Mit Nancy Fraser hat die Graduate School of North American Studies eine der berühmtesten Intellektuellen unserer Zeit nach Berlin geholt. Als Professorin für Politische Theorie an der New School for Social Research in New York ist sie eine Nachfolgerin Hannah Arendts. Seit über 20 Jahren befeuert Nancy Fraser mit ihren Thesen zu sozialer Gerechtigkeit, Demokratie und Feminismus weltweit öffentliche Debatten. In Berlin hat sie als Einstein Visiting Fellow zur "Krise der amerikanischen Demokratie" geforscht.
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»Ich arbeite an einer Diagnose der Gegenwart«
Ich möchte verstehen, wodurch sich die Ungleichheitsverhältnisse auszeichnen, die für unsere heutige Welt spezifisch sind. Ich analysiere sie aus kritischer Perspektive, um Konzepte zu ihrer Beseitigung zu entwickeln – etwa in Bezug auf den Wohlfahrtsstaat, Multikulturalismus, Gender-Beziehungen, Demokratie und Ökonomie. Man könnte mich als Philosophin bezeichnen, denn aus dieser Disziplin stammen meine akademischen Abschlüsse. Ich selbst sehe mich aber eher in der Tradition der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule als eine Gegenwartsdiagnostikerin, die sich auf Erkenntnisse der Sozialwissenschaften, der Geschichte und der Philosophie gleichermaßen beruft. Ich versuche, Vorgänge oder Ereignisse unserer Zeit theoretisch zu erfassen, die wir zwar wahrnehmen, aber noch nicht auf einen Begriff gebracht haben.
Die Gender-Thematik spielt in meiner wissenschaftlichen Arbeit eine große Rolle. Das geht auf mein Engagement in der Neuen Linken Ende der 60er Jahre und die daraus hervorgegangene „zweite Welle“ des Feminismus zurück. Ich war in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, in der Antivietnamkriegsbewegung und dann in der Frauenbewegung aktiv. Das waren radikale, von Utopien geprägte Jahre. Der Glaube an die Utopien ist mit der Zeit verblasst und übrig geblieben ist etwas, das ich die bürgerliche Frauenbewegung nennen würde. Feministisches Gedankengut dient heute zur Legitimation des Neoliberalismus. Die wichtige Kritik am Modell des männlichen Alleinverdieners wird inzwischen in Anspruch genommen, um die Grundlagen einer neoliberalen Arbeitsorganisation abzusichern.
Meine Einstein-Forschergruppe in Berlin widmet sich der Krisenforschung – von der Wirtschafts- und Finanzkrise über die Krise des ökologischen, politischen und sozialen Systems bis hin zur Krise der Emanzipation – worunter wir die Schwierigkeit sozialer Bewegungen verstehen, die gegenwärtige Situation zu erfassen und mit angemessenen Strategien zu reagieren.
Wie der Feminismus sind auch viele andere ins Fahrwasser des Neoliberalismus geraten. Das ist etwa bei bedeutenden Gruppierungen innerhalb der Grünen zu beobachten, die mit grünen Finanzanlagen oder ökonomischen Derivaten liebäugeln. Oder auch innerhalb der Schwulen- und Lesbenbewegung. In all diesen Fällen ist es zu unbeabsichtigten Folgen gekommen, die wir offenlegen müssen, um die Frage zu ermöglichen: Soll es wirklich so sein wie jetzt? Oder können wir einen anderen, einen besseren Weg einschlagen?
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