Berliner Chronik

Wie in Berlin mit Spaten und philologischer Gründlichkeit die modernen Altertumswissenschaften erfunden wurden

 

1807. Friedrich August Wolfs „Darstellung der Alterthums-Wissenschaft” erscheint, ein Gründungsdokument der jungen Disziplin. In seiner Schrift findet sich eine seitenlange Fußnote mit einem Text Wilhelm von Humboldts, der den Hallenser Philologen kurz darauf nach Berlin holt.

1810. Aloys Hirt wird erster ordentlicher Professor für Klassische Archäologie an der 1809 gegründeten Berliner Universität, August Boeckh übernimmt den Lehrstuhl für Philologie und Friedrich August Wolf den für Klassische Philologie. Von Anfang an besteht in den Berliner Altertumswissenschaften eine enge personelle Verflechtung zwischen Universität, den Königlichen Museen und der Preußischen Akademie der Wissenschaften.

1815. Unter dem Philologen August Boeckh beginnt die Preußische Akademie der Wissenschaften griechische Inschriften zu erschließen. Das Corpus Inscriptionum Graecarum ist eines der größten Projekte geisteswissenschaftlicher Grundlagenforschung. Es wird bis heute fortgeführt.

1842. Carl Richard Lepsius bricht zu einer dreijährigen Ägypten- Expedition auf, die Maßstäbe in der Ausgrabungspraxis setzen wird. Er bringt 1500 altägyptische Originale nach Berlin sowie viele Zeichnungen und Gipsabdrücke. Der Begründer der Ägyptologie an der Berliner Universität wird 1855 Direktor des Ägyptischen Museums.

1852. Ernst Curtius wirbt am 10. Januar mit einem Vortrag für die Ausgrabung des antiken Olympias in Griechenland. Die Grabung könne die griechische Kultur „mit dem Spaten” in allen Facetten aufdecken. Die Expedition startet jedoch erst 1875 – nach der Reichsgründung und mit nationaler Unterstützung Curtius leitet sie von Berlin aus, wo er als Nachfolger von Eduard Gerhard den Lehrstuhl für Klassische Archäologie innehat.

1854. Der erste Band der „Römischen Geschichte” von Theodor Mommsen erscheint. 1902 erhält der Althistoriker für das mehrbändige Werk den Literaturnobelpreis. Mommsen führt in den Berliner Altertumswissenschaften die arbeitsteilige Großforschung ein. Es entstehen umfangreiche Datensammlungen, etwa Abdrücke von Münzen in Siegellack. Das historische Wissen über die Antike wächst durch die neue Art der Forschung enorm.

1878. Alexander Conze, der Direktor der Antikensammlung und spätere Generalsekretär des DAI, bewilligt die erste große Pergamon- Grabung. Der Straßenbauunternehmer Carl Humann hatte zuvor jahrelang versucht, Behörden und Fachleute in Berlin von der Bedeutung des Ortes zu überzeugen. Sein größter Fund ist der Pergamonaltar, der in Berlin ein eigenes Museum erhält – das erste Pergamonmuseum.

1898. Die Deutsche Orient-Gesellschaft wird gegründet. Sie ermöglicht bedeutende Ausgrabungen wie die des antiken Babylons, die 1899 unter dem Bauforscher und Archäologen Robert Koldewey beginnt. Auf der Grabung kommt neueste Technik zum Einsatz, unter anderem fotografische Dokumentation. Ein wichtiger Fund ist das Ischtar-Tor, das 1903 nach Berlin verschifft wird.

1881. Heinrich Schliemann wird Ehrenbürger Berlins und schenkt, vermittelt durch seinen Freund, den Mediziner Rudolf Virchow, den Königlichen Museen seine Sammlung trojanischer Altertümer. Der Autodidakt und Medienstar ist eingesessenen Berliner Altertumswissenschaftlern suspekt. Theodor Fontane hat diesem Konflikt zwischen Altphilologie, Alter Geschichte und praktischer Archäologie in „Frau Jenny Treibel” (1892) ein literarisches Denkmal gesetzt.

