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#AskDifferent - der Podcast der Einstein Stiftung

#AskDifferent – der Podcast der Einstein Stiftung
In der Podcast-Reihe #AskDifferent erzählen geförderte und mit der Stiftung verbundene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von den kleinen Schritten und großen Zufällen, die zu einer außergewöhnlichen Laufbahn geführt haben. Wir wollen wissen: Was treibt sie an, anders zu fragen, immer weiter zu fragen und unsere Welt bis ins kleinste Detail zu ergründen?

Affektive Polarisierung – spaltet uns das Fühlen?

Porträt Christian von Scheve
Foto: FUB/Bernd Wannenmacher

#AskDifferent 45 - In Debatten über Klimawandel, Migration oder Krieg prallen nicht nur Meinungen, sondern auch starke Gefühle aufeinander. Ist unsere Gesellschaft deshalb gespalten – oder wirkt es nur so? Der Soziologe Christian von Scheve forscht in der Einstein Research Unit „Coping with Affective Polarization“ zu Emotionen im (politischen) Miteinander. In unserem Podcast erklärt er, was affektive Polarisierung bedeutet, wie sie sich von bloßer Meinungsverschiedenheit unterscheidet und warum Gefühle in Demokratien sowohl verbinden als auch trennen können. Persönliche Begegnungen, so zeigt seine Forschung, könnten ein Schlüssel zur Verständigung sein.

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Intro: Die Möglichkeiten, die eigenen Emotionen mit einer vergleichsweise großen Reichweite auch zum Ausdruck zu bringen und entsprechend auch von vielen, vielen unterschiedlichen anderen Personen mitbekommen kann, was die fühlen und empfinden angesichts bestimmter Themen, das hat dramatisch zugenommen. AskDifferent, der Podcast der Einstein Stiftung. Warum Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler anders fragen. 

Marie Röder: Heute mit Marie Röder. Schön, dass Sie dabei sind. Wenn ich in meinen Social-Media-Feed schaue, bekomme ich oft das Gefühl, unsere Gesellschaft ist gespaltener denn je. Beim Klimawandel, bei der Migration, beim Krieg in Gaza oder der Ukraine. Überall prallen nicht nur Argumente, sondern auch heftige Emotionen aufeinander: Mut, Angst, Trauer, aber auch Empathie. Wir wollen heute fragen, welche Rolle spielen Gefühle in politischen Debatten? Und wie gespalten ist unsere Gesellschaft wirklich? Oder wirkt es eigentlich manchmal nur so? Und darüber spreche ich heute mit dem Soziologen Christian von Scheve. Herzlich willkommen bei AskDifferent. 

Christian von Scheve: Hallo Frau Röder. 

Röder: Bevor wir in dieses Thema einsteigen, will ich Sie unseren Hörerinnen und Hörern noch vorstellen. Sie sind Professor für Soziologie an der Freien Universität Berlin und leiten dort den Arbeitsbereich Soziologie der Emotionen. In der Einstein Research Unit „Coping with Effective Polarization“ gehören Sie zum Sprecher:innen-Team und koordinieren den Forschungsbereich Social Interactions. Was das alles bedeutet, darüber sprechen wir gleich. Und seit vielen Jahren forschen Sie zu den sozialen und kulturellen Grundlagen von Emotionen und aktuell auch dazu, wie Gefühle unser politisches Miteinander prägen. Lassen Sie uns daher direkt einsteigen. Wann wurde Ihnen denn zum ersten Mal klar, dass Gefühle mehr als nur Privatsache sind, dass sie also gesellschaftlich und politisch relevant sind? 

von Scheve: Ja, das ist im Grunde eine der Ausgangsannahmen der soziologischen Emotionsforschung, und darin unterscheidet sie sich so ein bisschen, sagen wir mal, von der psychologischen oder neurowissenschaftlichen Forschung, weil wir uns vor allem dafür interessieren, wie Emotionen eben in sozialen Kontexten entstehen, wie sie durch soziale Strukturen geformt werden oder sich daran orientieren und wie kulturelle Praktiken und Verständnisse von Emotionen auch das Emotionserleben selber formen. Das heißt im Grunde, seit ich angefangen habe, mich wissenschaftlich mit Emotionen zu beschäftigen, war das eigentlich immer ein grundsätzlicher Ausgangspunkt der ganzen Veranstaltung. 

