Digital und präventiv? Neue Lösungen für psychische Gesundheit

Intro: Emotionen sind, egal wie man sie betitelt und definiert, zentral in allem, was wir machen. Man kann eine gesellschaftliche Perspektive nehmen, gegenwärtig leben wir in einer sehr, sehr affektiv polarisierten Welt. Da spielen Emotionen die zentrale Rolle, warum die Gesellschaft zusammenhält. Wir können klinisch schauen, da gibt's Patienten mit Depressionen, da sind Depressionen sind natürlich niedergedrückte Stimmungen, Traurigkeit, sehr, sehr zentral und ich könnte das immer weiter fortführen. Egal, woran man denkt, welches Thema man anfasst und anschaut, Emotionen sind der Teil, der sehr, sehr häufig sehr zentral ist. #AskDifferent, der Podcast der Einstein Stiftung. Warum Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler anders fragen.
Anton Stanislawski: Heute mit Anton Stanislawski. Schön, dass Sie dabei sind. Wer schon mal einen Therapieplatz gesucht hat, der oder die weiß, das kann richtig Nerven kosten und das in einer Lebensphase, in der genau daran es ja oft mangelt, an guten Nerven. Schnell psychotherapeutische oder psychiatrische Hilfe zu finden, ist oft gar nicht so einfach. Gerade auch Gruppen, die einen besonders hohen Bedarf haben, zum Beispiel Menschen mit Fluchtgeschichte, die gelten als unterversorgt. Wie können wir das ändern? Wie kommen wir zu niedrigschwelligerer Versorgung in Sachen mentaler Gesundheit? Und wie können digitale Anwendungen dabei helfen? Das sind Fragen, mit denen sich mein heutiger Gast beschäftigt. Professor Doktor Malek Bajbouj. Freut mich sehr, dass Sie da sind.
Malek Bajbouj: Hallo. Ich freu mich auch.
Stanislawski: Zum Einstieg erst mal Glückwunsch zum neuen Job. Seit dem 1. April werden Sie als Einstein-Professor gefördert und Sie leiten die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Charité Berlin. Sind Glückwünsche angebracht, oder?
Bajbouj: Ja, es ist, glaube ich, eine tolle Stelle, eine tolle Herausforderung und die ersten Tage, die ich hinter mich gebracht hab, sind auch sehr, sehr herausfordernd gewesen, aber umgekehrt auch unglaublich spannend und ich freue mich auf alles das, was noch kommt.
Stanislawski: So, und das war's aber auch noch gar nicht mit den Titeln. Sie sind Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. An der Charité sind Sie Direktor für internationale Angelegenheiten und damit für die strategische Ausrichtung der Charité im internationalen Raum verantwortlich. Sie sind zusätzlich Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik der Charité im St. Hedwig-Krankenhaus, dort verantwortlich für Forschung und Lehre. Dazu kommen dann noch mehrere Projekte, die Sie gegründet haben und die Sie zum Teil leiten. Wie viele Stunden hat Ihr Tag? Wie schaffen Sie das alles?
Bajbouj: Ich glaub, wenn man von außen draufschaut, dann wirkt das sehr, sehr viel. Ich glaub, da muss man zwei Dinge beachten. Das eine ist, dass wir ja nie alleine arbeiten. Es gibt immer tolle Teams, große Teams, die vieles machen und manchmal bin ich auch nur so der Frontsänger, der im Vordergrund steht und viele andere machen etwas. Und das Zweite ist, viele Dinge, die ich mache, sind auch Herzensangelegenheiten. Da merke ich gar nicht so richtig, ob ich jetzt etwas mache, was mir Spaß macht, was ein Hobby ist oder ob das etwas ist, was Arbeit ist. Und dann darf's auch 'n Tick länger sein an einem typischen Tag.
Stanislawski: Jetzt ist das ja alles noch ein bisschen neu, haben Sie gesagt auch, aber haben Sie schon einen Eindruck davon, ob Sie jetzt in diesen Positionen auch noch dazu kommen, selber zu forschen wirklich?
