Der Erbgutfaden kann biegsam, steif oder verdreht sein. Der Mathematiker John Maddocks berechnet, wie die DNA-Sequenz diese Eigenschaften beeinflusst – und damit die Funktion der Gene, der Basis des Lebens und vieler Krankheiten. Ein Törn durch die Untiefen der Molekularbiologie.
Text: Sascha Karberg
Als die Bö das Boot erfasst und in eine bedrohliche Schräglage drückt, funktionieren die Instinkte des geübten Seglers sofort. Mit einer raschen Kursänderung und etwas mehr Spiel auf dem Schothorn des Focksegels bringt John Maddocks die Jacht wieder unter Kontrolle und auf Kurs über den Berliner Wannsee. „Ist wie Fahrradfahren, verlernt man nicht“, ruft Maddocks lachend gegen den Wind und fasst nach seinem Hut – ein Andenken an seine Teilnahme an den Olympischen Spielen 1984 in Los Angeles. Viele Jahre war der inzwischen sechzigjährige Brite nicht mehr auf dem Wasser. Obwohl er als Professor der École Polytechnique Fédérale de Lausanne am Genfer See oft Gelegenheit dazu gehabt hätte. Vor ein paar Wochen noch hätte der Mathematiker die Wahrscheinlichkeit, dass er ausgerechnet auf dem Berliner Wannsee und ausgerechnet in einem der wenigen stürmischen Momente des eintönig heißen Sommers wieder einmal das Ruder eines Segelbootes übernehmen würde, wohl als sehr gering eingeschätzt. Ein Faktor, der die Chancen darauf erhöht hat, ist Christof Schütte, seit vielen Jahren Maddocks’ Forscherkollege und Freund, Mathematik-Professor an der Freien Universität Berlin, Präsident des Zuse-Instituts und Segler. Doch es ist nicht das Segeln oder das grünbraune, veralgte Wasser von Havel und Spree, das Maddocks in die Hauptstadt lockt, sondern ein Fellowship der Einstein Stiftung. Drei Jahre wird Maddocks an der Berlin Mathematical School verbringen, der mathematischen Graduiertenschule der Freien, der Humboldt- und der Technischen Universität. Und er will hier eine Arbeitsgruppe aufbauen, die weit über das Forschungssemester hinaus bestehen soll.
Gegenstand der Betrachtung ist ein knapp zwei Meter langer Faden, das Erbgutmolekül DNA, das von der Wissenschaft bislang behandelt wurde, als seien dessen mechanische Eigenschaften im Grunde identisch mit denen des gleichförmigen Taus, das Maddocks gerade gegriffen und gespannt hat, um das Wendemanöver einzuleiten. Wie biegsam oder steif, weich oder verdrillt, geknickt oder gerade die schnurartige Doppelhelix der DNA ist, hängt allerdings von der Abfolge ihrer vier Grundbausteine ab, den Nukleotiden A, T, C und G. Und die ist von Lebewesen zu Lebewesen, von Genom zu Genom und von Gen zu Gen unterschiedlich. Viele Jahre hat der Brite an einem Computerprogramm getüftelt, das für jede beliebige Sequenz eines DNA-Moleküls modellieren kann, welchen Einfluss verschiedene Bausteinabfolgen auf die Mechanik der DNA haben – seit 2017 funktioniert es. Und nun sucht er nach Forschern, die mit ihm unbekannte Gefilde erkunden und die weitreichenden Folgen mechanischer Unterschiede in der DNA-Sequenz für das Ablesen von Geninformationen untersuchen wollen.
Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass sich Mathematiker für Biologie, geschweige denn für Erbgutmoleküle interessieren.
Und auch John Maddocks’ Forschung blieb lange Jahre gen- und gentechnikfrei. In seiner Doktorarbeit an der University of Oxford löste er 1981 ein Problem, an dem schon der spätere Nobelpreisträger Max Born gearbeitet hatte: die Beschreibung der mechanischen Eigenschaften eines elastischen Kabels. Mathematische Verfahren für solche Kabel versuchten Biologen und Biochemiker einzusetzen, um die Biegsamkeit und andere mechanische Eigenschaften von DNA zu beschreiben. Ohne allerdings zu präzisen Ergebnissen zu kommen, da sich die Eigenschaften der DNA-Sequenz nicht mit Modellen von gleichförmigen Kabeln vorhersagen ließen.
