Begegnen!

Schon ein flüchtiges Kennenlernen kann das Vertrauen in andere stärken. Wir brauchen mehr Raum für das Miteinander in unserer Gesellschaft

 

Wir sitzen fest. So fühlt es sich an seit Monaten: Pandemie, Homeoffice, Homeschooling. Wir kommen weniger aus der eigenen Wohnung; und wenn wir draußen sind, versperren uns oft die Masken den Blick auf die Gesichter der anderen. Was geht wohl in ihnen vor? Viele von uns waren über Monate nicht im Büro: Bildschirme und Breitbandkabel statt Büro und Kaffeeküche. Die Zusammenarbeit litt. Und am schlimmsten: Unsere Kinder waren für viele Monate nicht mehr richtig in Kitas und Schulen. Das Land zog sich zurück ins eigene Heim, in die Familie, in den engsten Kreis, ins kleine, vertraute „Wir“.

Das SARS-CoV-2-Virus werden wir hoffentlich bald besiegen, dann dauerhaft wieder vor Ort arbeiten, in den Schulen lernen. Trotzdem: Viele Probleme werden bleiben. Sie gab es bereits vor der Pandemie, wurden von ihr nur verschärft. Vereine und Kirchen verlieren ihre Mitglieder. Stadtteile werden sich sozial immer ähnlicher, die Segregation in arm und reich, qualifiziert und bildungsarm, integriert und ausgeschlossen nimmt zu. An Orten der Begegnung fehlt es seit Langem. Der Konfirmationsunterricht – von jeher eine Institution, die Kinder einer Konfession, aber unterschiedlicher sozialer Herkunft zusammenführt – hat an Bedeutung verloren. Auch Wehr- und Zivildienst sind gefallen; ein verpflichtendes soziales Jahr scheint leider nicht durchsetzbar. Die soziale Distanz zementiert sich schon früh: Es gibt immer mehr Schulen mit einem hohen Anteil an Kindern mit Lernmittelbefreiung – ein Zeichen dafür, dass es ihren Familien finanziell nicht gut geht.

Was sind die Folgen dieser schleichenden Trennung sozialer Kreise? Die Antworten kennen wir aus vielen wissenschaftlichen Disziplinen. Georg Simmel, einer der Gründerväter der Soziologie, zeigte, dass schon bei einem flüchtigen Blick oder Kennenlernen das Vertrauen in Fremde zunimmt. Nur so können wir solide Hypothesen bilden über das Verhalten anderer Menschen. Diese Vorhersehbarkeit hilft uns, Vertrauen aufzubauen. Sie schenkt uns eine Verlässlichkeit, die wir brauchen. Ohne Vertrauen, so Niklas Luhmann, würden wir morgens nicht aufstehen können, die Risiken erschienen uns schlicht zu hoch. Der Ökonom und Nobelpreisträger Kenneth Arrow bezeichnet Vertrauen als den Kitt, der unsere Gesellschaft zusammenhält. Und unsere Demokratie trägt. 

In der Vermächtnisstudie, die mit der Wochenzeitung DIE ZEIT und dem Forschungsinstitut infas durchgeführt wurde, konnten Jan Wetzel und ich zeigen, dass Menschen mit vielfältigen und ganz diversen Bekannten ein höheres grundsätzliches Vertrauen haben als Menschen, die in den eigenen Kreisen stecken bleiben. Vertrauen ist ein interaktives Konzept. Es verbindet Menschen. Auch Selbstvertrauen wird in der Interaktion mit anderen erzeugt. 

Wir brauchen also Orte der Begegnung: Museen und Theater für alle. Und Bibliotheken: Viele von ihnen haben sich grundlegend neu ausgerichtet und uns damit gezeigt, wie man Menschen verbindet. Wir brauchen neben Ruheabteilen im Zug auch Waggons der Begegnung. Ein kostenloses Interrailticket zum 18. Geburtstag, wie von manchen schon lange gefordert. Ein verpflichtendes soziales Jahr. Vor allem aber brauchen wir Schulen, die alle aufnehmen, miteinander leben und lernen lassen. Auch jene mit körperlichen und geistigen Einschränkungen. Das alles geht. Wie, das wissen wir bereits größtenteils. Wo dieses Wissen fehlt, hat die Wissenschaft ihren Beitrag zu leisten. Die Bedingungen und Möglichkeiten menschlicher Begegnung müssen immer wieder gebaut werden. Gemeinsam. 

Jutta Allmendinger  ist Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) und Professorin für Bildungssoziologie und Arbeitsmarktforschung an der Humboldt-Universität. 2020 erschien ihr Buch „Die Vertrauensfrage: Für eine neue Politik des Zusammenhalts” (mit Jan Wetzel) im Dudenverlag.

Text: Jutta Allmendinger

Stand: Dezember 2021