Neuland

Ein Beitrag aus ALBERT Nr. 7 "Demokratieforschung"

Apps, Internetplattformen und Open-Source-Software helfen, die Demokratie transparenter, partizipativer und gerechter zu gestalten. Neun digitale Ideen aus Berlin

 

Machete fürs Bürokratiedickicht

fragdenstaat.de

 

Sagen Sie mal, was wird hier eigentlich beschlossen, verwaltet und umgesetzt? Auf Anfrage müssen deutsche Behörden Bürger*innen Auskunft geben – so will es das Informationsfreiheitsgesetz. Das Problem: Der hiesige Behördendschungel ist so undurchsichtig, dass viele kehrtmachen, bevor sie an der richtigen Adresse sind. „Welche Dokumente gibt es überhaupt, in welcher Behörde könnten sie liegen und was ist der korrekte Weg, sie anzufordern?“, umreißt Judith Doleschal die auftretenden Fragen. Seit FragDenStaat rund zehn Jahren geben sie und ihr Team von der Open Knowledge Foundation in Berlin Bürger*innen eine Machete für das Bürokratiedickicht an die Hand. Mithilfe ihres Portals FragDenStaat kann jede und jeder amtliche Dokumente nach dem Informationsfreiheitsgesetz anfordern. So führt FragDenStaat Schritt für Schritt durch den Antragsprozess, gibt Tipps beim Formulieren und verschickt die Anfrage automatisiert an die korrekte Adresse. Die Auskunftsersuche, ebenso wie die Antworten der Behörden, stellen Doleschal und ihre Mitstreiter*innen öffentlich zur Verfügung. Ihr bislang größter Erfolg? 2018 forderten sie das Glyphosat-Gutachten beim Bundesinstitut für Risikobewertung an. „Mit Verweis auf das Urheberrecht hat das Bundesinstitut dann versucht, die Veröffentlichung zu unterbinden, also aus dem Urheberrecht ein ‚Zensurheberrecht‘ zu machen“, sagt Doleschal. „Das ging vor Gericht und im Mai 2021 haben wir Recht bekommen: Das Gutachten bleibt frei zugänglich.“ 

 


Chat mit Andersdenkenden

diskutiermitmir.de

 

These, Gegenthese, Eskalation: In den sozialen Medien ist das gang und gäbe, Niklas Rakowski aber kann sich für diese Art von überhitztem Austausch nicht begeistern. Politische Meinungsbildung und Wahlkampf fänden zwar zunehmend digital statt, die Anreizstruktur von Plattformen wie Facebook oder Twitter sei aber nicht unbedingt mit demokratischen Werten vereinbar. „In erster Linie sind das Märkte für Werbeangebote. Eine wirklich gute politische Diskussion habe ich in den sozialen Medien noch nie erlebt“, sagt Rakowski. „Dass es hier stets ein Publikum gibt, das derben Sprüchen, einfachen ‚Wahrheiten‘ und persönlichen Angriffen besonders viel Beachtung schenkt, scheint dazu zu führen, dass extremste Positionen vertreten werden. In Gesprächen unter vier Augen argumentieren Menschen in der Regel viel differenzierter.“ Statt nun tatenlos zuzusehen, wie sich der politische Diskurs weiter polarisiert, rief Rakowski 2017 gemeinsam mit drei Freund*innen aus der Schulzeit die App DiskutierMitMir ins Leben. „Wir wollten Menschen mit gegensätzlichen politischen Meinungen Gelegenheit geben, sich auszutauschen – anonym und ohne Publikum, in verschlüsselten 1:1-Chats.“ Anfangs mussten die Diskutant*innen eine Partei auswählen, inzwischen positionieren sie sich zu bestimmten Thesen. „Der Algorithmus sucht dann jemanden, der möglichst stark abweichende Antworten eingegeben hat.“ Rund 20.000-mal tauschten Nutzer*innen vor der Bundestagswahl 2017 ihre Positionen auf diskutiermitmir.de aus, im Vorfeld der Europawahlen 2019 diente die App – mit eingebauter Übersetzungsfunktion – sogar als paneuropäische Diskussionsplattform. Im Kern gehe es darum, demokratisches Verhalten einzuüben. „Im Gespräch mit Andersdenkenden ändert man nicht unbedingt seine Meinung, aber man lernt andere Lebensrealitäten kennen, und das schafft gegenseitiges Verständnis“, sagt Rakowski. „Ich denke, jede dieser Erfahrungen ist ein wichtiger demokratischer Moment.“

