Polystyrol oder Kaviar?

Nichts ist eleganter als die Einfachheit. Das gilt für die Küche wie für das Labor. Von Markus Antonietti

Als Chemiker war man vor 20 Jahren schon verwundert: Da entdeckten Sterneköche wie Heston Blumenthal oder Ferran Adrià Laborgeräte und essbare Chemikalien und kreierten die „Molekularküche“. Sie erfanden das Kochen neu, indem sie chemische Grundoperationen anwandten. Orangensaftkonzentrat wurde mit Alginat und Kalzium zu Orangenkaviar-Perlen geliert, die im Mund zu einer Geschmacksexplosion zersprangen. Chemie beim Kochen war plötzlich cool.

Ich gebe zu: Nach Jahren der Nichtachtung und des Fremdschämens in der Giftecke war das eine Genugtuung. Die öffentliche Wahrnehmung der Chemie ist ja bekanntermaßen außerordentlich schlecht. Chemikalienunfälle, Mikroplastik in den Meeren, Plastikabfälle – all das ist Chemie. In der Schule gilt das Fach als uncool und die Anzahl an Nachwuchschemiker*innen nimmt weiter ab, trotz bester Arbeitsmarktchancen.

Am Max-Planck-Institut versuchen wir, eine Faszination für das Fach zu wecken, indem wir die Menschen in ihrem Erfahrungsraum Küche abholen und ihnen vermitteln: Chemie ist wie Kochen! Dafür haben wir vor fünf Jahren das KitchenLab gegründet. Dort stellen wir alltägliche Objekte aus Stoffen her, die jeder im Supermarkt kaufen kann, nichts wirklich Giftiges, nur Wasser und Alkohol als Lösemittel, und mit ganz normalen Küchengeräten. Schüler*innen können bei uns ohne größere Gefahren Chemie erlernen und Wärmeschutzplatten im Waffeleisen herstellen. Ein Schneidebrett aus Mehl statt Plastik? Bei uns kein Problem! Und plötzlich ist Chemie cool, irgendwie MacGyver-mäßig. Die Kochexperimente sind eine Wiederentdeckung der Einfachheit und der Sinne, die bei der modernen Chemie sonst hinter Gerätegehäusen und Sicherheitsschranken verschwinden.

Mittlerweile ist das KitchenLab so beliebt geworden, dass kaum noch Schüler*innen Platz haben. Was als Versuch begann, die Freude der Chemie an die nächste Generation der Druiden und Alchemisten weiterzugeben und unsere Studiengänge wieder zu füllen, entwickelte sich zu einem „Therapieplatz“ für sturmgeprüfte Chemiker*innen. Wir tragen einfache Küchenchemikalien in die Chemie und schauen, was wir damit erreichen können. Durch diese Inversion fällt so manches Dogma – und Nachhaltigkeit wird zu einer Selbstverständlichkeit.

Zum Beispiel setzen wir einen Teig aus Sägespänen oder Papiermehl an und kochen daraus eine Isolierplatte. Diese schmeckt zwar nicht (ich habe sie probiert), aber sie isoliert genauso gut wie das petrochemische Original aus Polystyrolschaum, das extrem giftig ist! Ich frage mich: Wie kann es sein, dass wir eine Industrie haben, die aus Trägheit immer das Gleiche macht, und wir mit einem einfachen kochchemischen Inversionstrick ein nachhaltiges Produkt schaffen, das man auf den Kompost werfen kann und das zudem zehnmal preiswerter ist und wesentlich härter?

„Einfachheit ist der Schlüssel jeder wahren Eleganz.“ Dieser Satz von Coco Chanel hat auch in unserer Disziplin seine Bedeutung. Die Chemie kann elegante Lösungen für die Zukunft liefern, damit wir einen Planeten bekommen, der gesünder ist als der, den wir mit der Industrialisierung übernommen haben. Die Faszination für das Fach kommt dann ganz von alleine, auch ohne Molekularküche.

Markus Antonietti  ist Deutschlands meistzitierter Chemiker. Der gebürtige Italiener und Direktor des Max-Planck-Instituts für Kolloid- und Grenzflächenforschung in Potsdam ist leidenschaftlicher Koch. Seine beiden Töchter hat er mit einfachen Pasta-Gerichten großgezogen. In seiner heimischen Küche entwickelt er mit den Bordmitteln des Chemikers gesunde Alternativen zu herkömmlichen Lebensmitteln – etwa Sahneersatz aus Kokosmilch mit nur sieben Prozent Fettanteil, der „genauso schmeckt“ wie eine sündhafte Sauce béarnaise!

Text: Markus Antonietti
 

Stand: Dezember 2020