Ein Blick

Berlin zählt heute zu den interessantesten Forschungsstandorten der Welt. Dabei hatte die ehemals geteilte Stadt viel aufzuholen. Die Einstein Stiftung  hat das Wiedererwachen in den letzten zehn Jahren mitgeprägt.

„Berlin war eine fantastische Stadt für Studierende aus aller Welt. Sie kamen hierher, um zu lernen und um das Leben zu genießen. Aber Wissenschaftler haben sich vor zehn, fünfzehn Jahren noch gut überlegt, ob sie nicht lieber nach Oxford, Cambridge oder Harvard gehen.“ Es ist ein wohlwollender, aber differenzierter Blick, den Menahem Ben-Sasson sich als Mitglied des Stiftungsrats der Einstein Stiftung auf die deutsche Hauptstadt bewahrt hat. Der Kanzler und vormalige Präsident der Hebräischen Universität von Jerusalem kennt den Wissenschaftsstandort gut, seine Universität unterhält seit Jahrzehnten Kooperationen mit Berliner Einrichtungen. International in der ersten Liga hätte er Berlin in den Jahren nach der Wiedervereinigung nicht unbedingt gesehen. „Die Stadt hatte unglaublich viel Potenzial, aber es wurde nicht genutzt.“ Zwar bestach Berlin durch die außergewöhnliche Dichte hervorragender Wissenschaftseinrichtungen mit langer Tradition. Aber nach dem Fall der Mauer war ihr Umgang miteinander eher durch Konkurrenzdenken bestimmt als durch den Willen zu vertrauensvoller Zusammenarbeit. „Dann aber passierte etwas Einmaliges“, sagt Menahem Ben-Sasson. „Innerhalb weniger Jahre setzte sich ein starker politischer Wille zur Zusammenarbeit durch.“

Heute sei Berlin weltweit die einzige Stadt, in der wirklich alle wissenschaftlichen Institutionen zusammenarbeiten. Die vier Universitäten, die Charité, die außeruniversitären Wissenschaftsorganisationen, die Museen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz: „Jede Einrichtung hat ihre eigene DNS“, sagt Ben-Sasson. „Und es zu schaffen, dass alle zusammenarbeiten, war eigentlich eine unmögliche Aufgabe.“ Was möglich wird, wenn Berlin sein Potenzial tatsächlich ausschöpft, das hat zuletzt der Förderatlas der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) sichtbar gemacht. Dieser Report gibt eine Übersicht über die Drittmittelförderungen der DFG, des Bundes und der Europäischen Union sowie über Personenförderungen der Alexander von Humboldt-Stiftung, des Deutschen Akademischen Austauschdienstes und des European Research Council. 

Der Förderatlas 2018 bescheinigt der Hauptstadt den Spitzenplatz unter den deutschen Wissenschaftsstandorten.

Nirgendwo sonst seien zwischen 2014 und 2016 so viele Fördergelder eingeworben worden. Diese Gelder stehen auch für die hohe Qualität der Berliner Forschungsvorhaben – und für ihre erfolgreiche Vernetzung untereinander und mit ausländischen Partnern. Der nächste logische Schritt ist nun, Berlin unter die besten zehn Forschungsstandorte der Welt zu befördern. Der Mann, der das Unmögliche in den Bereich des Möglichen gerückt hat, ist Jürgen Zöllner. Er war von 1991 bis 2006 Bildungs- und Wissenschaftsminister in Rheinland-Pfalz und dort auch stellvertretender Ministerpräsident. „Es hat viele überrascht, dass ich aus dieser Position nach Berlin gehe. Mich hat dieser Wissenschaftsstandort gereizt, an dem wie nirgendwo sonst in Deutschland in allen Wissenschaftsdisziplinen Bereiche mit absoluter Exzellenz zu finden sind.“ Zöllner knüpfte seinen Umzug in die Hauptstadt an eine Bedingung: mehr Geld für die Förderung exzellenter Wissenschaft. Die Ressourcen bekam der neue Wissenschaftssenator, das Vertrauen der Entscheider musste er sich erarbeiten. „Ich habe die Ängste der Universitätsleitungen nach den Umstrukturierungen in den Jahren seit der Wiedervereinigung unterschätzt“, sagt Zöllner. Jürgen Zöllner ist einer der geistigen Väter der Einstein Stiftung Berlin, viele bezeichnen die Stiftung sogar als sein „Kind“. Es bekam einen großen Namenspaten. Die Hebräische Universität von Jerusalem, die seit 1982 den Nachlass Albert Einsteins verwaltet, stimmte zu, dass die geplante Stiftung zur Förderung der Berliner Wissenschaften den Namen des Nobelpreisträgers für Physik erhält. Und wie ein Pate am Wachsen und Reifen eines Kindes teilnimmt, so ist auch die Hebräische Universität als exklusiver internationaler Partner seither eng in die Stiftung eingebunden. Sie kann als einziger internationaler Kooperationspartner der Berliner Universitäten Fördermittel empfangen und entsendet Vertreter in den Stiftungsrat.

Gegründet wurde die Einstein Stiftung schließlich am 11. Mai 2009 mit einem Stiftungskapital von fünf Millionen Euro. Seither fördert sie mit Zuwendungen des Landes und privaten Mitteln Wissenschaft und Forschung in Berlin auf internationalem Spitzenniveau. Sie unterstützt mit ihren Programmen Personen, Projekte und Strukturen, stärkt interdisziplinäre und institutionenübergreifende Zusammenarbeit und ermöglicht durch mittlerweile sechs Einstein-Zentren Perspektiven und Entwicklungsräume für berlinweite Forschungsverbünde – in den Bereichen Katalyse, Mathematik, Neurowissenschaften, Altertumswissenschaften, Digitale Zukunft und Regenerative Therapien. Jürgen Zöllner hebt das 2014 gegründete Einstein-Zentrum Mathematik als Musterbeispiel hervor. Der Vorgänger, das Zentrum für angewandte Mathematikforschung Matheon, war 2002 gegründet worden, doch die DFG konnte das erfolgreiche Programm höchstens zwölf Jahre fördern. „Es bestand die Gefahr, dass sich die exzellenten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in alle Winde zerstreuen. Die Einstein Stiftung hielt das Zentrum und seine Kreativität am Leben“, so Zöllner. 