Röder: Und wenn Sie jetzt, also wenn Sie Ihre Forschung betreiben, gibt es dann Emotionen, die Sie besonders antreibt? 

von Scheve: Neugier, würde ich sagen, wenn man das als Emotionen bezeichnen könnte. Ich glaube, ja, das ist, glaube ich, immer so ein Grundantrieb. Aber ja, auch ich glaube, in der Forschung gibt es ja, es gibt sowas wie Überraschungen, es gibt aber auch so Dissonanzempfinden oder ich weiß nicht, man hat irgendwie Daten und hat irgendwie so ein Gespür dafür, dass vielleicht irgendwas nicht stimmen kann. Also ich glaube, das ist sozusagen permanenter Begleiter von Wissenschaft an und für sich. Also nicht nur von der Emotionsforschung, sondern ich glaube, Wissenschaft ist an und für sich, ich würde nicht sagen emotionsgetrieben, aber es ist so diese alte Dichotomie, von der man heute zumindest in der Emotionsforschung gar nicht mehr sprechen würde. Auf der einen Seite so Ratio und Verstand und auf der anderen Seite Emotionen. Das sieht man eben auch an den Wissenschaften selber, dass sich diese Trennung so strikt gar nicht aufrechterhalten lässt.

Röder: Ich habe ja gerade in der Anmoderation schon mit Worten wie affektiver Polarisierung um mich geworfen. Wir wollen mal darauf schauen, was das eigentlich ist. Was heißt affektive Polarisierung? 

von Scheve: Naja, man kann dann vielleicht zunächst mal ausgehen, was heißt oder wann sprechen wir überhaupt von Polarisierung in der Gesellschaft. Angefangen hat diese Forschung, wobei das eigentlich auch gar nicht mein Kerngebiet ist, ist die Emotionsforschung, aber soweit ich das verstehe und überblicken kann, zunächst mal ging es um Fragen von Einstellungspolarisierung oder Meinungspolarisierung. Das heißt, wie gespalten ist eigentlich die Gesellschaft in Bezug auf bestimmte politische Themen und Sachverhalte und Fragestellungen und dass es da ganz unterschiedliche Entwicklungen gibt, auch wenn man sich unterschiedliche Länder anguckt. Also Meinungspolarisierung, Einstellungspolarisierung ist zum Beispiel in den USA deutlich, deutlich ausgeprägter als im deutschsprachigen Raum. Die Befunde hier zeigen das eigentlich gar nicht so. Und davon zu unterscheiden ist aber das, was wir als affektive Polarisierung bezeichnen. Da geht es dann nicht mehr nur um die Frage, wie unterscheiden wir uns eigentlich in unseren Einstellungen und Positionen zu bestimmten politischen Themen und Fragestellungen, sondern wie ist eigentlich unsere emotionale, affektive Haltung gegenüber Menschen, die politisch unserer Meinung sind und vor allem die, die politisch ganz anderer Meinung sind. Und es ist ja keineswegs ausgemachte Sache, dass wir Menschen, die eine ganz unterschiedliche Meinung oder politische Einstellung haben, denen müssen wir ja nicht notwendigerweise auf einer emotionalen Ebene negativ oder gar feindschaftlich gegenüberstehen. Das ist das, was wir uns versuchen anzugucken, wie kommt es eigentlich, dass Meinungsunterschiede oder Einstellungsunterschiede oftmals auch damit einhergehen, dass wir die Menschen, die anderer Ansicht sind, die andere politische Einstellungen haben, auch emotional negativ gegenüberstehen oder ja mitunter ja auch geradezu feindschaftlich gegenüberstehen. 

Röder: Und ist das was, was Sie beobachten? Also Sie haben gerade schon gesagt, in den USA ist diese Polarisierung weitaus fortgeschrittener. Wie steht es denn um die Polarisierung in Deutschland? 