„Das kann ich besser“, dachte sich der damals gerade Vierzigjährige und von Grund auf selbstbewusste Maddocks. Nach über zehn Jahren am Fachbereich Mathematik der University of Maryland konzipierte er 1996 ebenjenes Forschungsprojekt, an dessen Ende das Computerprogramm „cgDNA“ stand, das die mechanischen Eigenschaften von DNA-Molekülen in Abhängigkeit von deren Bausteinabfolge berechnen kann. Der erste Förderantrag bei der National Science Foundation in den USA bekam allerdings widersprüchliche Reaktionen der Gutachter. „Von der Kategorie ‚exzellent‘ bis zur Kategorie ‚Der Typ ist ein Idiot‘ war alles dabei“, erzählt Maddocks freimütig.
Zu diesem Zeitpunkt hatte Maddocks sich seine Teilnahme an den Olympischen Spielen bereits erkämpft und wusste um den Lohn, den eine Portion Starrsinn und Ehrgeiz einbringen kann. Das Segeln hatte er sich in den Kopf gesetzt, seit er die in Großbritannien beliebten Kinderbücher „Swallows and Amazons“ gelesen hatte, die von Segelabenteuern erzählen, die Freunde gemeinsam erleben. Und obwohl seine Familie mit diesem Sport nichts anfangen konnte, nahm der Zehnjährige bald an seinen ersten Törns und Wettkämpfen teil. Ungeachtet aller Schwierigkeiten: Aufgeben war für Maddocks nie eine Option.
So reagierte er auch auf die Ablehnung seines Förderantrags in den USA mit neu entfachtem Ehrgeiz.
1997 setzte er von der University of Maryland über nach Lausanne in die Schweiz, um dort „ein, zwei Jahre“ in den fremden Gewässern der Biologie zu kreuzen. Es wurden zwanzig Jahre daraus.
„Uups“, sagt Maddocks und lacht schallend. In Lausanne stellte sich heraus, dass das Verhalten von DNA weit komplizierter und keineswegs so „einfach“ zu beschreiben ist wie das von elastischen Kabeln. So hängt beispielsweise das mechanische Verhalten eines einzigen DNA-Bausteins davon ab, welcher Art die fünf benachbarten Bausteine sind – die beiden vor und nach ihm auf der einen Seite der DNA-Doppelhelix und die drei gegenüberliegenden auf der anderen Seite der Helix. Und jeder einzelne davon wird wiederum von den fünf benachbarten beeinflusst. Sein Computerprogramm wurde zunehmend komplexer.
Viele Hürden sind mittlerweile überwunden. Inzwischen analysiert Maddocks „cgDNA“-Softwarepaket alle möglichen DNA-Sequenzen mit einer Länge von 24 Bausteinen. Lässt der Forscher dieses „Analysefenster“ per Computer über das etwa eine Million Bausteine große Genom der Bäckerhefe Saccharomyces cerevisiae laufen, kann er abschätzen, welche Teile des Genoms besonders steif, weich, gebogen oder gerade sind. „Ich bin zuversichtlich, dass wir auf diese Weise mechanisch besonders ungewöhnliche Erbgutregionen identifizieren können“, sagt Maddocks. Dazu sucht er die Unterstützung von Bioinformatikern und experimentell arbeitenden Biologen, die die Berechnungen des Programms überprüfen. „Wir wollen wissen, ob unsere mechanischen Vorhersagen mit bekanntem Verhalten von DNA-Molekülen einhergehen.“ Das Fellowship der Einstein Stiftung soll ihm helfen, eine Mannschaft zusammenzustellen, die ihn und sein Computermodell durch die Untiefen der Molekularbiologie navigiert.
