöns Jacob Berzelius eingeführt, kann der Begriff auch in vielen anderen Bereichen Anwendung finden: So spielt zum Beispiel in Goethes „Wahlverwandtschaften“ der „Mittler“ die Rolle eines Katalysators. Heutzutage wird Katalyse häufig benutzt, wenn die Beschleunigung eines Prozesses durch einen Partner gemeint ist, der im Ergebnis gar nicht mehr auftritt.

Gerhard Ertl, Oberflächenchemiker und Nobelpreisträger 

enthoben

An Katalysatoren fasziniert mich, dass sie dem Geschehen, das sie regulieren, so merkwürdig enthoben sind. Ich muss dabei an eine Anekdote denken, die man sich über den Moralphilosophen Max Scheler erzählt. Es war damals bekannt, dass er gelegentlich ins Bordell ging. Auf die Frage seiner Studierenden, wie er das mit seiner Ethik vereinbaren könne, soll er geantwortet haben: „Der Wegweiser geht ja auch nicht den Weg, den er weist!“ Ich möchte Scheler dann immer entgegnen: „Aber er hat sich auch nicht selber aufgestellt!“ Ähnlich sonderbar jedenfalls – und doch von großer Bedeutung für die Allgemeinheit – sind die Katalysatoren: Sie bewirken vieles, ohne sich selbst zu verändern. Und die Frage ist: Wer setzt sie ein?

Julia Dietrich, Philosophin 

aufwertend

Sie verwandelt einfache, billige Ausgangssubstanzen durch eine enzymatische Reaktion in einem nachhaltigen Prozess in hochwertige, chemisch komplexe Wertstoffe. 

Peter Neubauer, Mikrobiologe

planetarisch

Katalyse ist ein molekulares Werkzeug mit planetarischer Wirkung. Katalysatoren beschleunigen chemische, biotische, industrielle, historische und geohistorische Prozesse. 

Benjamin Steininger, Kulturtheoretiker und Wissenschaftshistoriker 

edel

Katalyse ist die Wiederfindung des „Steins der Weisen“ im neuzeitlichen Sprachidiom, weil molekulare Wirkstoffe und Materialien das neue Gold sind. 

Markus Antonietti, Chemiker und Grenzflächenforscher 

schwungvoll

Eine chemische Reaktion funktioniert ohne Katalysator so, als wäre man mit einer Dampflokomotive auf einer steilen Bahntrasse zu einem Berggipfel unterwegs. Mit Katalysator fühlt sich die Reaktion hin- gegen an, als führe man mit einem ICE durch einen Tunnel unter dem Berg hindurch. Das dauert nur wenige Minuten, während der Weg über den Berg Stunden dauert. 

Beatriz Roldán Cuenya, Chemikerin und Oberflächenphysikerin 

verbindend

Katalyse ist für mich immer dann wirksam, wenn durch ein Ereignis nahezu unmögliche Dinge plötzlich ins Laufen kommen.

Roderich Süßmuth, Chemiker und Biochemiker

initial

Katalyse ist keineswegs nur ein Phänomen der Chemie. Sie ist auch ein Konzept, das auf viele andere Aspekte von Wissenschaft zutrifft – kooperative Projekte zum Bei- spiel können katalysiert werden, die Gründung eines neuen Instituts oder die Fähigkeit der Zusammenarbeit von Industrie und Academia. Wer Prozesse gut anleitet, wirkt immer als Katalysator.

Katrina Forest, Mikrobiologin 

essenziell

Katalyse ist essenziell in jeglicher Hinsicht!

Christian Hackenberger, Chemiker 

reinigend

Im verbrennungsmotorischen Bereich ist die Katalyse ein Hilfsmittel zur Luftreinigung. Durch den Einsatz verschiedener Luftreinigungskomponenten wie Oxidations- oder Reduktionskatalysatoren werden gesundheitsschädliche Abgasemissionen, beispielsweise Stickoxide, in unbedenkliche Gasbestandteile umgewandelt, etwa Stickstoff und Wasser.

Ferhat Inci, Verfahrenstechniker 

schöpferisch

Der Dichtergeist ist tatsächlich eine Art von Gefäß, in dem sich zahllose Empfindungen, Wortfolgen, Bilder einfinden und ansammeln, die dort jeweils verbleiben, bis alle zur Verschmelzung in einer neuen ‚Metapher‘ bereiten Bestandteile beieinander sind. 

T.S. Eliot, Schriftsteller und Dichtungstheoretiker (1888–1965) [1]

Wortherkunft – Katalyse

= Beschleunigung, Verlangsamung oder Auslösung einer chemischen Stoffumsetzung. Griech. katálysis‚ Auflösung, Zerstörung, Vernichtung, zu griech. katalýein‚ losmachen, -binden, auflösen, zerstören, wird von dem englischen Chemiker Berzelius um 1836 in die Terminologie der Chemie eingeführt; vorher bereits bei Libavius (Libau) „Alchymia“ (1597) mit unklarer Bedeutung. [2] 

Historische Definition

= „Ich werde sie daher, um mich einer in der Chemie wohlbekannten Ableitung zu bedienen, die katalytische Kraft der Körper, und die Zersetzung durch dieselbe Katalyse nennen, gleichwie wir mit dem Wort Analyse die Trennung der Bestandtheile der Körper, vermöge der gewöhnlichen chemischen Verwandtschaft, verstehen. Die katalytische Kraft scheint eigentlich darin zu bestehen, dass Körper ihre bloße Gegenwart, und nicht durch ihre Verwandtschaft, die bei dieser Temperatur schlummernden Verwandtschaften zu erwecken vermögen, so dass zufolge derselben in einen zusammengesetzten Körper die Elemente sich in solche anderen Verhältnisse ordnen, durch welche eine größere electrochemische Neutralisierung hervorgebracht wird.“

Jöns Jacob Berzelius, 1836 [3]

Quellen

[1] T.S. Eliot, „Tradition und individuelle Begabung“, in: Ausgewählte Essays, Berlin 1950, S.106. 

[2] Wolfgang Pfeifer et al., Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, digitalisierte Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache, abgerufen am 18.11.2020.

[3] Jöns Jacob Berzelius, Jahres-Bericht über die Fortschritte der 10 physischen Wissenschaften, Tübingen 1836, S.243–244 (übersetzt von F. Wöhler). 

Text: Mirco Lomoth, Eva Murašov

Stand: Dezember 2020