von Scheve: Ich glaube, was man unterscheiden muss, ist, dass wir es mit ganz unterschiedlichen politischen Systemen oder Parteisystemen zu tun haben. Die meiste Forschung in den USA, wo man sozusagen ein Zwei-Parteien-System hat, die meiste Forschung bezieht sich dann auf konservative oder progressive beziehungsweise Demokraten und Republikaner und wie die sich sozusagen einander gegenüberstehen, sowohl was Meinung und Einstellung, aber auch was Affekte und Emotionen betrifft. Und da ist es vergleichsweise ausgeprägt. In Deutschland sieht die Sache etwas anders aus. Ich hatte eingangs schon gesagt, dass sich eine starke Meinungspolarisierung oder Einstellungspolarisierung gar nicht so ohne weiteres zeigen lässt. Und die spannende Frage, an der wir jetzt arbeiten, ist eben, wie verhält es sich eigentlich mit der affektiven Polarisierung? Und was man bisher dazu weiß und was wir jetzt auch in unseren ersten Analysen zeigen können, ist, dass die affektive Polarisierung sich hier weniger um klassische Partei-Identifikation und Parteizugehörigkeiten herum entwickelt, was unter anderem auch daran liegen mag, dass wir es hier mit einem Mehrparteien-System der vergleichsweise differenzierten Parteienlandschaft zu tun haben, sondern sich vielmehr um politische Themen oder Streitsachen herumgruppiert. Zum Beispiel etwas Klassisches wie Klimawandel oder Zuwanderung. Diese Themen sind eigentlich die Punkte, um die herum sich sowas wie nicht nur, also einerseits Meinungsgruppen bilden oder Einstellungsgruppen bilden und auf der anderen Seite aber auch, das zeigen unsere ersten Analysen, sich sowas wie eine affektive Polarisierung zeigt zwischen Gruppen von Personen, die zu diesen bestimmten Themen ganz unterschiedliche Meinungen und Ansichten haben. 

Röder: Und warum ist das so, dass es wirklich bestimmte Themen sind, wie Sie jetzt gerade sagten, Migration oder Klimawandel, die vielleicht mehr emotionalisieren als andere Themen? Gibt es dafür eine Erklärung? 

von Scheve: Also auf der einen Seite ist es sicherlich so, dass natürlich auch bestimmte Themen klassischerweise von bestimmten politischen Parteien aufgegriffen werden und dann irgendwie als zentrale Themen dieser Parteien ausgemacht werden. Im rechten Spektrum ist es vermutlich die AfD, die mit Zuwanderungs- und Migrationspolitik in Verbindung gebracht wird. Auf der linken Seite bei den Grünen ist es sicherlich Klima- und Umweltpolitik. Das heißt, diese Themen sind natürlich nicht, die können wir nicht losgelöst von Parteipolitik und parteipolitischen Zugehörigkeiten betrachten. Dennoch ist es, glaube ich, wichtig, um die affektive Polarisierung um diese Themen herum zu verstehen. Das ist natürlich auch immer jenseits von parteipolitischen Fragestellungen und Positionierungen stark diskursgetriebene Themen sind. Die sind einfach täglich auf der Agenda, in den sozialen Medien, in den einschlägigen Nachrichtensendungen, Seiten, Portalen etc. etc. und werden da entsprechend affektiv und emotional verhandelt und aufgeladen. Und es lässt einfach niemanden kalt, wenn man eine bestimmte Position zu diesem Thema vertritt, dann auch wahrzunehmen, dass Menschen offensichtlich ganz andere Einstellungen und Positionen zu diesen Themen haben und vertreten können. 

Röder: Es gibt ja so diese Annahme, Gefühle können jetzt eigentlich im Grunde nicht falsch sein. Also man hat Gefühle zu bestimmten Themen und die sind nun mal da, aber stimmt das wirklich? Also sind Gefühle grundsätzlich, sag ich mal, gut oder können Gefühle auch vor allem in diesen Debatten negativ sein, wenn sie uns gegeneinander aufbringen? 

