Bändigen!

Die großen Internetkonzerne überrumpeln die Demokratie. Die Wissenschaft muss sich damit befassen, wie man sie bändigen und eine Gegenmacht bilden kann

 

Auch in der Demokratie, nicht nur beim Klimawandel, gibt es einen Tipping Point. Den Punkt, an dem die Demokratie umkippt, erst in eine populistisch-autoritäre Form, und dann in eine Diktatur. Mit den modernen Mitteln der digitalen Totalüberwachung und der Manipulation ist in Staaten, die nicht an Grundrechte und Demokratieprinzipien gebunden sind, die Organisation von Opposition, der Weg zum Wechsel der Regierung, der eine Demokratie auszeichnet, dann nicht mehr möglich.

Diejenigen, die die Gestaltung von Gesellschaft durch Recht und Gesetz immer wieder schlechtreden, laden eine schwere Verantwortung auf sich. Die Verbindung von neoliberalen Visionen der Deregulierung mit der Behauptung, die Technik – etwa in Form von Künstlicher Intelligenz (KI) – könne die Probleme der Gesellschaft besser lösen als die Mittel der Demokratie, nämlich Gesetzgebung und öffentliche Haushalte, ist nicht nur ein wesentlicher Grund für die Demokratiekrise heute. Sie wird unsere Gesellschaft über den Tipping Point bringen, wenn sie nicht deutlich zurückgewiesen wird.

Die Weltvision der Digitalkonzerne, die schon jetzt die Infrastruktur der öffentlichen Kommunikation beherrschen, und der autoritäre Populismus verstärken einander wechselseitig. Der Bildschirm des Mobiltelefons ist dem einfachen, kurzen Slogan des Populisten zuträglicher als der aufgeklärten, differenzierten Argumentation. Und die gebetsmühlenartig Wiederholung der unbewiesenen Behauptung, Digitalisierung und KI könnten die großen Probleme dieser Welt besser lösen als demokratische Prozesse, unterminiert die Demokratie.

Es reicht deshalb nicht, wenn Wissenschaftler*innen die Macht der Internetkonzerne, der Technostruktur des globalen Internets oder neuerdings der KI konstatieren und gleichzeitig eine angeblich abnehmende Gestaltungsfähigkeit durch demokratische Instrumente wie Recht und Gesetz hinnehmen. Verstehen sie sich als Demokrat*innen, müssen sie helfen, der Demokratie angesichts der zunehmenden Überrumpelung durch Technologie und Geld aus den Taschen der großen Internetkonzerne wieder Wirksamkeit zu verschaffen. Und dazu reicht es nicht, als eine Art Stiftung Warentest zu fungieren und Google, Apple, Facebook, Amazon und Microsoft (GAFAM) Empfehlungen zu geben, wie sie etwa ihre Algorithmen ethischer und weniger diskriminierend gestalten könnten.

Die Grundsatzfrage nach dem Verhältnis von Technik verbunden mit wirtschaftlicher Macht zu Demokratie und Recht muss gestellt werden. Wissenschaft, womöglich auch noch direkt oder indirekt finanziert durch Google und Facebook, wie man es in Berlin am Alexander von Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft (HIIG) und an der Technischen Universität München (TUM) sieht, muss sich fragen lassen, ob sie bereit ist, sich vor den Karren der GAFAM-Konzerne spannen zu lassen, indem sie sich vom Normativen verabschiedet und es sich mit der Beschreibung der zunehmenden Machtübernahme durch KI und mithilfe ihrer Megaprofite in den Hängematten der Drittmittelfinanzierung bequem macht. Das wäre genau das Gegenteil von dem, was wir in der Eingangshalle der Humboldt-Universität noch heute lesen können. Die Philosophen, steht dort geschrieben, hätten die Welt nur verschieden interpretiert, es komme aber darauf an, sie zu verändern. Damit wird eine praktisch-kritische Arbeit der Philosophie eingefordert, die man im technischen Zeitalter auf die Sozialwissenschaften insgesamt übertragen sollte: Es reicht eben nicht, die Welt einfach nur zu beschreiben und über Ethik der KI zu diskutieren, die Veränderungen aber den mächtigsten Technologiekonzernen zu überlassen. Aber die mit GAFAM-Mitteln finanzierte Wissenschaft ist leider erstaunlich zurückhaltend, wenn es um Forderungen normativer Natur geht, also um Vorschläge für die Regulierung der Konzerne durch Recht und Gesetz, die ihre Macht zähmen.

Demokratie braucht Gegenmacht. Und diese muss ermöglicht, organisiert und unterstützt werden. Zu ihr gehören eine freie und unabhängige Wissenschaft, Presse als vierte Gewalt, Gewerkschaften, Zivilgesellschaft. Und ein funktionierender Wettbewerb. Keiner dieser Bereiche darf unter die Kontrolle oder den übermächtigen Einfluss der GAFAM-Konzerne geraten. Wie Gegenmacht und Gegenalgorithmen entwickelt werden, die der Vielfalt und den Checks and Balances zuträglich sind, die Demokratie braucht, muss eine Fragestellung in der Wissenschaft sein.

Lawrence Lessig, der große US-amerikanische Verfassungsrechtler und Rechtswissenschaftler der Digitalisierung, der übrigens auch in Berlin oft und gern gesehener Gast ist, hat die zersetzende Wirkung des Geldes der Konzerne in der US-amerikanischen Demokratie ausführlich beschrieben. Genauso wie wir unsere Politik vor finanziellen Abhängigkeiten und dem Einfluss des Geldes der Mächtigen schützen müssen, müssen wir auch Wissenschaft und Presse vor dieser die Demokratie zersetzenden Macht schützen. Die 15 Prozent weltweite Besteuerung, auf die sich die Staaten dieser Welt jetzt auf ganz wesentliches Betreiben des deutschen Finanzministers hin geeinigt haben, sind ein wichtiger erster Schritt. Das so eingenommene Geld muss um der Demokratie willen auch in die Ermöglichung von Gegenmacht und Checks and Balances investiert werden – in Form von mehr Mitteln für freie und kritische Presse, Zivilgesellschaft und Wissenschaft.
 

Paul Nemitz ist Hauptberater für Justizpolitik in der Europäischen Kommission, Gastprofessor für Rechtswissenschaften am Europakolleg in Brügge und Mentor an der Quadriga Hochschule Berlin. Hier bringt er seine persönliche Meinung zum Ausdruck. 2021 erschien von ihm „Prinzip Mensch. Macht, Freiheit und Demokratie im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz“ (mit Matthias Pfeffer) im Dietz-Verlag.

Text: Paul Nemitz

Stand: Dezember 2021