Maddocks ist überzeugt, dass die Lebenswissenschaften von seiner Mathematik profitieren können. Die Datenbanken, in denen alle bekannten Informationen über Genome gespeichert sind, seien „voll von Hinweisen darüber, welche biologischen Funktionen bestimmte DNA-Abschnitte haben“, gäben aber nur „sehr wenige Informationen darüber, wie sie dazu in der Lage sind“. Das Ziel sei auszuloten, inwieweit mechanische Eigenschaften einiger DNA-Abschnitte biologische Unterschiede erklären. So könnten etwa besonders gebogene Regionen der DNA dort vorherrschen, wo der Erbgutfaden beim Verpacken wie um eine Spule, die Nukleosomen, gewickelt wird. Längere Erbgutabschnitte mit vielen Bausteinen vom Typ A, wie sie bei der Bäckerhefe vorkommen, sollen sich dafür besonders gut eignen. Jedenfalls halten Molekularbiologen solche DNA-Stücke für besonders biegsam. Sie spekulieren, dass sich solche Erbgutabschnitte in der Zelle besonders gut um Nukleosomen wickeln. „Aber unser Modell sagt scheinbar das Gegenteil, dass es nichts Geraderes und Steiferes gibt als DNA aus einer Abfolge von A-Bausteinen“, sagt Maddocks. Schaut man sich die A-reichen Regionen in der Hefe genauer an, dann bestehen sie auch gar nicht aus langen Abfolgen von A, sondern werden nach fünf oder sechs As immer wieder von G-reichen Abschnitten unterbrochen: Das sei dann tatsächlich eine Struktur, die einen Knick in der DNA nach sich zieht, sagt Maddocks.
Sein Programm könnte also helfen, Mythen über die mechanischen Eigenschaften der DNA zu hinterfragen.
Ein weiterer Hinweis, dass sein Programm die mechanischen Eigenschaften von DNA korrekt wiedergibt, ist die sogenannte Methylierung. Dabei wird, vor allem bei Säugetieren, an den C-Baustein eines CG-DNA-Stücks ein Anhängsel, eine Methylgruppe, gehängt – als würde man einen Ausleger an ein Segelboot schrauben. „Das macht die DNA sehr viel steifer als jede andere mögliche DNA-Sequenz“, sagt Maddocks. Schon ein einziges methyliertes C erhöhe die Steifigkeit. „Zwei Methylierungen verstärken den Effekt noch einmal drastisch, und schon mit vier dieser Anhängsel ist es eine brutale, brutale Veränderung.“ Diese enorme Veränderung der DNA-Eigenschaften durch Methylierung haben Biologen in Experimenten bereits vielfach erkannt. Dass Maddocks’ Programm zu dem gleichen Ergebnis kommt, ist eine eindrucksvolle Bestätigung, dass seine Algorithmen die Biologie der DNA korrekt wiedergeben.
Damit ist der Weg frei, um die Regulation von Genen in Zukunft besser zu verstehen. Denn Methylierung spielt beim Ein- und Ausschalten von Genen eine große Rolle. Die dornenartigen Methylgruppen verhindern in der Regel, dass Erbinformation von den dafür vorgesehenen Proteinen abgelesen wird. Das ist zumindest die Vorstellung. Aber wie und warum die mechanischen Eigenschaften der Doppelhelix die Ablese-Proteine vergraulen, ist kaum erforscht. Maddocks will das ändern. „Ich möchte, dass meine Mathematik eine Wirkung hat und Spuren in der aktuellen Molekularbiologie hinterlässt.“ Sein Törn in die Molekularbiologie, in Gewässer fern der üblichen Wege der Mathematik, ist noch nicht zu Ende. Wohin die Reise geht, ist offen. Aber eben das reizt John Maddocks.
John Maddocks ist Professor an der École Polytechnique Fédérale de Lausanne in der Schweiz und seit 2018 Einstein Visiting Fellow an der Freien Universität Berlin. Für den Törn auf dem Wannsee lieh sich Maddocks das Boot seines langjährigen Mathematikerfreundes Christof Schütte, dem Präsidenten des Zuse-Instituts Berlin. Den Schlapphut trug Maddocks schon 1984, als er bei den Olympischen Spielen für Großbritannien segelte.