Was wird?

10 Wünsche an das Berlin der Zukunft von Günter Stock, Beatrice Kramm, Ulrich Dirnagel, Ina Schieferdecker, Anita Traninger, Christian Schwägerl, Klaus-Robert Müller, Jutta Allmendinger, Hermann Parzinger und Wolfgang Marquardt.

Das Berlin der Zukunft braucht…

…eine europäisierte Wissenschaft (Günter Stock)

Wir brauchen einen Aufbruch zu einem Europa der Wissenschaften. In den vergangenen Jahren wurden bereits große Erfolge bei der Ausgestaltung des europäischen Forschungsraums erzielt. Der European Research Council etwa stärkt exzellente europäische Forschung und ermöglicht Kooperationen innerhalb der europäischen Forschergemeinde. Sehr erfolgreich ist auch das Erasmus-Programm, das für viel mehr als für wissenschaftlichen Austausch steht: Es ist ein Instrument der sozialen Integration Europas. Könnte es bessere Beispiele für wahre Europäer geben als eine Million von Jean-Claude Juncker so bezeichnete „Erasmusbabys“?

Berlin ist ein Hotspot des Erasmus-Programms. Allein 2018 schwärmten knapp 2500 Berliner Erasmusstudenten aus, noch mehr kamen aus ganz Europa nach Berlin. Das verwundert nicht. Die Stadt ist attraktiv für ausländische Studierende und Forscher gleichermaßen. Hier finden sie Gestaltungswillen, Gestaltungsfreiheit und Experimentierfreudigkeit in Kultur, Wirtschaft und Wissenschaft. Berlin ist einer der größten Forschungsstandorte Europas – und hat beste Voraussetzungen, sich zur europäischen Wissenschaftshauptstadt zu entwickeln.

Auf dem Weg zu einem Europa der Wissenschaften ist Berlin schon jetzt ein wichtiger Impulsgeber. Etwa wenn es um eine echte interdisziplinäre Zusammenarbeit mit substanzieller Einbeziehung der Geistes- und Sozialwissenschaften geht. Das wissenschaftliche Berlin lebt hier einen ausgeprägten Willen zur Kooperation vor, der auch auf europäischer Ebene dringend benötigt wird. Die Exzellenzcluster und Einstein-Zentren sind ein guter Beleg hierfür. Die großen gesellschaftlichen Herausforderungen, die vor uns liegen, sind in ihrer Vielschichtigkeit auf andere Weise gar nicht zu bewältigen.

Eine wichtige Rolle kommt Berlin auch als Tor zu Ost- und Mitteleuropa zu. Europa braucht dringend Programme, die wissenschaftliche Institutionen in den Staaten, die nach 2004 der EU beigetreten sind, so unterstützen, dass sie gleichberechtigt am Wettbewerb um europäische Forschungsförderung teilnehmen können. Berlin sollte sich als Mittler und Unterstützer gerade für osteuropäische Einrichtungen besonders engagieren – und tut dies bereits aktiv.

Zudem braucht es wissenschaftliche Neugründungen genuin europäischer Ausrichtung. Beispiele wie das CERN dokumentieren, wie erfolgreich europäische Initiativen sein können. Berlin könnte hierbei in der Infektions- und Materialforschung, in der Medizin und im Bereich der Digitalisierung eine Vorreiterrolle einnehmen. Wenn die Europäische Kommission jährlich vier Europäische Universitäten gründen will, warum dann nicht auch eine in Berlin? Hierzu passen könnte die Gründung eines Instituts zur Stärkung des Vertrauens in die Wissenschaft, eine Art europäisches Institut für Wissenschaftskommunikation und Wissenstransfer.

Unsere Aufgabe ist es mitzuhelfen, die wissenschaftlichen Institutionen in Berlin noch stärker zu europäisieren, beispielsweise durch die Einführung europäischer Curricula, durch den Ausbau von Kooperationen und die Europäisierung des Lehr- und Forschungspersonals – etwa auf der Grundlage des Fellowship-Modells der Einstein Stiftung. Als zusätzlicher Baustein und ganz im Sinne des Erasmus-Programms.

Günter Stock ist Physiologe und seit 2015 Vorstandsvorsitzender der Einstein Stiftung Berlin.


