Editorial

Alles schien eindeutig: Nach dem Kalten Krieg war die liberale Demokratie das überlegene politische System, der Westen, der Norden gaben sich einem Traum von Freiheit, Frieden und Wohlstand hin. Einige sahen das „Ende der Geschichte“ gekommen. Doch alles kam anders – die Geschichte schrieb sich fort, mischte die Karten der globalen Politik neu. Neue Kommunikationsmittel entstanden, die Aufmerksamkeit nahm ab. Berlusconi schien eine singuläre Farce, doch spätestens seit dem Rechtsruck in Europa, dann bei Trump wurde vielen deutlich: Die Demokratie ist kein Selbstläufer. Längst sehen wir in Europa, wie Staaten in autoritäre Regime umgebaut werden können – teils mit den pervertierten Instrumenten der Demokratie. Auch hierzulande hat die Corona-Krise einige gespenstische Allianzen auf den Plan gerufen, die sich ausgerechnet auf die Verfassung berufen. Gehört das Krisenhafte also ebenso zur Demokratie wie der Dissens?

„Gegen die Krise der Demokratie hilft nur mehr Demokratie“, behauptet jedenfalls die Philosophin Rahel Jaeggi im Gespräch mit dem Politikwissenschaftler Michael Zürn. Ihr Ansatz, die Demokratie weiterzudenken, anstatt sie als „Bollwerk“ zu halten, trifft den Leitgedanken dieser Ausgabe von Albert. Auf einem Streifzug durch die politische Hauptstadt suchen wir mit Forschenden nach Wegen, diese bewährteste Regierungsform zu stärken.

Der Experte für Politische Theorie Herfried Münkler sieht ein geeignetes Mittel dafür in verpflichtenden Bürgergremien auf kommunaler Ebene, die per Losverfahren zusammengesetzt werden. In Berlin tragen Bürgerinnenforen bereits erste politische Früchte und werden wissenschaftlich begleitet. Die Soziologin Jutta Allmendinger plädiert für Orte des Austausches, um mehr Miteinander in der Gesellschaft zu ermöglichen. 

Dass auch aus tiefen Tälern ein Aufstieg erfolgen kann, zeigt das Beispiel USA. Im Interview erläutert der Demokratieforscher Daniel Ziblatt, wie Donald Trump sich zum Vorbild für Rechtspopulisten anbot und damit ein radikales, globales Gegenprogramm zur liberalen Demokratie beförderte – aber auch den Widerstand dagegen. Und die Philosophin Romy Jaster erklärt, wie man mit Menschen ins Gespräch kommt, die sich ihre Welt mit Fake News zusammenreimen, und warum dieser Dialog in einer Demokratie so wichtig ist. 

Dass wir gerade in Berlin nach Ideen für die Zukunft der Demokratie suchen, liegt auf der Hand. Die politische Hauptstadt ist auch ein Zentrum der Erforschung von Politik. Juristinnen, Historiker, Philosophinnen, Politik- und Sozialwissenschaftler kommen hier zusammen, um die Gegenwart zu durchleuchten, etwa an der Humboldt-Universität, der Freien Universität, dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung oder dem Exzellenzcluster SCRIPTS, das sich der Analyse der weltweiten Anfechtung liberaler Ordnung widmet. 

In der Wissenschaft wird viel über Freiheit und Mitbestimmung diskutiert. Während in Deutschland an Universitäten über Gewichtungen, Gremienbesetzungen und Befugnisse gestritten wird, steht anderswo die Wissenschaftsfreiheit grundsätzlich auf dem Spiel. Gefährdete Forscher und Forscherinnen aus vielen Ländern finden eine neue Heimat in Berlin – auf einem Teil ihres akademischen Weges unterstützt durch die Einstein Stiftung.

Demokratie ist anstrengend, sie kostet Zeit und Nerven, vor allem kostet sie Investitionen in Bildung, Wissenschaft und Forschung, in nachhaltige Wirtschaftsformen und öffentliche Infrastrukturen. Aber dieser Aufwand lohnt sich, wie der 17-jährige Schüler Enrico aus Lichtenberg es für Albert zusammengefasst hat: „Demokratie ist das Recht auf die Wahl der Zukunft.“ 

Ich wünsche Ihnen eine aufrüttelnde Lektüre! 

Martin Rennert, Vorstandsvorsitzender Einstein Stiftung Berlin

Stand: Dezember 2021