1902. Gustaf Kossinna erhält die erste Professur für Prähistorische Archäologie in Deutschland, sein Schwerpunkt ist die Germanenforschung. Unter seinen Nachfolgern wird die Forschung zunehmend vom völkischen Denken dominiert. Im Nationalsozialismus ist das Fach, wie alle altertumswissenschaftlichen Disziplinen, tief in die NS-Ideologie verstrickt. Die Verwerfungen führen unter anderem dazu, dass der Leiter des Märkischen Museums nach dem Krieg verbliebene Stücke der Sammlung zur Ur- und Frühgeschichte des Museums weggibt.

1948. Friedrich Wilhelm Goethert, Professor für Klassische Archäologie, wechselt von der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität, die ab 1949 Humboldt-Universität zu Berlin heißt, an die neu gegründete Freie Universität Berlin, an der die Altertumswissenschaften zu den grundlegenden Fächern zählen. 1952 wird die kostbare Bibliothek des Winckelmann-Instituts, die während des Zweiten Weltkriegs nach Niedersachsen evakuiert worden war, nach Berlin zurückgebracht. Sie gilt als eine der umfangreichsten Fachbibliotheken der Klassischen Archäologie.

1969. Der erst 37-jährige Ur- und Frühgeschichtler Joachim Herrmann wird Direktor des neuen Zentralinstituts für Alte Geschichte und Archäologie an der Akademie der Wissenschaften der DDR. Forschung wird in der DDR zunehmend an außeruniversitäre Akademien verlagert. Gräzist und Byzantinist Johannes Irmscher, Leiter des Instituts für Griechisch-Römische Altertumskunde, versucht Altertumswissenschaften und Marxismus in Einklang zu bringen und setzt umfangreiche Editionsprojekte wie das Corpus Inscriptionum Graecarum fort.

1988. Die restaurierte Abguss-Sammlung Antiker Plastik, die in den 1950er Jahren durch einen Wassereinbruch stark beschädigt wurde, wird in Berlin-Charlottenburg eröffnet.

1995. Nach dem Zerfall der Sowjetunion entsteht am DAI die Eurasien-Abteilung. Auch die frühen eurasischen Steppenkulturen werden jetzt systematisch in die prähistorische Forschung einbezogen. Unter Gründungsdirektor Hermann Parzinger – der 2003 Präsident des DAI und 2008 Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz wird – entwickelt sie sich zu einer weltweit einzigartigen Einrichtung.

2007. Mit der Bewilligung des Exzellenzclusters Topoi der Freien Universität und der Humboldt-Universität entsteht ein altertumswissenschaftliches Großforschungsprojekt in Berlin, das Philologien, Philosophie, Alte Geschichte und Archäologie zu den Themen „Raum” und „Wissen” zusammenführt. Die Sprecher sind Christoph Rapp, Professor für Philosophie der Antike und Gegenwart an der Humboldt-Universität, und die Professorin für Klassische Archäologie an der Freien Universität, Friederike Fless, die 2011 auch zur ersten Präsidentin des Deutschen Archäologischen Instituts ernannt wird. Mit den Geowissenschaften sind auch die Naturwissenschaften im Cluster vertreten.

2011. Das Berliner Antike-Kolleg setzt die interdisziplinäre Zusammenarbeit des Exzellenzclusters Topoi in Berlin fort.

2019. Das Einstein-Zentrum Chronoi wird seine Arbeit aufnehmen. Die beteiligten Wissenschaftler beschäftigen sich darin mit dem Thema Zeit und Zeitwahrnehmung. Sie kommen aus den Altertumswissenschaften, aus Sozial-, Natur- und Lebenswissenschaften. Die Einstein Stiftung Berlin fördert das Zentrum über sieben Jahre mit bis zu 8 Millionen Euro.

Text: Nina Diezemann