Bajbouj: Ich hab's mir fest vorgenommen. Ich weiß nicht, ob das realistisch ist. Ich glaub, in der Position muss man sich irgendwann entscheiden, ob man derjenige ist, der gute Forschung ermöglicht von anderen, oder ob man derjenige ist, der noch selber Forschung macht. Und ich glaub, ich sehe mich eher in der ersteren Rolle. Also ich werde nicht mit 'ner Pipette im Labor stehen. Ich werde nicht an einem Computer MRT-Bilder auswerten. Aber ich werde Ideen, die damit einhergehen, in das tolle Team und auch weitere Menschen, die noch kommen, hineingeben und so dann gemeinsam an größeren Themen arbeiten.
Stanislawski: Ich hab in einem kleinen Text über Sie gelesen, da stand, Sie interessieren sich im Kern für menschliche Emotionen in Ihrer Forschung. Ganz so grundsätzlich also über Freude, Angst, Wut, Ekel und so weiter. Wofür ist es gut? Warum fühlen wir uns so? Was ist da die Grundlage?
Bajbouj: Ja, meine Professur ist ja für Psychiatrie und effektive Neurowissenschaften, also da stecken die Emotionen mit drin und ich glaub, Emotionen sind egal, wie man sie betitelt und definiert, zentral in allem, was wir machen. Man kann eine gesellschaftliche Perspektive nehmen. Gegenwärtig leben wir in einer sehr, sehr affektiv polarisierten Welt. Da spielen Emotionen die zentrale Rolle, warum die Gesellschaft zusammenhält. Wir können klinisch schauen, da gibt's Patienten mit Depressionen, da sind Depressionen, Depressionen sind natürlich niedergedrückte Stimmung, Traurigkeit sehr, sehr zentral. Und ich könnte das immer weiter fortführen, egal woran man denkt, welches Thema man anfasst und anschaut, Emotionen sind der Teil, der sehr, sehr häufig sehr zentral ist.
Stanislawski: Jetzt geht's ja in der Psychiatrie und in der Psychotherapie auch immer um die Behandlung von psychischen Erkrankungen. Wieso ist es dafür hilfreich, sich die Emotionen und die Gefühle in den Fokus zu nehmen?
Bajbouj: Da würde ich fast ein erstes Stoppschild aufstellen, weil Krankenhaus impliziert ja immer, dass man sich mit Kranken beschäftigt und eine Sache, die ich wirklich gerne gemeinsam mit dem Team voranbringen würde, es gibt jetzt, ich hab noch keine Gesundheitshäuser, Health Houses, gesehen, aber ich würde gerne den Shift probieren zu wagen, dass wir eher präventiv tätig sind, dass wir eher versuchen, Erkrankungen zu verhindern. Jetzt auf die Frage nach Depressionen und natürlich können wir, wenn Menschen depressiv sind, auf ganz, ganz viele verschiedene Weise behandeln. Das können wir mit Technologien machen, Magnetstimulation, mit Stimulationsverfahren, das können wir mit Worten, mit Psychotherapien machen, das können wir Medikamenten machen. Es gibt also viele, viele verschiedene Möglichkeiten, aber eigentlich wäre es doch viel klüger, bevor die Menschen in den Fluss fallen zu verhindern, dass sie überhaupt fallen und zu verhindern, dass Depressionen auftreten. Und das wäre so ein erster Shift und Schwerpunkt, den ich gerne mit der Klinik gemeinsam eingehen würde.
Stanislawski: Wie könnten wir das besser schaffen, Prävention mehr in den Fokus zu nehmen?
Bajbouj: Ich kann's mal an 'nem ganz praktischen Beispiel nehmen. Die allermeisten Menschen, die eine Depression entwickeln, haben in der Frühphase solche Dinge wie Schlafstörungen. Und wenn wir es schaffen, das frühzeitig zu identifizieren, die Menschen, die diese Schlafstörungen haben, ihnen sehr, sehr früh Angebote machen, dann kann man mit viel, viel weniger Mitteln eine Depression verhindern und vor allen Dingen Leid vermindern. Also wir verhindern, dass da jemand monatelang in einer Depression ist, indem wir frühzeitig zum Beispiel Schlafstörungen behandeln, die am Ende noch gar nicht die Kriterien einer Depression erfüllen.