…eine neue Innovationskultur (Beatrice Kramm)

Blicke ich aus Sicht der Berliner Wirtschaft in die Zukunft unseres Wissenschafts- und Wirtschaftsstandorts, sagen wir ins Jahr 2030, sehe ich ein Szenario, in dem die lange Zeit eher getrennt voneinander agierenden „Welten“ Wissenschaft und Wirtschaft endlich zueinander gefunden haben. Es ist ihnen gelungen – auch mithilfe der Politik –, nahezu alle Hemmnisse und Hürden für ein sich ergänzendes Miteinander abzubauen. Berlin hat sich in Deutschland und Europa beim Thema Wissenstransfer zum Vorreiter entwickelt: Wissenschaftler und Unternehmer finden extrem schnell zueinander. Das gegenseitige Vertrauen ist sehr stark ausgeprägt. Es ist gelebter Konsens und gute Praxis, sich gemeinsam für Bildung, Forschung, Fachkräfte und Innovationen einzusetzen.

In den Ohren von Geschäftsführenden, Verantwortlichen in Forschung und Entwicklung und Mitarbeitenden in den Unternehmen klingen wissenschaftliche Projektideen und Forschungsergebnisse in diesem Zukunftsszenario nicht länger wie Science-Fiction. Berliner Unternehmen haben gelernt, ihre Fragen an die Wissenschaft mitsamt ihren Innovationsanliegen so zu formulieren, dass ihnen alle Türen der Institutionen weit offenstehen. Dieses neue gemeinsame Sprachverständnis verstärkt die Lust auf Zusammenarbeit in noch mehr Fachgebieten. Zusätzlich hat sich das früher so große Problem der unterschiedlichen „Zeitwelten“ von Laboren und Hörsälen im Vergleich zu Werkstätten und Büros quasi in Luft aufgelöst. Semesterorganisation und Projektlaufzeiten sind kein Gegensatz mehr zum schnellen Tagesgeschäft der Betriebe. Vereinfachte Förderrichtlinien, vor allem auch europäische, und massive bürokratische Verschlankungen haben dies ermöglicht. Dank vieler digitaler Anwendungen ist es im Jahr 2030 möglich, äußerst schnell und flexibel Projekte und Kooperationen aufzusetzen. Gerade mit kleinen und mittleren Unternehmen wurde so die Anzahl interessanter Wissenschaftskooperationen in wenigen Jahren mehr als verzehnfacht.

In meinem Szenario haben die deutlich verkürzten Wege bis zur Marktreife, der gesteigerte gemeinsame Ansporn und die an vielen Stellen vereinfachten Handlungsbedingungen Berlin unter die Top 3 der europäischen Innovationsstandorte katapultiert. Das Erfolgsrezept hierfür ist eine hervorragende Innovationskultur mit vorbildhaften Strukturen, Verbünden und Plattformen, die als Mega-Magnete für die internationale Wissenschaftscommunity wirken und viele Unternehmer und Gründer anziehen, die wiederum kontinuierlich für neue Arbeitsplätze und Wirtschaftskraft sorgen.

Doch es gibt eine Voraussetzung für diese Idealwelt. Alle Akteure der Metropolregion müssen dafür spätestens 2020 erkannt haben, dass Wissenschaft und Wirtschaft gemeinsam wie Schloss und Schlüssel wirken und nur das Beste aus beiden Welten für einen anziehungskräftigen sowie starken Berliner Standort sorgt.

Beatrice Kramm ist Juristin und Präsidentin der Industrie- und Handelskammer zu Berlin.


…maximale Forschungsqualität (Ulrich Dirnagel)

Wohl schon in zehn Jahren wird mein akademisches Haltbarkeitsdatum abgelaufen sein. Ich muss mich also beeilen, meine Visionen umzusetzen. Meine erste Vision ist, dass wir endlich allen Patienten mit Schlaganfall eine Therapie anbieten können, die über die Wiedereröffnung des verschlossenen Hirngefäßes hinausgeht. Berlin hat ideale Voraussetzungen, hierzu einen wesentlichen Beitrag zu leisten: Es hat viele exzellente Grundlagenforscher und Kliniker, ein herausragendes neurowissenschaftliches Umfeld und nicht zuletzt drei mobile Stroke-Units (STEMO), mit denen wir die weltweit einzigartige Chance haben, Schlaganfallpatienten künftig extrem früh mit Medikamenten zu behandeln, die Gehirnschäden vermeiden können. Wir haben dafür bereits aussichtsreiche Substanzen identifiziert, deren Wirkung wir zunächst experimentell und dann im STEMO klinisch testen müssen. Das ist in zehn Jahren durchaus zu schaffen!