von Scheve: Ja, das ist eine gute Frage. Ich glaube, und es ist auch eine schwierige Frage, weil wir natürlich einerseits davon ausgehen würden, dass Emotionen ganz allgemein für uns etwas sind, was uns Wichtigkeit und Relevanz signalisiert. Wir reagieren nicht oder kaum emotional auf Dinge, die uns nicht berühren, die uns nicht wichtig sind, die uns nicht in irgendeiner Art und Weise bewegen. Das heißt, Emotionen sind für Menschen sowas wie ein Relevanz-Taktgeber. Sie zeigen uns an, was in der Umwelt ist eigentlich wichtig für uns, worum machen wir uns einen Kopf, was interessiert uns. Auf der anderen Seite hängen natürlich diese Arten, wie Emotionen entstehen und wie wir emotional auf bestimmte Fragen oder Gegenstände oder Sachverhältnisse reagieren, auch immer davon ab, wie reagieren zum Beispiel andere Menschen in unserem Umfeld auf diese Geschichten? Welche Informationen stehen uns eigentlich zur Verfügung? Welche Informationen werden besonders salient gemacht, also stechen besonders hervor? Wie werden Dinge eigentlich interpretiert? Wie werden sie geframed? Wie werden sie gedeutet? Das sind Sachen, die wir ja nicht stets und immer selbst vornehmen, sondern zum Beispiel durch die Medien, durch Freunde, durch Bekannte sind wir auch immer mit Einschätzungsvorlagen oder Interpretationslagen konfrontiert. So und so sollten wir das sehen und so und so ist die eigentliche Sachlage. Und das formatiert und prägt natürlich auch die Emotionen, die wir dann mit Blick auf diese Umstände empfinden. Das soweit, so gut. Und ich glaube, was wir auch in Rechnung stellen müssen immer und das ist natürlich auch ein Kerngeschäft von Politik, dass Politik immer das Geschäft betreibt, diese Themen für die eigene politische Partei oder Gruppierung auch auf einer emotionalen Ebene nutzbar zu machen. Man könnte vielleicht sogar von einem politischen Emotionsunternehmertum sprechen, weil man natürlich weiß, dass eine ähnliche emotionale Reaktionsweise oder Wahrnehmung von bestimmten politischen Themen eben sowas wie Gegnerschaft, aber auch Zugehörigkeit erzeugt. Und das ist natürlich ein Kerninteresse von politischen Akteuren. 

Röder: Und wir wollen natürlich auch über die Folgen von affektiver Polarisierung sprechen. Was macht es denn mit unserer Gesellschaft, wenn sich dieses Verhältnis von wir und die anderen zunehmend auseinander bewegt? 

von Scheve: Ich glaube, und das ist ja auch eine der Grundausgangspunkte der Forschung, die wir gerade in unserer Einstein Research Unit betreiben, der Hintergrund, vor dem man das Ganze betrachten muss, ist natürlich ein bestimmtes Verständnis von Demokratie, was auf Konsens, was auf Verständigung, auf Deliberation, auf Diskussionen, auf Debatten aufbaut. Das heißt, das Miteinander sprechen, das Aufeinander zugehen, Positionen auszutauschen, Kompromisse zu finden etc. etc. Wenn man das annimmt als einen sozusagen Grundpfeiler von liberal-demokratisch verfassten Gesellschaften, dann kann man die Frage stellen, inwiefern nicht nur affektive Polarisierung, aber vielleicht auch Meinungs- und Einstellungspolarisierung genau diese Prinzipien irgendwie untergraben oder verhindern oder schwieriger machen können. Und gerade bei affektiver Polarisierung, die steht immer im Verdacht und da gibt es mittlerweile ja auch recht viel Evidenz für, dass sobald ich den Eindruck habe, den Personen, die politisch eine andere Meinung haben, irgendwie feindschaftlich gegenüberzustehen, ich will mit denen vielleicht nicht mehr im selben Sportverein sein, ich will nicht mehr in meiner Kneipe um die Ecke mit denen abends ein Bier trinken, ich will mich nicht mehr austauschen, ich will mich nicht mehr unterhalten. Ich glaube, dann kann es für diese Prinzipien von demokratisch verfassten Gesellschaften problematisch werden oder zumindest zu einer Herausforderung werden, die man im Blick haben muss. 

Röder: Und andersherum könnte man ja auch argumentieren und sagen Sie mir, ob das so stimmt oder nicht. Polarisierung könnte ja auch positive Seiten haben, weil sie irgendwie durch diese starken Emotionen auch ein Engagement und Solidarität halt in dieser Wir-Gruppe hervorrufen, oder? 