Stanislawski: Und trotzdem, ich hab's ja eingangs erwähnt, kennen eben viele auch aus der eigenen Erfahrung, dass es oft gar nicht so leicht ist, schnell an Hilfe zu kommen, wenn dann eben doch irgendwie eine psychische Problemlage da ist. Wie würden Sie denn die aktuelle Versorgungslage beschreiben?
Bajbouj: Das ist schon ein sehr, sehr wichtiger Punkt. Also wenn ich selber an einer Depression leide oder an einer psychischen Erkrankung, bei anderen Erkrankungen ist es teilweise noch schwieriger, wenn man an einer Psychose zum Beispiel leidet. Dann gibt es eine ganze Reihe von Hürden. Und wenn man sich anschaut, wie viele Menschen Angebote geben in Berlin, dann würde irgendjemand aus einer Vogelperspektive sagen, gar nicht so schlecht. Also es gibt ja ganz schön viele Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, ganz schön viele Psychiaterinnen und Psychiater, ganz schön viele Krankenhausbetten. Und wenn man genau hinguckt, dann sieht man, dass nicht nur, dass viele Menschen warten und dass viele Menschen, die eigentlich dringend Hilfe brauchen, gar nicht in das Hilfesystem reinkommen. Und deswegen ist der Schluss, den man daraus ziehen kann, der folgende, nämlich erstens, wir müssen Menschen breit darüber aufklären, was es für Möglichkeiten gibt. Wir müssen zweitens versuchen, sehr niederschwellige Angebote zu machen, die auch passgenau sind zu dem, was Menschen wollen. Und wir müssen, das finde ich ganz, ganz wichtig, die richtigen Menschen in Behandlung bringen. Es bringt nichts, wenn ich jetzt an meiner Klinik zehn Psychotherapeutinnen einstelle und die behandeln dann am Ende Menschen, die so ein bisschen besorgt sind und nicht wirklich eine Depression zum Beispiel haben, während gleichzeitig Menschen, die schwer erkrankt sind, aufgrund ihrer Erkrankung, aufgrund des Unwissens gar nicht ins Gesundheitssystem kommen. Also deswegen ist der erste Schritt gar nicht der Ausbau von Kapazitäten, sondern vielmehr die Identifikation von Menschen, die Hilfe brauchen, und das Empowern dieser Menschen, dass die auch Hilfe aufsuchen.
Stanislawski: Und niedrigschwelligere Angebote ist Ihnen ein großes Stichwort, so wie ich das verstanden hab. Was stellen Sie sich darunter vor?
Bajbouj: Wir sind ja in der Vergangenheit sehr, sehr viel in internationalen Settings unterwegs gewesen. Wir haben so ein paar Beispiele gesehen, wie in Jordanien zum Beispiel Krankenschwestern Angebote gemacht haben, die in Deutschland von Ärzten und Ärztinnen angeboten würden. Wir haben gesehen, wie in Israel Ärzte mit „Companions“ rumlaufen, die vorschlagen, welche Patienten bevorzugt, proaktiv ein Angebot bekommen sollen. Wir haben in Vietnam gesehen, wie man Angebote maßschneidert auf Personen. Das heißt, alles das, wenn man diese niederschwelligen Angebote und Ideen, die es auf der ganzen Welt gibt, versucht, auch in Deutschland zu etablieren, dann haben wir plötzlich ein ganz, ganz anderes Angebot, was gar nicht so dieses typische Angebot ist: Ein Arzt, eine Ärztin, eine Psychotherapeutin, Psychotherapeut sitzt hinter einer weinroten Fassade und wartet darauf, dass ein Patient eine Stunde lang irgendwo hinfährt, um dann zwei Stunden zu warten, um dann eine halbe Stunde vielleicht ein Gespräch zu haben. Ich glaub, es ist wichtig, dass wir lernen von internationalen Kooperationspartnern. Und zweitens ist es wichtig, dass wir uns mal hinterfragen, wie sind eigentlich so die Kommunikationswege, die Menschen heute bevorzugen? Ja, und ist das, was wir machen, das, was die Menschen überhaupt wollen.
Stanislawski: Stichwort digitale Anwendungen, geht's darum?
