Die Preußische Ägypten-Expedition (1842–45) prägte die deutsche Ägyptologie – und das Bild von Ägypten. Nun wollen Forscher ihr reiches Erbe erschließen und die Wahrnehmung der Expeditionäre ergründen. Ein Interview mit dem Ägyptologen Tonio Sebastian Richter.
Interview: Tobias Timm
Es ist nur eine schmale Tür im Bauzaun, die zu einem der größten Schätze der deutschen Ägyptologie führt. Im Akademieflügel der Berliner Staatsbibliothek Unter den Linden – dessen jahrelange Sanierung kurz vor dem Abschluss steht – ist das Zentrum Grundlagenforschung Alte Welt der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften angesiedelt, und zu seinem großen Fundus zählt das Archiv von Karl Richard Lepsius (1810–1884), dem deutschen Mitbegründer der Ägyptologie. Lepsius war 1842 im Auftrag des preußischen Königs zu einer dreijährigen Expedition nach Ägypten aufgebrochen, reiste von den Pyramidenfeldern bis nach Äthiopien. Zeichner und Architekten begleiteten ihn, dokumentierten und kartografierten das Gesehene. Neben rund 2000 Zeichnungen und Plänen brachten sie 75 Gipsabgüsse und 8000 Abklatsche, also Papierabdrücke von Reliefs und Inschriften, sowie etwa 1500 originale Fundstücke mit nach Berlin. Die Auswertung beschäftigte Lepsius bis zu seinem Lebensende. Die Zeichnungen dienten als Vorlage für die zwölf monumentalen Tafelbände „Denkmäler aus Aegypten und Aethiopien“, die international für Furore sorgten. Zusammen mit der Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy von der Technischen Universität Berlin leitet der Ägyptologe Tonio Sebastian Richter von der Freien Universität Berlin ein interdisziplinäres Einstein-Forschungsvorhaben, das die rund 1700 erhaltenen Zeichnungen der Expedition digital erschließen soll. Die Forscher gehen dabei der Frage nach, wie die Expeditionäre die exotische Gegenwart des Niltals wahrnahmen – und welchen Einfluss dies auf die sich entwickelnde Ägyptenwissenschaft hatte.
Im Jahr 1842 brach Richard Lepsius im Auftrag des preußischen Königs zu einer Expedition nach Ägypten auf. Wie muss man sich die Reisegesellschaft vorstellen?
Es war ein relativ kleiner Trupp von sieben Spezialisten, die einen ägyptischen Koch, verschiedene Führer und zahlreiche namenlose Helfer angestellt hatten. Sie ritten auf Kamelen oder reisten mit dem Schiff auf dem Nil. Von dem Gouverneur der osmanischen Provinz Ägypten, Mehmet Ali Pascha, waren sie mit sehr guten Passierscheinen ausgestattet worden. Sie hatten ihm gleich zu Beginn der Reise ein Geschenk des preußischen Königshauses überreicht. Die Expedition war auch eine logistische Meisterleistung, schließlich wurde tonnenweise Material durch das Land bewegt und man verweilte jeweils nur kurze Zeit an einem Ort. Umso verblüffender ist es, was für eine erstaunlich gute Arbeit die Mitreisenden ablieferten. Die Lagepläne des Architekten Georg Gustav Erbkam sind geradezu verteufelt gut, sie halten dem Vergleich mit Google Earth stand.
Mit welchen Erwartungen, mit welchem Selbstverständnis sind die Expeditionsteilnehmer damals aufgebrochen?
Ein strategischer Gedanke war, Preußen und Deutschland in dieser noch sehr jungen Wissenschaft, der Ägyptologie, an die Spitze zu bringen. Das patriotische Motiv war sehr stark, diese Männer waren begeisterte Preußen. Am Anfang, wenn man so will, stand der Ägyptenfeldzug Napoleons. An dem 1799 gefundenen „Stein von Rosette“, einem mehrsprachigen Priesterdekret, entzündete sich ein europäischer Wettlauf um die Entzifferung der Hieroglyphen, die 1822 dem Franzosen Jean-François Champollion gelang. Die wissenschaftliche Ernte, die ein Tross von Gelehrten im Gefolge der Armee einfuhr, war in einem monumentalen Tafelwerk, der „Description de l’Égypte“, zwischen 1809 und 1828 publiziert worden und löste eine regelrechte Ägyptomanie in der französischen Alltagskultur aus. Die Porzellanmanufakturen und Möbeldesigner arbeiteten damals mit ägyptischen Motiven …
… edle Holzstühle in den Palästen bekamen plötzlich Sphinxbeine …
Genau. Und dann ging auch die Hieroglyphenentzifferung in die heiße Phase. Champollion hatte den Code geknackt, aber das bedeutete noch nicht, dass er bereits Texte lesen konnte. Er hatte das Prinzip verstanden und baute dieses Verständnis bis zu seinem frühen Tod 1832 aus. Er hinterließ jedoch keine Schüler.