von Scheve: Ja, genau. Also ich glaube, das ist, wenn wir uns mal, oh Gott, vielleicht so 20, 30 Jahre zurückerinnern. So in meiner Jugendzeit, da war das große Lamento immer sowas wie Politikverdrossenheit. Niemand interessiert sich mehr für Politik, alle sind irgendwie apathisch und keiner brennt mehr für irgendeine Sache. Das wollte niemand, das war ein Riesenproblem. Ja, heutzutage könnte man sagen, ist das Gegenteil der Fall. Und ich glaube, wir müssen differenzieren. Also auf der einen Seite ist es, glaube ich, eine gute, normale, wünschenswerte Geschichte, dass Menschen, die sich politisch engagieren oder die politisch interessiert sind, natürlich emotional auf bestimmte Themen reagieren. Ich glaube, das ist der Antrieb, um politisch aktiv zu werden, um sich einer sozialen Bewegung anzuschließen, um auf die Straße zu gehen und zu protestieren oder auch einfach um parteipolitisch aktiv zu werden. Daran ist nichts auszusetzen und ich glaube, das braucht es und das ist eine Grundvoraussetzung für politisches Engagement. Ich kann mir unter Umständen auch vorstellen, dass bestimmte Formen von affektiver Polarisierung sicher auch fruchtbar und unproblematisch sind. Ich glaube zum Beispiel, dass, ich weiß nicht, wir haben vielleicht Gruppen in der Gesellschaft, wo irgendwie klar ist, dass die sich gegen eine freiheitlich-liberale Grundordnung stellen und dann würde man wahrscheinlich sagen, naja, also wenn ich einer solchen Gruppe oder Mitgliedern einer solchen Gruppe negativ gegenüber eingestellt bin, möglicherweise sogar vielleicht so ein bisschen feindschaftlich gegenüber, dann naja, das ist so aus einer demokratischen Perspektive, muss das nichts Schlechtes sein. Wir müssen uns nicht immer alle gut verstehen und es muss nicht immer eitel Sonnenschein sein, und Konflikt gehört zur Politik oder auch zu demokratisch verfassten Gesellschaften, gehört einfach dazu. Und das ist sozusagen auch eine Voraussetzung dafür, um zum Beispiel, wenn wir uns mit sozialer Ungleichheit befassen oder mit Ungerechtigkeit etc. etc. Natürlich sind Emotionen ein starker Antriebsmotor, um sich hier zum Beispiel gegen Missstände aufzulehnen oder zu protestieren. Das macht es, glaube ich, auch so schwierig, überhaupt auszutarieren, wo man sagt, okay, jetzt haben wir einen Punkt erreicht, wo diese Art von Emotionalität zu Verhärtungen in sozialen Relationen zwischen Gruppen in der Gesellschaft führt, wo man vielleicht auch gar nicht mehr in der Lage ist, Menschen als Menschen wahrzunehmen und ihnen als Menschen gegenüberzutreten, sondern wir nehmen die anderen nur noch als Elemente einer sozialen oder politischen Kategorie wahr. Mein Gegenüber zählt dann nur noch als jemand, der oder die dieser und jener Gruppierung anhängt oder diese und jene Position vertritt. Und wir verlieren vielleicht so ein bisschen das Gefühl, die Menschen hinter diesen Positionen und die Menschen jenseits dieser Kategorien zu sehen. Ich glaube, dann fängt es an, ein bisschen schwierig zu werden. 

Röder: Sie arbeiten in dieser Gruppe ja auch an einem Interventionslabor. Darüber wollen wir aber gleich sprechen. Ich würde vorher noch mal kurz auf die Forschung und die Methoden blicken, die Sie da nutzen. Ich habe da von einem Berliner Polarisierungsmonitor gelesen. Was ist das und wie kann man überhaupt gesellschaftliche Emotionen messen? 

von Scheve: Genau, dieser Berliner Polarisierungsmonitor hat zunächst mal prinzipiell nichts mit dieser Idee von Interventionen zu tun. Das sind zwei unterschiedliche Geschichten. Mit diesem Monitor versuchen wir einfach über einen längeren Zeitraum, das ist eine Panelstudie, das heißt, wir befragen über einen vergleichsweise langen Zeitraum immer wieder dieselben Personen und messen dann sowas wie Standardsoziodemografie, das gehört in den Sozialwissenschaften immer dazu, aber eben auch ganz unterschiedliche Indikatoren, die uns Aussagen über Einstellungs- und Meinungspolarisierung und affektive Polarisierung erlauben. Und was wir damit versuchen wollen zu erreichen, ist einfach zunächst mal in beschreibender Hinsicht eine Kartografie oder eine Bestandsaufnahme, wie es um affektive Polarisierung in Deutschland steht und dann auch besser verstehen zu können, mittel- und langfristig, wie volatil ist eigentlich so eine affektive Polarisierung. Wir kennen das von Emotionen, das sind vergleichsweise vorübergehende Zustände. Wenn wir Emotionen haben, dann sprechen wir davon, dass wir die vielleicht über Minuten oder Stunden, aber nicht über Tage oder Jahre haben. Das wären dann irgendwie so, vielleicht so Stimmungen oder die emotionalen Komponenten von Einstellungen. Und was wir hier versuchen zu zeigen oder der Frage nachzugehen ist, worauf reagiert eigentlich affektive Polarisierung? Was ist es eigentlich, das affektive Polarisierung antreibt? Welche Kontexte, welche Situationen, welche Ereignisse verändern eigentlich bestehende Polarisierungsmuster in der Gesellschaft? Das und noch andere Sachen versuchen wir mit diesem Monitor zu machen, der eben auf längere Frist und auf Kontinuität ausgelegt ist und das gibt es bislang kaum. 