Bajbouj: Ja, das war der Köder, den ich jetzt an der Stelle ausgelegt habe.
Stanislawski: Und ich habe ihn geschluckt.
Bajbouj: Wir können uns ja mal anschauen, wie die Menschen zwischen 15 und 30 überwiegend kommunizieren. Ja, ist es so, dass irgendjemand gerne, oder die allermeisten, gerne ein Telefon in die Hand nehmen, irgendwo anrufen, um irgendwo hinzugehen, um sich behandeln zu lassen oder braucht man da eher …
Stanislawski: Ich glaube, es gibt Menschen, die haben eine richtige Phobie vor Anrufen.
Bajbouj: Ja, also es gibt Menschen, die wissen überhaupt nicht, dass man mit dem Handy auch telefonieren kann und das ist, glaube ich, etwas, was ein riesen erster Schritt ist, ja. Und eine der ersten Dinge, die ich gerne in den ersten Monaten auch umsetzen möchte, ist, dass wir auf unserer Landingpage der psychiatrischen Klinik, dass wir da gleich so ein Angebot für einen Chat machen. Das ist, dass Menschen, die denken, wir können ihnen helfen, dass sie sich nicht durchklicken müssen, überlegen müssen, habe ich jetzt eine Angst oder eine Depression oder eine Psychose, und dann klicken sie weiter. Und da gibt es Informationsmaterial, welches ich mir auf 'n PDF durchlesen kann und dann klicken Sie wieder zurück, um zu gucken, an wen Sie sich wenden können und landen dann außerhalb der Sprechzeiten in einer Ambulanz und werden dann am nächsten Morgen verwiesen. Also da möchte ich gerne, dass es da so etwas wie so einen Chat gibt, dass man da niederschwellig nachfragt und sich so ein bisschen durch das interne System leiten lässt und auch niederschwellig Hilfeangebote bekommt.
Stanislawski: Da muss ich gleich 'n kritischen Einwand einbringen. Bei mir ist es immer so, wenn ich online einem Chatbot begegne, mit einem Problem komme, bin ich ziemlich abgeschreckt. Ich hab das Gefühl, da kommen dann generische Antworten auf mein sehr konkretes Problem. Das kann mir ja gar nicht helfen. In einer psychischen Problemlage, das ist ja ein hochkomplexes, sehr individuelles Problem, mit dem die Menschen dann kommen. Da sollen Chatbots helfen?
Bajbouj: Ja gut, dass Sie noch mal kritisch nachfragen, denn was ich nicht möchte, ist, dass schlecht programmierte Chatbots Ärzte, Psychologen, Psychologinnen ersetzen, sondern was ich mit diesen Chats möchte, ist, da sitzen am anderen Ende echte Menschen, die sich im System auskennen und die dann durch dieses System leiten. Und ein wahrscheinlicher Outcome ist bei jemanden, der Hilfe braucht, dass man dann sagt, da gibt es die Möglichkeit, mit jemandem zu sprechen und ich hab Zugriff auf den Kalender und ich kann dir ganz konkret, das ist fast eine verrückte Vorstellung im heutigen System, weil man chattet und kommt nach wenigen Minuten raus mit einem Termin bei einer Expertin oder bei einem Experten. Also das ist, glaube ich, etwas, was aus meiner Sicht nur noch so eine hybride Lösung ist, ja, eine digitale Methode, an denen aber am anderen Ende echte Menschen sind, deren Antworten aber natürlich mit der Zeit auch unterstützt werden durch vorgefertigte Bausteine, die hilfreich sind, und auch Loops, in denen man so ganz basale Dinge wie, ich lerne mal, was eine Depression ist, was ich selber machen kann, auch so argumentiert werden können.
Stanislawski: Es klingt gut, muss ich sagen. Nehmen wir mal ein Beispiel mit rein, eine Gruppe, mit der Sie sich auch schon beschäftigt haben. Also Sie erforschen unter anderem auch, wie die psychische oder psychiatrische Versorgung von Menschen mit Migrations- und Fluchterfahrung verbessert werden kann. Da geht's also mitunter wirklich schwere Trauma, Kriegserfahrungen. Und trotzdem ist gerade für diese Gruppe der Zugang eben zu mentaler Behandlung, zu Hilfe oft besonders schwer. Wieso ist das so?