Sein Entzifferungsmodell war damals noch umstritten. Und hier kam Berlin ins Spiel. Nach dem abrupten Ende seiner politischen Karriere nahm Wilhelm von Humboldt seine Arbeit als Sprachwissenschaftler wieder auf und hielt vor der Akademie seine Vorträge. Humboldt hatte auch mit Champollion korrespondiert und trug dessen Ideen der Akademie vor, überprüfte dessen Methode mit einem eigenen Versuch an Objekten aus der Berliner Sammlung und war schließlich von ihrer Angemessenheit überzeugt. Zusammen mit dem Historiker und Politiker Christian Bunsen setzten Wilhelm und Alexander von Humboldt nun Richard Lepsius auf das Ägyptische an, einen frisch promovierten Sprachwissenschaftler, der für seine Dissertation eine italische Trümmersprache entziffert hatte.
Eine große Ehre für den jungen Wissenschaftler? Im Gegenteil, Lepsius hatte überhaupt keine Lust, Hieroglyphen zu studieren. Die Beschäftigung mit dieser Schrift war für ihn der Inbegriff des Unseriösen. Er glaubte nicht, dass man darauf eine wissenschaftliche Karriere gründen könnte.
Warum das?
Weil sich damals allerlei Dilettanten an der Entzifferung der Hieroglyphen versuchten, Lepsius auch zunächst nicht begriff, wie viel Champollion bereits erreicht hatte. Die Akademie lockte ihn mit Studienaufenthalten in Rom und Paris. Lepsius leckte nun Blut, begann ägyptische Inschriften und den Nachlass Champollions zu studieren, veröffentlichte 1837 ein erstes berühmtes Traktat zur Verteidigung von dessen Methode. Und wurde so zum ersten Ägyptologen im deutschsprachigen Raum, der schließlich 1842 von Friedrich Wilhelm IV. auf große Expedition geschickt wurde.
Warum finanzierte der König diese teure Unternehmung?
Friedrich Wilhelm IV. gilt ja als Romantiker auf dem preußischen Thron, er war für dieses Thema sehr empfänglich. Ein Motiv war sicherlich, Preußens Führungsrolle in der entstehenden Ägyptologie auszubauen und auf dem Gebiet der ägyptischen Kunst mit dem Louvre und dem British Museum gleichzuziehen. Teurer noch als die dreijährige Expedition war allerdings die Produktion des prächtigen Tafelwerks, das selbstverständlich das französische Projekt übertrumpfen sollte. Vom Königshaus wurde es dann an andere Herrscherhäuser und Akademien verschenkt.
Vor dem Hintergrund der aktuellen Debatten um das Humboldt Forum: War die Expedition ein kolonialistisches oder imperialistisches Unternehmen?
Ja und nein. Ja, insofern, als die gesamte Konstellation von vornherein ein Gefälle hatte, denn auch die Geisteswissenschaften der Zeit basierten ja auf einer hegemonialen, eurozentrischen Perspektive. Nein, weil Preußen keine politischen Interessen in Ägypten hatte und in Abstimmung mit der ägyptischen Regierung handelte.
Richard Lepsius war kein kolonialer Raubritter?
Nein, das kann man wirklich nicht sagen. Die Expedition wurde vom ägyptischen Statthalter aktiv unterstützt, anders als bei europäischen Beutezügen in anderen Teilen Afrikas.
Welche Objekte hat Lepsius mitgenommen, was hat ihn besonders interessiert?
Als Linguist interessierten ihn die Objekte mit Texten. Gleichzeitig musste Lepsius daran denken, mit welchen Kunstwerken man das Neue Museum füllen konnte, dessen Bau seit 1841 geplant wurde und in dem Säle für die Ausbeute der Expedition vorgehalten waren. Er brachte aber auch Dinge mit, die weder Kunstwerk noch Text waren. Aus einem Grab etwa nahm er ein Alabastron mit, ein Importgefäß aus Mykene, und die im Grab verwahrten Granatäpfel. Was er im Einzelnen noch sammelte, wollen wir durch unser Projekt herausfinden, denn es gibt bis heute keine Liste aller auf Lepsius’ Expedition zurückgehenden Objekte.
Gibt es denn Rückgabeforderungen zu den Objekten der Lepsius-Expedition?
Bisher nicht.
Was löste die Ankunft der Objekte beim Berliner Publikum aus? Gab es auch in Preußen, wie einige Jahrzehnte zuvor in Paris, eine Ägyptomanie?