Genau hier setzt meine zweite Vision an. Noch hat die Biomedizin, und das nicht nur in Berlin, große Probleme damit, experimentell erfolgreiche Therapien in wirksame Behandlungen zu überführen. Das liegt sicher daran, dass die meisten Krankheiten sehr komplex sind. Doch ein weiterer Grund ist, dass wir in der Welt der biomedizinischen Forschung zu viel Forschungsmüll produzieren. Die Probleme reichen von zu geringen Fallzahlen in vielen tierexperimentellen und klinischen Studien über mangelnde Qualität präklinischer Studien bis zur Nichtveröffentlichung negativer Studiendaten.

Berliner Wissenschaftler haben sich vorgenommen, all dies zu verbessern. Das QUEST-Center am Berlin Institute of Health ist eine weltweit einmalige Einrichtung, die darauf ausgerichtet ist, die Werthaltigkeit und den Nutzen der biomedizinischen Forschung zu erhöhen. Dies wollen wir durch die Maximierung von Qualität, Reproduzierbarkeit, Verallgemeinerbarkeit und Validität der Forschung erreichen. Auch die neu gegründete Allianz der Berliner Universitäten, zu der auch die Charité gehört, hat sich die Verbesserung der Forschungsqualität in all ihren Fakultäten und Disziplinen auf die Fahnen geschrieben. Berlin ist damit ein Vorreiter in einer weltweiten Bewegung für eine offene Wissenschaft, die innovativ, aber auch reproduzierbar und gesellschaftlich relevant ist. Es sind die ersten notwendigen Schritte auf dem Weg zu einem kulturellen Wandel in der akademischen Forschung, der auch die Anreiz- und Karrieresysteme betrifft.

Ich bin zuversichtlich, dass wir innerhalb der nächsten zehn Jahre in Berlin große Fortschritte bei der Behandlung neurologischer Erkrankungen machen können. Aber das wird nur gelingen, wenn wir originelle, qualitativ hochwertige und zugleich transparente Grundlagenforschung mit klinischer Forschung verbinden.

Ulrich Dirnagl ist Neurologe und Direktor der Abteilung Experimentelle Neurologie an der Charité Universitätsmedizin Berlin.


…wahrhafte Digitalisierung (Ina Schieferdecker)

Berlin ist bereits jetzt eine der führenden Städte der digitalen Transformation – mit vielen Start-ups, IT-Unternehmen und vielfältigen Initiativen in Wissenschaft und Forschung wie dem Einstein-Zentrum Digitale Zukunft, dem Berlin Big Data Center, dem Fraunhofer Leistungszentrum Digitale Vernetzung oder dem Weizenbaum- Institut für die vernetzte Gesellschaft. Doch meine Vision ist die eines wahrhaft digitalisierten Berlins.

Denn vieles, was hier entwickelt und weltweit zur Anwendung gebracht wird, findet sich in der Stadt – insbesondere im öffentlichen Raum – nicht wieder. Gerade das wäre aber dringend notwendig. In Berlin werden die Schwierigkeiten, die mit der Stadt wachsen, seit Jahren nicht oder nur schleppend angegangen. Die Verwaltung ist noch immer hochgradig analog, auf Termine wartet man mitunter Monate, Baustellen und Verkehrsführungen werden nur selten aufeinander abgestimmt. So ist Berlin die Stadt mit der rasantesten Steigerung der Stauzeiten in ganz Deutschland.

Das wahrhaftig digitalisierte Berlin meiner Träume ist ein Magnet, Experimentierfeld und Aushängeschild für den digitalen Wandel. Zuverlässige, sichere und nachhaltige digitale Lösungen werden uns im Alltag unterstützen. Technologien wie Fahrzeug-zuX-Kommunikation, die zur Minimierung der Zahl der Verkehrstoten beitragen, werden auf Fahrräder und Pedelecs übertragen. Die Bildung wird durch freies Wissen und freie Angebote weiter liberalisiert. Öffentliche Plätze werden digitale Begegnungsstätten sein, Historisches und Zukünftiges vermitteln und Raum für neue Kreativität bieten. Einsatzkräfte werden zuverlässiger an Orte des Geschehens kommen und sich einen besseren Überblick verschaffen können.

