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Noch immer wird Migration zur Ausnahme erklärt. Wir müssen sie endlich als Normalität akzeptieren und als Seismografen für Demokratie nutzen

Migration ist keine Ausnahme, sondern Normalität. Was aber nutzt es, das zu sagen? Was richten wir aus, wenn wir diese Realität immer wieder betonen, Migration aber in der medialen Berichterstattung, durch die Politik und soziale Ausschließungen immer wieder zur Ausnahme erklärt und gemacht wird? 

Auch in den Wissenschaften war das lange nicht anders. Dort widmete man sich spät und zögerlich der Migration als Teil deutscher Geschichte. Fragen nach ihr galten in den Politischen Theorien und der Sozialphilosophie als eher nachrangig. Die Migrationsforschung verharrte bei der Betrachtung gesellschaftlicher Ränder, wenn sie etwa „ethnische“ Gruppen in den Blick nahm. Sowohl für die Wissenschaft wie auch für die Politik blieb Migration viel zu lange ein Spezialgebiet und wurde nicht als gesellschaftlich relevant anerkannt. 

Nehmen wir die „Gastarbeiteranwerbung“ seit dem ersten Anwerbevertrag 1955 mit Italien. Die seinerzeit vorherrschende Vorstellung, dass man die Gäste wieder wegschicken könnte, wenn sie ihre Arbeit unter der Logik von Fabrikkontrolle und Alltagsrestriktionen in Wohnheimen verrichtet haben würden, war eine Täuschung. Erste Stimmen zur Integration einer „zweiten Generation“ blieben bis Ende der 70er Jahre eher schwach, stattdessen war von entstehenden Ausländergettos die Rede. Für die Defizite in Bildung und Wohnungsbau erklärte man hetzerisch die migrantische Bevölkerung selbst für verantwortlich. 

Die diffamierende Unterscheidung zwischen Integrationswilligen und -fähigen sowie politischen Flüchtlingen und „Wirtschaftsasylant*innen“ machte die seit den 70er Jahren stetig wachsende migrantische Bevölkerung zur Zielscheibe öffentlicher Anfeindungen. Diesen politischen und medialen Kampagnen verdanken wir die bis heute anhaltenden sozialen Nachwirkungen. Die Restriktionen im Asylrecht seit den 90er Jahren bilden die Blaupause einer Migrationspolitik, die menschliche Mobilität immer noch zur Ausnahme erklärt und die sich Integration zwar auf die Fahnen schreibt, aber eine gute Lösung für das 21. Jahrhundert erst noch ausarbeiten muss. 

Das hat Auswirkungen auf die Demokratie. Diese lebt und überlebt im Kern nämlich von einer besonderen Dynamik: Ihre Verfasstheit trifft stets auf ein kritisches gesellschaftliches Element, auf Praktiken, die ihre Legitimität herausfordern, ihre stete Erneuerung provozieren und hervorbringen oder auch: verfassen. Ein solches Element ist die Migration. 

Das macht Migration für uns so attraktiv, wenn wir den demokratischen Grad unserer Gesellschaften einschätzen wollen. Denn Einwanderung ist per se nicht Teil einer bestehenden Demokratie. Sie ist immer erst ein noch kommender demos. Sie ist stets Blick von außen und innen. Sie hat viele Stimmen. Durch sie sehen wir die Welt aus vielen gleichzeitigen Perspektiven. Sie ist sozial und kollektiv, ungezügelt, grenzenlos. Darin ähnelt sie der Demokratie. 

Natürlich können wir die zukünftige Bevölkerung nicht immer schon abbilden. Aber die prinzipielle Tatsache, dass wir uns verändern werden, müssen wir in politischen und sozialen Rechten für kommende Bevölkerungen berücksichtigen. Wir müssen Migration endlich als Normalität akzeptieren und sie als einen Seismografen für Demokratie nutzen. 

Der „Skandal“ der Migration passt zum „Skandal“ der Demokratie. Denn die Annahme der demokratischen Gleichheit ist stets strittig. Die Gleichzeitigkeit von Gleichheit und Freiheit bleibt widersprüchlich. Migration fragt danach, warum manche mehr als andere entscheiden, sprechen, gehört und gesehen werden oder über andere herrschen. Jede Einschränkung des demokratischen Einflusses ist ein ungerechtfertigter und willkürlicher Ausdruck von Macht, der gegen das demokratische Prinzip verstößt. So weist uns Migration auf die unvermeidlichen Unzulänglichkeiten begrenzter Demokratie hin und konfrontiert uns mit zentralen Fragen der Erneuerung von Demokratie. Migration weiß: Wir brauchen Solidarität und Öffnung für Demokratie. Sie bringt stets neue Themen mit, auf die sich die Öffentlichkeit beziehen muss: eine bisher ungehörte Stimme, eine Figur, die nicht gesehen wurde. Migration weiß, eben weil sie an die Grenzen geht, um die transformative Kraft der Demokratie – und fordert sie zugleich heraus.

Manuela Bojadžijev ist Professorin am Institut für Europäische Ethnologie und am Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) der Humboldt-Universität zu Berlin. Mit Carolin Emcke kuratierte sie ein digitales „Archiv der Flucht“ für das Haus der Kulturen der Welt (HKW).

Text: Manuela Bojadžijev

Stand: Dezember 2021