Bajbouj: Es sind, glaube ich, multiple Barrieren und da kann ich fast anknüpfen an das vorherige Thema. Also stellen Sie sich vor, ein Gedankenexperiment: Sie sind gegenwärtig irgendwo nach China geflohen, ja? Und die Menschen um Sie herum sprechen Mandarin und verhalten sich irgendwie ganz, ganz anders. Und dann haben Sie aber ein Problem und müssen Hilfe suchen. Wüssten Sie, wo in Peking Sie in ein Krankenhaus gehen? Wüssten Sie, ob der chinesische Psychiater, die chinesische Psychologin genau versteht, was Sie da gerade schildern? Das ist etwas, was viele Menschen, die nach Deutschland gekommen sind aus der Ukraine, aus dem Mittleren Osten, häufig erfahren. Und es gibt diese Sprachbarriere, es gibt die Kulturbarriere und es gibt die Informationsbarriere, also drei Barrieren, die überwunden werden müssen. Und es wird häufig mal, manchmal wird so die Analogie zu Menschen in Brandenburg gemacht, wo es ja auch ein sehr, sehr dünnes Versorgungssystem gibt. Und das ist dann aber, wenn man einen internationalen Hintergrund hat, in einer unklar unbekannten Umgebung lebt, noch mal etwas, was anders geartet schwierig ist, aber was eine, ja, dreifache Hürde ist, die es zu überwinden gilt.
Stanislawski: Nehmen wir mal eines der Projekte mit rein, das Sie auch beschäftigt hat in den letzten Jahren. Ich hab das vom Studienprojekt MEHIRA gelesen, wo es ja eben auch den Zugang von geflüchteten Menschen zu psychosozialer Hilfe geht. Welchen Ansatz haben Sie da verfolgt?
Bajbouj: Ja, MEHIRA ist so ein Projekt gewesen. Wir hatten ja im Vorfeld gesprochen über Innovationen, die auch außerhalb von Deutschland geschehen. Da haben wir viele der Gesundheitslösungen, die es im Mittleren und Nahen Osten gibt und die wir dort kennenlernen durften, nach Deutschland gebracht und wir haben die gepackt in so ein gestuftes Gesundheitsmodell. Die Grundidee ist gewesen, wir haben zu wenig Ressourcen und wir müssen diese Ressourcen vernünftig einsetzen. Und nun haben wir das Folgende gemacht: Wir haben am Anfang geschaut, wie gestresst sind Menschen, und haben uns erlaubt, diejenigen, die nur einen niedrigen Stresslevel haben, gar nicht zu behandeln. Ja, da haben wir einfach ein Watchful Rating gemacht. Die, die etwas mehr Stress hatten, die haben dann entweder eine digitale Intervention oder einen Peer-to-Peer-Ansatz bekommen. Also Laien, die trainiert worden sind in der Unterstützung. Die, die noch gestresster gewesen sind, haben Gruppenpsychotherapien bekommen. Und nur ganz wenige, die den höchsten Level hatten an Stress oder Trauma, haben Eins-zu-eins-Behandlung durch Psychotherapeuten und Ärztinnen bekommen. Und das Ganze haben wir verglichen gegen das Routinesystem, was es in Deutschland gibt. Also sie kommen irgendwohin und werden behandelt, was gerade da ist. Und da haben wir dann drei Ergebnisse gehabt: Das Erste ist, dass Menschen viel, viel schneller in die Behandlung gekommen sind. Das Zweite, dass es insgesamt ein gesundheitsökonomisch viel günstigeres Vorgehen war. Also es war insgesamt günstiger, die Ressourcen, die wir verwendet haben. Und zu allem Überfluss, drittens war's auch noch wirkungsvoller, ja. Also die Depression nach diesen Interventionen ist viel, viel schneller runtergegangen als in der Normalbehandlung. Also das ist so in der nut shell, das ist das, was wir in MEHIRA gemacht haben, so ein gestuftes Vorgehen, Ressourcen effektiv einzusetzen, zum Wohle von Patientinnen und Patienten.