Berlin ist jetzt schon voll von Ideen, die in Pilotprojekten und Start-ups ihre Anwendbarkeit demonstrieren. Sie harren allerdings der Umsetzung in die Breite. Ich wünsche mir, dass wir Digitalisierungsprojekte agiler und flexibler umsetzen können. Überbordende Formalien und immer neue Zuständigkeitsfragen passen dazu nur wenig.

Das wahrhaftig digitalisierte Berlin wird nur Wirklichkeit werden, wenn Digitalisierungsprojekte im Außenraum erfahrbar werden, sodass sie an den Erfordernissen und Wünschen der Stadtgesellschaft gespiegelt, kalibriert und weiterentwickelt werden können. Vertrauenswürdigkeit, Zuverlässigkeit, Datensicherheit und Benutzungsfreundlichkeit sind wesentlich für die Akzeptanz in der Stadtgesellschaft.

Als Berlinerin bin ich zuversichtlich, dass wir den digitalen Wandel in Zukunft nicht nur exportieren, sondern ihn auch nutzen werden, um in unserer Stadt bequemer, vielfältiger und sicherer zu arbeiten und zu leben. Ich wünsche mir, dass der Traum dieses wahrhaft digitalen Berlins von der breiten Stadtgesellschaft und immer mehr Akteuren und Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträgern geteilt und verwirklicht wird. 

Ina Schieferdecker ist Informatikerin und Leiterin des Fraunhofer-Instituts für Offene Kommunikationssysteme in Berlin.


…entgrenzte Sichtweisen (Anita Traninger)

Die Literaturwissenschaft der Zukunft wird sich entgrenzen, und zwar auf zweierlei Weise. Sie wird zum einen die Periode vom 19. bis zum 21. Jahrhundert als die Ausnahmesituation erkennen, die sie in der historischen Langfristperspektive war. Literatur wird sich wieder dem alten Begriff der litterae annähern und für alle Arten von Texten in ihren Beziehungen zueinander stehen. Damit wird der enge Fokus auf das Fiktionale aufgebrochen, und es kommen die großen historischen und medienübergreifenden Echophänomene in den Blick: Emblematik und Instagram, République des Lettres und Social Media. Die Literaturwissenschaft wird viel mehr als heute Auskunft geben über Phänomene, die brandaktuell, aber wenig verstanden sind, wie zum Beispiel die Satire oder die Invektive.

Die zweite Entgrenzung betrifft die nationalen Korsette. Der Migrationshintergrund des Literarischen wird stärker in den Vordergrund treten. Texte sind immer schon gereist, zirkuliert, haben sich vernetzt. Die Literatur selbst ist ein Einwanderungsgebiet, das immer wieder neu ausgehandelt wird. Berlin ist der prädestinierte Ort für eine solche Vision der Literaturwissenschaft. Wir haben Expertinnen für arabische Literatur oder Keilschrift, Ägyptologen, Sinologinnen, Japanologen – eine Palette von Expertise also und eine über Jahrzehnte gewachsene Zusammenarbeit zwischen ihnen und den modernen Philologien.

Die Berliner Literaturwissenschaft hat schon jetzt eine hohe internationale Sichtbarkeit. Der Exzellenzcluster Temporal Communities, den ich gemeinsam mit dem Anglisten Andrew James Johnston leite, wird diese noch erweitern. Wir werden international noch stärker kooperieren können, Fellows einladen, gemeinsame Projekte durchführen – und das alles auch im Digitalen. Denn die Literaturwissenschaft der Zukunft wird eine digital basierte Disziplin sein, die neue Methoden aus den Digital Humanities mit angestammten theorie- und kritikgetriebenen Fragen des Fachs verbindet. Und wir werden uns mit der Berliner Literatur- und Kulturszene austauschen. In unserem Cluster sind wir im Gespräch mit neun Partnerinstitutionen – Theatern, Museen, Literaturhäusern, Festivals. Diese sind oft gegenwartsorientiert, interessieren sich für zeitgenössische Literatur in ihrem Entstehen, während wir mit historischem Tiefenblick an die Dinge herangehen.

Ich glaube, dass wir in Berlin in Zukunft ein Motor für neue Entwicklungen in der Literaturwissenschaft sein werden. Allerdings haben wir in den Universitäten immer noch eine Struktur, die im Wesentlichen aus dem 19. Jahrhundert kommt. Die disziplinären Strukturen müssen und werden in Zukunft viel durchlässiger werden. Literatur wandert zwischen Sprachen und Kulturen. Dem müssen wir mit einer Revision unserer Fächeraufteilung und der strengen Karrierewege, die daran hängen, in Zukunft gerecht werden. 