Die Ausstellung der Funde im Neuen Museum, das Ambiente der Ägypten-Präsentation dort mit einem in monumentalen Wandbildern inszenierten Alten Ägypten und vor allem das Tafelwerk – die Bildquelle zahlreicher, auch populärer Publikationen – haben die Ägyptomanie des Jahrhundertanfangs nicht einfach aufgefrischt, sondern sie um eine komplexe Schicht von Ägypten-Wahrnehmungen aufgestockt. Dies genauer zu beleuchten, ist der Kern unseres Projekts: Welche Anknüpfungspunkte boten die Ergebnisse der Preußischen Expedition den konventionellen Seherwartungen und Klischees über Ägypten, und welche neuartigen Wahrnehmungen wurden dadurch erstmals etabliert? Die Zeichnungen sind für diese Thematik eine kapitale Quelle: Die Zeichenkunst, die Lepsius in den Dienst seiner erstrebten wissenschaftlichen Objektivität stellte, war als Leitmedium der visuellen Kommunikation im 19. Jahrhundert in Konventionen gefangen, sie war der zeitgenössischen Kunstlehre und dem Zeitgeist unterworfen.
Ihr Forschungsprojekt geht interdisziplinär vor, was heißt das in diesem Fall genau?
Die Ägyptologin Silke Grallert wird die Digitalisate der gut 1700 Zeichnungen nach der Seite ihrer materiellen und ägyptologischen Informationen hin erschließen. Die entstehende Datenbank der Zeichnungen soll zum Grundstein eines Internetportals werden, auf dem künftig alle Dokumente und Objekte der Lepsius-Expedition zusammengeführt werden können. Die Kunsthistorikerin Mariana Jung wird die so unbeabsichtigte wie unvermeidliche Diskrepanz zwischen objektivem Darstellen und medialen Konventionen des 19. Jahrhunderts untersuchen und so die Konstruktion eines „Ägypten“ im Sinne zeitgenössischer Konzepte analysieren. Durch eine Kooperation können wir für die Architekturpläne auf die Kompetenz von Ulrike Fauerbach von der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg setzen. Im Ägyptischen Museum wird Jana Helmbold-Doyé nach den Objekten aus der Lepsius-Expedition forschen und sie mit archivalischen Quellen zusammenführen. Für das Jahr 2022 ist als Projektabschluss eine Sonderausstellung des Ägyptischen Museums geplant.
Wie unterscheidet sich der Blick Lepsius’ vom Blick der heutigen Ägyptologie?
Ägypten war für das Konzept der „Weltgeschichte“ im 19. Jahrhundert, ähnlich übrigens wie China, eine große Unbekannte und Herausforderung: eine uralte Zivilisation, deren Schrift und Sprache man sich als ziemlich primitiv dachte und die man in das europäische Paradigma mit seiner Referenz auf die klassische Antike irgendwie einsortieren musste. Dieses weltgeschichtliche Konzept, sagen wir, Hegels, teilt die heutige Ägyptologie nicht, und damit ist der Blick auf Ägypten von vornherein ein anderer. Der vorklassischen Alten Geschichte des eurasischen Raums sind in den Kulturen und Staaten des Zweistromlandes oder im Hethitherreich seither Agenten zugewachsen, von denen Lepsius und seine Zeit noch kaum etwas ahnten. Lepsius’ Generation legte die ersten Grundlagen zum Hieroglyphenlesen und sammelte Texte über Texte. Wir haben diese Schriften inzwischen gelesen und kennen das Alte Ägypten aus der Perspektive der Alten Ägypter. Die Ägypten-Archäologie, die ihre Grundlegung ebenfalls Lepsius’ Expedition verdankt, ist für den Blick auf das Alte Ägypten immer wichtiger geworden. Man muss sich andererseits wundern, was Lepsius und seine Nachfolger damals schon alles wussten. Sie kannten die klassischen Quellen über Ägypten, angefangen mit Herodot, Diodor, Plutarch bis hin zu Randbemerkungen relativ unbekannter griechischer oder lateinischer Schriftsteller. Die Fundamente der Topografie und Chronologie Ägyptens wurden damals gelegt. Wir fahren bis heute die Ernte einer Saat ein, die damals schon ausgebracht wurde.
Arbeiten Sie in diesem Projekt auch mit ägyptischen Kollegen zusammen?
Nein, dieses Projekt konzentriert sich auf die Kooperation zwischen vier Berliner Institutionen. Die Zusammenarbeit mit ägyptischen Wissenschaftlern ist unabdingbar und erwünscht bei der archäologischen Feldarbeit in Ägypten. Das Gros archäologischer Arbeiten in Ägypten wird, wenngleich inzwischen regelmäßig mit ägyptischen Partnern, nach wie vor von europäischen oder nordamerikanischen Institutionen durchgeführt. Über diese aus der kolonialen Konstellation des 19. Jahrhunderts ererbte Asymmetrie kann man als Ägyptologe nicht glücklich sein. Doch maßgebliche Institutionen wie das Deutsche Archäologische Institut wirken heute ganz aktiv darauf hin, eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe zur neuen Normalität werden zu lassen.
Tonio Sebastian Richter ist Akademieprofessor für Ägyptologie und Koptologie an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Freien Universität Berlin. Zusammen mit der Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy leitet er das Einstein-Forschungsvorhaben „Perzeptionen Ägyptens“.