Heute ist Berlin in der angewandten Mathematik in einer Spitzenposition.

Die fünf mathematischen Institute an den Universitäten, dem Weierstraß-Institut und dem Zuse-Institut arbeiten so eng zusammen, dass weltweit mittlerweile von „der Berliner Mathematik“ gesprochen wird. Der in der aktuellen Runde der Exzellenzstrategie bewilligte Exzellenzcluster „Math+“ wird die Berliner Kooperation weiter festigen und mit dem Fokus auf anwendungsbezogene Mathematik in die Zukunft tragen. Die Mathematiker sind keine Ausnahme, insgesamt konnte Berlin mit sieben Clusteranträgen überzeugen, von Katalyse bis Literaturwissenschaften. Doch nicht nur einzelne Disziplinen, auch die drei Berliner Universitäten und die Charité als solche treten im Wettbewerb um die Mittel der dritten Exzellenzinitiative als übergreifende Allianz an, statt jeweils einzelne Anträge einzureichen und im Rennen um die Förderung und das Prestige einer „Exzellenzuniversität“ miteinander zu konkurrieren. Die Entscheidung, ob der Universitätsverbund für sieben Jahre gefördert wird, fällt im Sommer 2019. Zöllner sieht in der gemeinsamen Exzellenzbewerbung einen Kulturwandel: „Noch vor zehn Jahren wären die Universitäten vor dem Risiko zurückgeschreckt, dass jede einzelne von ihnen in einer solchen Allianz öffentliche Aufmerksamkeit verlieren könnte.“

Menahem Ben-Sasson sieht auch am Beispiel der Berliner Kooperationsprojekte der Hebräischen Universität, welche Erfolge möglich sind, wenn die Universitäten mithilfe der Einstein Stiftung ihre Kräfte bündeln. Im internationalen Graduiertenkolleg „Human Rights under Pressure“ beispielsweise forschen seit 2014 junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen zu Menschenrechtsfragen. „Mittlerweile ist das Programm ein weltweites Vorbild für die Sozialwissenschaften“. „Das Besondere an der Einstein Stiftung ist die Flexibilität ihrer Förderformate“, sagt Jürgen Zöllner. Die Stiftung könne ohne großen Verwaltungsaufwand mit transparenten Entscheidungen dort unterstützen, wo sie die größte Wirkung entfalten. Bei der Berufung des chinesischen Künstlers Ai Weiwei zum Einstein-Gastprofessor an die Universität der Künste etwa habe sich diese Flexibilität besonders eindrücklich gezeigt. „Ohne die Einstein Stiftung wäre Ai Weiwei nie nach Berlin gekommen“, sagt Zöllner. „Denn nach klassisch wissenschaftlichen Richtlinien ist ein Künstler natürlich nicht förderbar. Ai Weiwei kann man nicht nach der Anzahl seiner Zitationen bewerten, er hat keinen Hirsch-Index.“ Die Gastprofessur endet nach diesem Semester, doch Ai Weiwei hat bereits angekündigt, dass Berlin immer seine Basis in Europa bleiben werde. Damit ist der außergewöhnliche Künstler ein durchaus typischer Einstein-Alumnus. 

Auch andere ehemalige Einstein-Professoren und -Fellows blieben langfristig in Berlin, ...

... während es früher für Gastprofessoren üblich war, die Stadt nach ein, zwei Jahren wieder zu verlassen, sagt Menahem Ben-Sasson. „Die Einstein Stiftung bietet ihnen einen akademischen Anker.“ Ein sicherer Ankerplatz ist Berlin auch für bedrohte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Die Einstein Stiftung unterstützt seit diesem Jahr exzellente Akademikerinnen und Akademiker, die zur Flucht gezwungen wurden oder aus Staaten kommen, in denen die Freiheit der Wissenschaft stark eingeschränkt ist. Dazu hat sie zwei neue Programme aufgelegt: die Gastprofessuren und die Junior Scholarships zur Förderung der Wissenschaftsfreiheit. Zwanzig in ihrer Freiheit bedrohte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus dem Iran, aus Syrien, der Türkei und anderen Ländern können an den Berliner Universitäten und der Charité ihre Forschungen weiterführen. 

Für Menahem Ben-Sasson erfüllt sich so auch ein zentrales Vermächtnis Albert Einsteins. Der Physiker war in Deutschland bereits vor 1933 heftig angefeindet worden und blieb nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten freiwillig im amerikanischen Exil. Von dort aus nutzte er seine Bekanntheit, seine Kontakte und Netzwerke, um Hilfe für seine verfolgten jüdischen Glaubensschwestern und -brüder zu organisieren. „Insofern ist das Handeln der Stiftung auch ein deutliches Zeichen dafür, dass sie Einsteins Namen zu Recht trägt“, sagt Ben-Sasson. „Denn dieser Name steht nicht nur für einen großen Wissenschaftler, der seine Ansprüche an die Qualität seiner Forschung niemals aufgegeben hat, sondern auch für die internationale Sprache der Wissenschaft.“

Text: Stefanie Hardick