Anita Traninger ist Professorin für Literaturwissenschaften an der Freien Universität Berlin und Sprecherin des neuen Exzellenzclusters Temporal Communities – Doing Literature in a Global Perspective


…den unabhängigen Blick (Christian Schwägerl)

Im Wissenschaftsjournalismus und im Journalismus insgesamt haben wir zu lange von Illusionen gelebt, aber zu wenige Visionen entwickelt. Wir dachten, dass die Gesellschaft Qualitätsjournalismus als unverzichtbar ansieht, dass wir unsere Arbeit durch Werbung bezahlen können und dass es sinnvoll ist, Beiträge online zu verschenken.

Die harte Realität: Werbeeinnahmen landen hauptsächlich bei Google, viele Menschen springen von einem Kostenlos-Angebot zum nächsten, und gesellschaftliche Gruppen bauen mithilfe sozialer Medien eigene Suböffentlichkeiten auf. Deshalb schrumpfen Ressourcen, Personal und Recherchemöglichkeiten. Wissenschaftsredaktionen, auch der Berliner Zeitungen, sind deutlich kleiner als früher. Viele hochkompetente Kollegen arbeiten lieber auf sicheren Stellen in der Wissenschaftskommunikation. Diese Trends schwächen den Wissenschaftsjournalismus ungemein.

Meine erste Vision für den Wissenschaftsjournalismus der Zukunft ist, dass Bürger und gemeinnützige Akteure gezielt journalistische Projekte unterstützen können, die ihnen wichtig sind. Es wird für einen Reporter normal sein, Recherche oder den Faktencheck eines Beitrags direkt durch Unterstützer zu finanzieren. Mit RiffReporter, einer Genossenschaft für freien Journalismus, bauen wir derzeit die Infrastruktur hierfür auf.  Meine zweite Vision ist, dass wir den ökonomischen, gesellschaftlichen und kulturellen Wert unserer Arbeit besser vermitteln. Guter Journalismus ist so etwas wie das Bindegewebe der Gesellschaft, wirkt Polarisierung entgegen, fördert den pluralistischen Dialog. Um das zu vermitteln, müssen wir wesentlich öfter ins direkte öffentliche Gespräch gehen. Wir RiffReporter kooperieren dafür in Berlin etwa mit der Zentral- und Landesbibliothek.

Drittens gehört es zu meinem Bild von der Zukunft, dass wir wirklich in die Tiefe gehen können. Statt, wie heute üblich, vom Schreibtisch aus zu arbeiten, stelle ich mir vor, dass wir genügend Mittel zur Verfügung haben, um überall präsent zu sein, wo Wissenschaft relevant ist – in den vom Klimawandel betroffenen Gebirgen, in den Hightech-Laboren, bei Tiefsee-Expeditionen, bei Menschen, die ihre Jobs wegen künstlicher Intelligenz (KI) verlieren, wie bei denen, die am KI-Boom verdienen.

Nur durch die Möglichkeit, sich mit Themen vertieft zu beschäftigen, können Journalisten einen unabhängigen Blick bieten. Dazu gehört, dass wir gegenüber der Wissenschaft als kritischer Akteur auftreten, der ein Korrektiv bietet, einen sachkundigen Blick von außen – und endlich das Missverständnis verschwindet, wir seien eine Art Sprachrohr der Wissenschaft.

Die Wissenschafts-Pressekonferenz, das Science Media Center und die RiffReporter-Initiative wirken daran mit, eine gute Zukunft für guten Wissenschaftsjournalismus zu ermöglichen. Umgekehrt braucht guter Journalismus aber auch die Unterstützung aus der Gesellschaft. Nur dann können meine Visionen Wirklichkeit werden. 

Christian Schwägerl ist Journalist, Biologe und Mitgründer der Journalistengenossenschaft RiffReporter.


…kooperative Maschinen (Klaus-Robert Müller)

Es geht in der Diskussion um maschinelles Lernen und künstliche Intelligenz (KI) heute meist um Szenarien: Computer oder Maschine gegen den Menschen. Ich glaube, das ist der falsche Ansatz. Meine Vision für die Zukunft ist, dass wir Maschinen, die intelligent sind, als kooperative Helfer haben werden. Ich glaube, dass Mensch und Maschine sich sehr gut ergänzen können.