Röder: Also in Ihrem Teilprojekt schauen Sie ja auf soziale Interaktionen. Welche Rolle spielen Mimik, Gestik und nonverbale Signale? Können Sie uns dazu noch ein bisschen was erklären? 

von Scheve: Genau, die Idee, dass wir uns soziale Interaktionen gewissermaßen im Vollzug anschauen, geht so ein bisschen zurück auf, gerade also wenn es um affektive Polarisierung, wenn es auch um sowas wie einen zurückgehenden sozialen und gesellschaftlichen Zusammenhalt geht, gibt es mitunter immer diese Idee, naja das liegt unter anderem auch daran, dass es offensichtlich weniger Räume, weniger Gelegenheiten gibt, an denen Menschen mit ganz unterschiedlichen politischen Einstellungen zusammenkommen und vielleicht auch Dinge jenseits der Politik machen. Also ja, der sprichwörtliche Stammtisch und das Stammtischgespräch ist ein so ein Punkt, aber genau so geht es natürlich um Sportvereine, um zivilgesellschaftliche Organisationen. Und das ist natürlich, ja das hat ja fast so eine leicht romantische Vorstellung. Also wir müssen die Leute nur mehr wieder zusammenbringen, auch wenn die unterschiedlicher politischer Meinung sind, und dann klappt es schon. Ja, also dann treten die in einen Austausch, dann sprechen die miteinander und dann sehen die vielleicht auch, naja, obwohl jetzt die andere Person eine ganz unterschiedliche Meinung hat, was politische Themen angeht, wir kommen irgendwie trotzdem klar und das ist auch schon okay, dass es diese unterschiedlichen Meinungen gibt. Wir versuchen dazu Gesprächssituationen im Labor nachzustellen, in denen wir Menschen mit unterschiedlichen Positionen zusammenbringen und messen dann die Mimikry, also wie sehr neigen die Gesprächspartnerinnen und Partner zum Beispiel dazu, den emotionalen Zustand des Gegenübers zu imitieren. Das sind dann immer Indikatoren für uns für so etwas wie eine Verständigung auf einer Art nonverbaler Ebene. Und was wir uns anschauen ist, ob sozusagen diese nonverbalen Interaktions- und Verhaltensweisen tatsächlich etwas damit zu tun haben, wie die Interaktionsqualität wahrgenommen wird, ob man den oder die Interaktionspartnerin mag oder nicht mag und zwar jenseits jeder politischen Differenz in den Themen, über die man sich unterhält. 

Röder: Und zu welchem Ergebnis kommen Sie da? Glauben Sie, dass persönliche Begegnungen zwischen politisch Andersdenkenden so eine Brücke schlagen kann? 

von Scheve: Ja, ich meine, das ist eine Ausgangshypothese unserer Arbeit, weil das kennen wir aus unterschiedlichen sozialpsychologischen, aber auch soziologischen Theorien, dass sozusagen das Zusammenkommen in sozialen Interaktionen, in Face-to-Face-Kontexten tatsächlich ja auch ganz andere Modalitäten bedient, die sozusagen auch eine Verständigung auf einer nonverbalen, vielleicht körperlich-emotional-affektiven Ebene erlauben kann oder eben auch nicht. Aber das gilt es zu testen, und ich glaube, das andere Extrem, was man sich ja anschauen kann, sind Konversationen oder Diskussionen, wie sie zum Beispiel manchmal auf WhatsApp stattfinden. Das kennt jeder, der schon mal in einer WhatsApp-Gruppe war, wo Sachen völlig schiefgehen können, wo man im Nachhinein das Gefühl hat, ach Mensch, wenn wir jetzt irgendwie am Tisch gesessen hätten und das ausdiskutiert hätten, dann wäre das sicherlich nicht so den Bach runtergegangen, wie es jetzt passiert ist, weil einfach bestimmte für die Verständigung wichtige Modalitäten dann fehlen können. Und das ist halt ein Ausgangspunkt, eine Ausgangsthese dieser Studien. 