Stanislawski: Inwiefern würden Sie sagen, ist dieses gestufte Vorgehen auch anwendbar auf die Gesamtbevölkerung?
Bajbouj: Ich würd's mir wünschen, vor allen Dingen für die Patientinnen und Patienten, dass wir so ein bisschen intelligenter diejenigen priorisieren, die die Behandlung auch am dringendsten benötigen. Ja, und das soll auch kein Vorwurf an die Personen sein, die behandeln, weil wenn ich in meiner Sprechstunde zum Beispiel, ich kriege regelmäßig Anfragen von Personen, die zu mir kommen, gegenwärtig passiert es häufig, dass es einfach chronologisch ist. Die, die kommen, bekommen den Termin, die die vielleicht ein bisschen dringender sind, bekommen einen früheren Termin, aber dass es irgendeinen Test vorab gibt, wo ich sage, wir sortieren das jetzt für mich, für die vielen Sprechstunden, für die ganze Klinik, das gibt's nicht. Und das kann man übertragen aufs Gesundheitssystem. Ich glaub, wenn man an der Stellschraube drehen möchte, wir brauchen mehr Geld im System, da sind wir echt schon an der Grenze, ja. Jeder zehnte Euro geht schon ins Gesundheitssystem. Da können wir nicht unendlich steigern. Aber das, was wir haben, müssen wir echt intelligenter einsetzen. Und ich würd mich freuen, wenn's die Möglichkeit gäbe, dass es irgendwelche Portale gibt, an denen es erste Kontakte gibt, in denen Patienten frühe Beratungen bekommen, was hilfreich ist. Es gibt übrigens andere Länder, in denen das direkt umgesetzt worden ist. Also Ukraine wäre zum Beispiel so ein Land, die ihre Mental-Health-Strategie neu aufgestellt haben und genau so ein gestuftes Vorgehen jetzt etabliert haben.
Stanislawski: Flächendeckend im Land etabliert haben?
Bajbouj: Das ist jetzt die Idee. Also das war, da haben wir in 'nem anderen Projekt, in Solomiya heißt es, das haben wir, sind wir in die glückliche Lage gekommen, dass wir das Gesundheitsministerium beraten durften. Die sind aus einer post-sowjetischen Institutionen gekommen. Die Psychiatrie, da sah aus, wie man sich in Deutschland überhaupt nicht vorstellen kann. Und die haben durch sehr, sehr kluge Entscheidungen gesagt, wir nutzen jetzt den Krieg, besser zu werden. Irgendwie „build back better“ war deren Wort. Also wir bauen jetzt alles, was zerstört ist, neu auf, aber besser als es vorher gewesen ist. Und Olena Selenska hat dann auch die Schirmherrschaft übernommen für die mentale Gesundheit und hat, wir durften ein bisschen beraten, sehr, sehr klug gesagt, eigentlich wär's gut, wenn wir im ganzen Land so Zentren für mentale Gesundheit haben, wo diese frühen Testungen gemacht werden, und von da aus werden dann die Patienten zugewiesen zu den Expertinnen und Experten.
Stanislawski: Es klingt, als hätte man verstanden, wie wichtig mentale Gesundheit ist, grade eben auch in diesen Zeiten in der Ukraine.
Bajbouj: In der Ukraine hat man's verstanden. Also es ist für mich so ein Beispiel, wie ein staatlicher Akteur oder ein Staat das Thema so richtig klug angehen kann und angegangen ist.
Stanislawski: Wir könnten in die Ukraine schauen, uns in Sachen mentaler Gesundheit, Behandlung was abzuschauen.
Bajbouj: Und umgekehrt natürlich auch, aber das ist in meinem Faible für internationale Kooperation und es ist das etwas, was worüber ich immer wieder stolpere, dass viele meiner Kolleginnen und Kollegen, ich sag lieber manche meiner Kolleginnen und Kollegen sagen, ach, wir in Deutschland, wir wissen schon ganz genau, wir wissen, wie es geht und wir haben so viel Expertise. Wir machen das und das Format und bringen das dann den Kolleginnen irgendwo auf der Welt bei. Es ist umgekehrt aber so spannend zu sehen, wie viele tolle Ideen und Konzepte es gibt, von denen wir lernen können. Und ich glaub, das macht dann die mentale Gesundheit für die Welt und für uns ein bisschen besser, wenn wir offen sind für Lösungen aus anderen Ländern.