Im Alltag werden uns diese Helfer daran erinnern, was wir noch zu bedenken haben. In der Wissenschaft werden tiefe Lernmodelle, die wir mit wissenschaftlichen Daten trainiert haben, neues Wissen hervorbringen. Und viele Innovationen werden direkten Einfluss auf unseren Alltag haben. So ist die Entwicklung neuer Batterien eine der Schlüsselfragen unserer Mobilität. Schon jetzt steht fest, dass die Grundlagen leistungsfähigerer Batteriematerialien mit Techniken des maschinellen Lernens und der KI entwickelt werden. Wir werden Batterien haben, die schneller laden und Elektroautos 1000 statt 100 Kilometer weit fahren lassen.

In meinem Wunschbild gibt es in Berlin in zehn Jahren mindestens zwei Dutzend neue Professoren und Professorinnen auf dem Gebiet des maschinellen Lernens und der KI. Die Universitäten werden eine weit umfassendere Ausbildung anbieten können. Das ist ein nötiger Schritt, um die internationale Sichtbarkeit auszubauen. Denn viele Länder rund um den Globus investieren 10- bis 20-mal so viel Geld in den Bereich wie Deutschland.

Und wir müssen das unsägliche Silodenken der Disziplinen aufgeben. Innovationen entstehen heute immer an den Grenzen der Disziplinen. Doch noch ist Interdisziplinarität ein Lippenbekenntnis. KI und maschinelles Lernen werden für Fächer wie Medizin, Ingenieurwissenschaften, Chemie, Neurobiologie oder Physik immer wichtigere „Enabler“. Im Berlin der Zukunft wird nicht länger nur von Interdisziplinarität geredet, sondern diese auch beherzter umgesetzt (wie beispielsweise schon im Bernstein Zentrum, dem Berliner Big Data Center oder im neuen Berliner Zentrum für Maschinelles Lernen). Das wird die Innovationen in unserem Land und vor allem in unserer Stadt vorantreiben.

Die Technologien des maschinellen Lernens und von Big Data, die in der Industrie angewandt werden, leben von unseren privaten Daten. Ich bin der Meinung, dass wir dies als Gesellschaft nicht akzeptieren sollten und unsere Privatheit wiedergewinnen müssen. Denn Demokratie funktioniert durch Privatheit. Ich bin sehr optimistisch, dass wir das hinbekommen können, wenn wir die richtigen technischen und regulatorischen Schritte wählen. Aktuell führen wir eine intensive Diskussion innerhalb der Akademien und mit der Öffentlichkeit und treiben die Forschung zu diesem für unsere Gesellschaft so wichtigen Thema voran. Wenn Firmen sich diese Sichtweise zu eigen machen und Produkte generieren, die unsere Privatheit und unsere Daten respektieren, dann ist das ein wesentlicher Standortvorteil für Europa – und für Berlin.

Klaus-Robert Müller ist Professor für Maschinelles Lernen an der Technischen Universität Berlin und stellvertretender Leiter des Berlin Big Data Centers. 


…eine vereinte Stadtgesellschaft (Jutta Allmendinger)

Im Berlin der Zukunft wird es eine neue Stadtgesellschaft geben, die geprägt ist von gegenseitigem Respekt der Menschen füreinander und vom Interesse aneinander. Das ist meine Vision für diese Stadt.

Der Impuls zu dieser grundlegenden Veränderung wird von den großen sozialwissenschaftlichen Exzellenzclustern der Stadt ausgehen. Die beteiligten Forscherinnen und Forscher werden aus ihren Büros und Labors treten, sich einmischen, indem sie aktiv mit der Politik und der Gesellschaft in Austausch treten, ihre Ergebnisse erklären, Impulse für ihre Arbeit aufnehmen. Sie werden auch den Kontakt zu Gruppen suchen, die am Rand der Gesellschaft stehen, dort, wo sich Gettos herausbilden.  Dieses entschlossen umgesetzte Ansinnen der Wissenschaft, von Beginn an in die Stadtgesellschaft hineinzuwirken, statt sie nur zu beforschen, wird bald mitgetragen von den vielen in Berlin angesiedelten Stiftungen. Und der Politik, die sich einen Ruck geben wird, damit Sozialforscherinnen und -forscher ihre Annahmen endlich unter realen Bedingungen prüfen können.