Röder: Sie sprechen da gerade schon die sozialen Medien an. Die habe ich ja eingangs auch schon erwähnt. Da stellt sich mir natürlich die Frage, ist es tatsächlich so, dass die Wirkung dieser sozialen Medien dazu führt, dass die affektive Polarisierung stärker geworden ist oder kann man das überhaupt sagen? Ist unsere Gesellschaft heute polarisierter als früher? 

von Scheve: Also was die affektive Polarisierung angeht, fehlen uns dafür einfach die Daten. Das ist glaube ich ganz, ganz schwer zu sagen. Für Deutschland, was so Meinungs- und Einstellungspolarisierung angeht, scheint es nicht unbedingt der Fall zu sein. Was so grundsätzliche Emotionalität angeht, wir hatten uns kürzlich mal Daten des sozioökonomischen Panels angeschaut, wo Menschen nach der Häufigkeit des Erlebens von bestimmten Emotionen gefragt werden. Ich glaube, das sind Angst, Ärger, Trauer und Freude. Und wir sehen sozusagen im Zeitverlauf, ja hin und wieder gibt es mal so leichte Konjunkturen, aber was wir zum Beispiel nicht feststellen, ist jetzt irgendwie eine deutliche Zunahme des Empfindens von Emotionen über die Zeit hinweg gegeben hat. Ich glaube, was man aber sieht, ist, dass einfach die Möglichkeiten, die eigenen Emotionen zum Ausdruck zu bringen und zwar mit einer vergleichsweise großen Reichweite auch zum Ausdruck zu bringen und entsprechend auch von vielen, vielen unterschiedlichen anderen Personen mitbekommen kann, was die fühlen und empfinden angesichts bestimmter Themen. Ich glaube, das hat dramatisch zugenommen. Und dass das Auswirkungen oder Konsequenzen auch für die Wahrnehmung nicht nur von Individuen in der Gesellschaft, sondern auch von Gruppen in der Gesellschaft hat, insbesondere von politischen Gruppen, das scheint mir vergleichsweise evident zu sein.

Röder: Ich will Ihnen noch zum Schluss eine Frage stellen, die so ein bisschen in die Zukunft blickt. Gibt es etwas, was Ihnen Hoffnung macht, dass wir vielleicht in zehn, 15 Jahren besser mit affektiver Polarisierung in unserer Gesellschaft umgehen können? 

von Scheve: Ja, ich glaube, was wahrscheinlich schon hilft, damit umzugehen, ist, wenn wir das Phänomen besser verstehen lernen. Das heißt, ich glaube einfach, dass Forschung zu diesem Thema wahnsinnig wichtig ist. Nicht, weil wir als Forschende damit irgendwie eine Richtung vorgeben oder sagen, das ist gut oder das ist schlecht, sondern einfach, um politische Akteure, zivilgesellschaftliche Akteure einfach zu informieren über die Beschaffenheit dieses Phänomens, über die Mechanismen, die diesem Phänomen zugrunde liegen, um dann damit die Voraussetzungen zu schaffen, dass man entsprechend damit umgehen kann und eben auch das im Hinterkopf behält, was Sie vorhin angesprochen haben, dass nicht jede Form von Polarisierung irgendwie, sagen wir mal, aus demokratietheoretischer Sicht eine schlechte oder etwas Schlechtes sein muss, sondern dass es natürlich auch produktive Seiten haben kann und auch solche Sachen nicht zu vergessen in diesen Debatten. 

Röder: Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben, uns einen Einblick zu geben in Ihre Forschung. 

von Scheve: Vielen Dank für die Gelegenheit.

Röder: Und danke an alle unsere Hörerinnen und Hörer. Wenn Ihnen dieser Podcast gefällt, teilen Sie und bewerten Sie ihn gerne. Mein Name ist Marie Röder und ich freue mich schon auf das nächste Mal bei AskDifferent. AskDifferent, der Podcast der Einstein-Stiftung. Warum Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler anders fragen.