Für die Wissenschaft. Für Berlin.

Stefan Rinke

Der Lateinamerika-Experte Stefan Rinke von der Freien Universität Berlin hat eine Monographie über einen bisher kaum untersuchten Aspekt der Weltgeschichte: den Einfluss des Ersten Weltkriegs auf die Herausbildung eines globalen Bewusstseins in Lateinamerika veröffentlicht. Der Historiker hat dafür zwei Jahre lang am Ibero-Amerikanischen Institut (IAI) in Berlin geforscht. Seinen Lehrstuhl übernimmt in dieser Zeit sein Fachkollege Nikolaus Böttcher, der wie Stefan Rinke als exzellenter Kenner der Geschichte Lateinamerikas gilt.

»Das zeitlich fremde vor Augen«

Ich bin mit Menschen aufgewachsen, die ein sehr bewegtes Leben hatten. Die Verlustgeschichten lagen damals noch in der Luft. Der Lehrer mit der einen Hand – wo war die andere geblieben? Solche Fragen habe ich oft gestellt und die Erwachsenen wollten oder konnten sie nicht beantworten. Später habe ich mich daran gemacht, selbst Antworten zu finden.

Meine Leidenschaft ist eine doppelte. Sie gilt der Geschichte, weil sie uns das zeitlich Fremde vor Augen führt und die Möglichkeit gibt, Probleme menschlichen Zusammenlebens quasi mit der Lupe zu untersuchen und Schlüsse daraus zu ziehen. Und sie gilt Lateinamerika, das im Laufe des 20. Jahrhunderts immer wieder Labor für politische und soziale Probleme war. Schon in der Oberstufenzeit haben mich die Konflikte des Kontinents sehr bewegt. Später habe ich mit Amnesty International gegen Menschenrechtsverbrechen in Chile und Argentinien gekämpft. Im Studium konnte ich die beiden Leidenschaften dann zusammenbringen.

In meiner Forschung frage ich nach der Bedeutung des Ersten Weltkriegs für Lateinamerika. Er hat dort eine viel größere Diskussion ausgelöst, als uns bisher bewusst war. Ich möchte herausfinden, wie sich das globale Bewusstsein innerhalb Lateinamerikas in dieser Zeit verändert hat. Die Eliten stellten sich damals die Frage, wie sie sich in einer Welt verorten sollten, die in Flammen stand. Nach gut 300 Jahren Kolonialzeit und 100 Jahren Unabhängigkeit im Schatten der Alten Welt wandte man sich ab vom großen Vorbild Europa, das in Barbarei versank, und suchte nach eigenen Identitätsmodellen. Man hoffte auf eine gleichberechtigte Stellung im Weltkonzert.

Um an Quellen aus dieser Zeit zu gelangen, besuche ich viele lateinamerikanische Archive. Das kann mitunter recht abenteuerlich sein. Es kommt vor, dass man mich in einen Keller schickt, wo stapelweise alte Dokumente herumliegen. Die Durchsicht ist zeitaufwendig, aber spannend, weil man äußerst überraschende Funde machen kann.

Die Geschichtswissenschaft hat Europa bisher immer getrennt vom Rest der Welt wahrgenommen. Erst in den letzten Jahren hat sich diese Sichtweise geändert, Historiker interessieren sich zunehmend für außereuropäische Themen. Es gibt eine Öffnung zu transnationalen und globalen Fragestellungen. Als Regionalwissenschaftler möchte ich einen Beitrag dazu leisten, dass Lateinamerikas Geschichte nicht länger als die einer Peripherie betrachtet wird. Das alte Modell von Zentrum und Peripherie gilt es zu erschüttern.

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