Den eigentlichen Ausschlag werden dann aber die Kinder geben. Sie werden es leid sein, immer nur mit platten Wahlparolen abgespeist zu werden, ohne dass sich ihre Situation verbessert. Anlässlich der Bundestagswahl 2021 werden sie sich über die Grenzen der Bundesländer hinweg solidarisieren, ihre Stimme erheben.

Erfolgreich werden sie einklagen, was ihnen wichtig ist und Parteien über Jahrzehnte hinweg immer wieder versprechen: eine Förderung entsprechend ihrer Fähigkeiten, das gemeinsame Lernen mit Kindern aus anderen Kulturen, die Akzeptanz anderer Religionen. Engagement für die Zivilgesellschaft von klein auf. Achtung und Zurückhaltung als feste Leitplanken des gesellschaftlichen Miteinanders. Neugierig bleiben und lebensfähig werden, Verantwortung übernehmen, sich Veränderungen stellen, sie anstoßen und vorantreiben. Endlich eine nachhaltige Politik, die nicht mehr an kurzfristigen Interessen ausgerichtet ist. 

Die Kinder werden ihren Idealen als Erwachsene treu bleiben. Sie werden beständig Reformen von der Politik einfordern, die auf wissenschaftlichen Erkenntnissen und erprobten Lösungsansätzen beruhen. In nur zwei Jahrzehnten wird so allen ein angemessenes Wohnen ermöglicht werden. So wird beispielsweise jeder Eigentümer einer Luxuswohnung für eine Sozialwohnung aufkommen müssen, nicht am Rande der Stadt, sondern gleich um die Ecke. Allgemein wird für Erwerbstätige die Vier-Tage-Woche gelten, am fünften Tag werden alle Bürgerinnen und Bürger ehrenamtlich für die Gemeinschaft arbeiten. Sie werden zugewanderte Neubürgerinnen und Neubürger beim Erlernen der deutschen Sprache unterstützen, sie werden bei der häuslichen Pflege von Älteren und Kranken helfen. Die Stadt wird weniger gespalten sein. Alt und Jung, Menschen mit und ohne Migrationserfahrung, Arm und Reich werden zusammenrücken: Sie werden miteinander leben und sprechen.  

Jutta Allmendiger ist Soziologin und Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung.


…Museen als Labore (Hermann Parzinger)

Die Welt von heute ist multipolar und interdependent. Geografische Räume rücken durch die digitale Transformation, verdichtete Wissens- und Warenflüsse und die hohe Mobilität der Bevölkerung zusammen. Daraus erwächst die Erfahrung einer beschleunigten, eng verflochtenen und komplexen Weltgesellschaft, aber auch Verunsicherung und das Bedürfnis nach Orientierung. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach der Bedeutung und der gesellschaftlichen Rolle von Kultureinrichtungen neu.

Sammlungsinstitutionen wie Museen, Bibliotheken und Archive, von denen jene in Berlin unter dem Dach der Stiftung Preußischer Kulturbesitz zu den größten und bedeutendsten unseres Landes zählen, stehen vor völlig neuen Herausforderungen. Sie wollen nicht länger Horte disziplinär geordneten und streng nach Sparten getrennten Wissens sein, sondern sich zu gesellschaftlichen Laboren und Plattformen für Austausch und Partizipation weiterentwickeln.

Die Berliner Sammlungen spiegeln Geschichte auf ganz unterschiedlichen Ebenen, sie sind materialisierte Vergangenheit. Aber noch immer wird die Macht der Objekte unterschätzt. Dabei sah man die Museumsinsel schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts als „Freistätte für Kunst und Wissenschaft“ und betrachtete – je nach Standpunkt – entweder die Museen als Teil der Berliner Universität oder die Universität als einen den Museen angeschlossenen Lehrbetrieb. Die Verbindung von sammlungsbezogener Grundlagenforschung und universitärer Lehre ist also seit den frühesten Anfängen in die DNA der verschiedenen Stiftungseinrichtungen eingeschrieben.

Für die Zukunft kann dies nur bedeuten, dass außeruniversitäre Sammlungsinstitutionen und universitäre Forschung und Lehre in den nächsten zehn Jahren strategische Partnerschaften eingehen, sich noch enger verbinden und gemeinsame Fellowship-Programme und Kompetenzzentren entwickeln. Der in Planung begriffene Forschungscampus Dahlem könnte ein solcher Ort der neuartigen Vernetzung Berliner Wissenschaftsinstitutionen sein, aber natürlich gilt dies auch für das Kulturforum als Forum der europäischen Kunst und Kultur der Neuzeit und der Moderne oder für die Museumsinsel samt Humboldt Forum.