Stanislawski: Nochmal zurück zum Stichwort psychische Gesundheit auch von Geflüchteten. Es stand ja zuletzt auch im öffentlichen Fokus. Es gab eine Reihe von Angriffen, mutmaßlich eben verübt von Tätern mit Fluchtgeschichte. Und als Reaktion gab es mehrere Verschärfungen der Migrationspolitik. Es war jetzt das Thema der letzten des letzten Bundestagswahlkampf. Was denken Sie vor dem Hintergrund Ihrer Forschung, wenn Sie von diesen Angriffen lesen und auch von der politischen Debatte, die das ausgelöst hat?
Bajbouj: Sie hatten ja im Vorfeld nach Emotionen gefragt, warum die so wichtig sind. Das ist, glaube ich, so ein Beispiel dafür, dass wir in einer sehr, sehr emotionalisierten Debatte gegenwärtig sind. Auch da finde ich's ganz, ganz hilfreich, mal eine Vogelperspektive einzunehmen. Nehmen Sie, stellen Sie sich vor, nehmen Sie die Gruppe der Veteranen, Vietnamveteranen in den USA, und da gibt es einen großen relevanten Anteil, die selber gewalttätig werden. Und da gibt es tolle Forschung zu, welche Bedingungen zusammenkommen müssen: männliches Geschlecht, das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung, Abhängigkeitserkrankungen, ein fehlendes soziales Netz, fehlende Anbindung an Behandlungsmöglichkeiten. Ich könnte das fortführen. Jeder dieser Faktoren alleine ist nicht signifikant, aber wenn man's zusammennimmt, dann steigt das Risiko für Gewalttaten sehr, sehr deutlich. Und jetzt können sie genau diese gleichen Daten für Kindersoldaten in Afrika nehmen und sie können die gleichen Daten für Geflüchtete in Deutschland nehmen. Und das ist dann einfach eine Population, in der es ein erhöhtes Risiko für Gewalttaten gibt. Und dann müsste man natürlich anhand dieser Daten und Inzidenzen, die man hat, überlegen, was sind die Interventionen, die besonders wirkungsvoll sind, um zukünftige Gewalttaten zu verhindern? Ist es besonders, wenn ich's überspitzt formuliere, ist es besonders effektiv für die Personen, die schon da sind, Grenzen zu schließen? Oder sollte man nicht all das, was man weiß und auch an Präventionsprogrammen und Interventionen, die es gibt, sollte man nicht lieber darauf den Fokus setzen? Und das ist so meine Sicht darauf, also da so, dass man sich ein bisschen Komplexität erlaubt und das ist in emotionalisierten Debatten manchmal gar nicht so leicht und das ist, glaube ich, etwas, was niemandem guttut. Also nicht den Menschen, uns allen, die wir in Deutschland leben. Und es tut auch nicht den vielen Geflüchteten gut, die in Deutschland eben nicht gewalttätig sind. Und es tut auch den psychiatrischen Patienten nicht gut, dass es immer dieses öffentliche Junktim gibt, Gewalt und psychische Erkrankung.
Stanislawski: Das sagt Malek Bajbouj. Er ist Einstein-Professor und seit neuestem Leiter der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Charité Berlin unter anderem. Vielen Dank Ihnen für das Interview und für die Einblicke.
Bajbouj: Gerne, vielen Dank.
Stanislawski: Und wie immer auch vielen Dank an Sie, liebe Hörerinnen und Hörer, für das Interesse. Sie können sehr gern diesem Podcast folgen. Sie können auch diese kleine stilisierte Glocke aktivieren, so sieht das aus in vielen Podcastplattformen, dann bekommen Sie sogar eine Benachrichtigung, wenn die nächste Folge online geht. Und natürlich freuen wir uns auch über eine positive Bewertung. Und damit verabschiede ich mich. Mein Name ist Anton Stanislawski und bis zum nächsten Mal.
#AskDifferent, der Podcast der Einstein Stiftung. Warum Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler anders fragen.