Die sammlungsbezogene Grundlagenforschung ist einer der zentralen Pfeiler und Traditionskerne der Berliner Gedächtnisinstitutionen. Doch das Potenzial, mithilfe der Dinge aus unseren kunst-, kultur-, natur- und technikgeschichtlichen Museen die Verflechtungen unserer Welt begreiflich zu machen, ist noch längst nicht ausgeschöpft. In Zukunft müssen wir dieses Wissen, das aus unseren Objekten erwächst, auf vielfältige Weise in die Gesellschaft kommunizieren, denn nur gemeinsam erarbeitetes Wissen von- und übereinander kann zu mehr Respekt und Toleranz führen und damit langfristig eine friedfertige Zukunft gewährleisten. 

Hermann Parzinger ist Prähistoriker und Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz.


…passgenaue Fördermittel (Wolfgang Marquardt)

In Berlin brummt es. Das sieht man, wenn man den aktuellen Förderatlas der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Hand nimmt. Da hat Berlin bei den wettbewerblich eingeworbenen Fördermitteln die Münchener Region als stärksten Standort Deutschlands überholt. Das Ergebnis ist beeindruckend. Wissen ist das Kapital der Stadt, Wissenschaftsförderung daher extrem gut investiertes Geld.

Die Vernetzungsgrafen im Förderatlas belegen, dass die Berliner Wissenschaftseinrichtungen untereinander sehr gut vernetzt sind. Doch hier ist Luft nach oben. Es müssen mehr Förderinstrumente entwickelt werden, die Anreize für Kooperationen schaffen. Natürlich braucht es geniale Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die ihr kreatives Chaos ausleben und eigenen Ideen folgen. Aber um die großen Themen aus Gesellschaft, Technologie oder Wissenschaft anzugehen, sind leistungsstarke Verbünde unerlässlich.

Die Einstein Stiftung hat hier einen wichtigen Beitrag geleistet. Durch ihre kompromisslose Orientierung an Qualität und Exzellenz schafft sie Klasse und nachhaltig wirkende Zusammenschlüsse. Sie setzt auf Köpfe und trägt so indirekt zur Strukturbildung bei. Denn erfolgreiche Wissenschaftler ziehen andere an, die wiederum oft Verbünde bilden, um ihre Ideen voranzubringen.

Berlin braucht eine Instanz, die über Institutionengrenzen hinweg eine Strategie für den Wissenschaftsstandort entwickelt, Kräfte bündelt, wo sie fragmentiert sind, Lücken schließt, wo große Wirkung entstehen könnte. Die Einstein Stiftung nimmt bereits heute eine integrierende Rolle zwischen den Institutionen ein. Sie muss sich entscheiden, ob sie in Zukunft auch ein strategischer Spieler sein will.

Ein Modell, das gut zur Einstein Stiftung passen würde, ist der Past-merit-Ansatz, der Förderung an frühere Ergebnisse knüpft. Denn im Zeitalter der Exzellenzwettbewerbe und großformatigen Förderinstrumente erkennt man einen großen Trend zur Verheißung. Man reißt ein tolles Thema auf, verspricht viel, manchmal zu viel. Wird diese Verheißungsmaschine überhitzt, geht das auf Kosten der Glaubwürdigkeit der Wissenschaft und ihrer Akteure.

Potenziale sehe ich auch im privaten Bereich. Mit dem Hauptstadtbonus und der bunten Wissenschaftslandschaft ist Berlin ein attraktiver Standort für private Stifter. Hier lohnt es sich, die Anstrengungen zu intensivieren. Das zeigen Beispiele aus jüngster Zeit, wie der Förderfonds Wissenschaft Berlin oder die Initiative der Damp-Stiftung im Rahmen der Einstein Stiftung.

Wenn Berlin es schafft, mithilfe passgenauer Fördermittel aus der Masse seiner hochverdichteten Wissenschaftslandschaft heraus möglichst homogen auch Klasse werden zu lassen, dann ist es als deutscher Hotspot der Wissenschaft auf der internationalen Landkarte gesetzt. Der Knoten hat sich gelöst, jetzt muss aus der positiven Grundstimmung und dem Willen vieler Großes entstehen.

Wolfgang Marquardt ist Ingenieurwissenschaftler und Leiter des Forschungszentrums Jülich.