 


Überzeugt uns!

plurapolit.de

 

Ein Thema, neun Meinungen – das ist das Konzept von PluraPolit, das 2019 mithilfe des Berliner Start-up-Stipendiums das Licht des Internets erblickte. Jeweils eine Audiominute haben Politiker*innen der sechs Bundestagsparteien, Journalist*innen und Wissenschaftler*innen hier Zeit, sich zu kontroversen Themen zu positionieren – zum Gendersternchen etwa oder zum bedingungslosen Grundeinkommen. „Es braucht ein Medium, in dem verschiedene Meinungen nebeneinanderstehen, sodass man sich innerhalb kurzer Zeit auf vergleichbare Art über Positionen informieren kann“, erklärt Caspar Ibel die Idee hinter dem Projekt. Ansprechen wollen der Student der Volkswirtschaftslehre und Politikwissenschaften und seine neun Mitstreiter*innen, die sich momentan allesamt ehrenamtlich bei PluraPolit engagieren, vor allem junge Menschen. „Es gibt ja diesen Mythos der politikverdrossenen Jugend und wir wollten für diese Jugend, die gar nicht so politikverdrossen ist, etwas zwischen klassischem Zeitungsformat und den lustigen, aber zu kurzen TikTok-Videos machen: ein Mittelding zwischen zu kompliziert und zu vereinfacht.“ Die Plattform könne dabei helfen, sich niedrigschwellig eine Meinung zu bilden, meint Ibel. „Wir wollen jungen Menschen zeigen, dass es viele unterschiedliche Meinungen zu Sachverhalten gibt. Diese Meinungsvielfalt wird in den Filterblasen der sozialen Medien oft nicht abgebildet. Wichtig zu wissen ist aber: Auch bei uns stellen sich Politiker*innen im besten Licht dar. Insofern sollte man das Gesagte trotzdem immer auch kritisch hinterfragen.“


Krypto-Stimmen

hiig.de/project/decide

 

Ein Kreuzchen alle vier Jahre? Viele meinen: Da geht mehr. Kai Gärtner und seine Kolleg*innen vom Alexander von Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft (HIIG) wollten basisdemokratische Abstimmungen unkomplizierter und günstiger machen – und haben 2017 im Forschungsprojekt DECiDE eine technische Lösung dafür gefunden: ein digitales Verfahren für Stichprobenabstimmungen oder random-sample voting. Die Idee: Analog zum Konzept des Bürgerrats werden politische Entscheidungen jeweils von einer Gruppe von Menschen getroffen, die per repräsentativer Zufallsstichprobe ausgewählt wird. Technisch möglich wird das mittels eines komplexen kryptografischen Verfahrens, das Anonymität sicherstellt: Wo analoge Bürgerinnenräte per Post oder an einem Stichtag persönlich vor Ort abstimmen, was kostspielig und mit erheblichem logistischen Aufwand verbunden ist, ermöglicht random-sample voting Abstimmungen auf mobilen Endgeräten – überall und zu jeder Zeit. Ob kommunal, regional, national oder sogar international – es braucht eine App und ein verifiziertes Nutzerkonto, dann lässt sich das Verfahren problemlos skalieren. Bereits heute nutzen einige Städte ähnliche Verfahren für die Vergabe von Behördenterminen, Fahrradverleihsysteme oder den Besuch in der Bibliothek. „Man muss allerdings dazusagen, dass es nicht ganz einfach ist, Betrug auszuschließen und sicherzustellen, dass die Person, die das nutzt, auch wirklich die Person ist, die sie vorgibt zu sein“, gibt der Informatiker zu bedenken. „Um mit Blick auf Wahlen und Abstimmungen Sicherheit zu gewährleisten, könnte man vielleicht den elektronischen Personalausweis an ein Bürgerkonto koppeln.“ Dann sei das Verfahren eine gute Möglichkeit, kostengünstig und mit geringem Aufwand über politische Entscheidungen abzustimmen.


Flüssige Beteiligung

liqd.netadhocracy.plus

 

Moritz Ritter ist überzeugt: „Gemeinwohlorientierte Digitalisierung ist möglich. Und digitale Tools sind ein zentraler Baustein, um Demokratie neu erlebbar zu machen.“ Der Politikwissenschaftler arbeitet bei Liquid Democracy, einem gemeinnützigen Verein, der sich 2009 „in der Zeit gründete, in der die Wahlbeteiligung unglaublich zurückging, das Thema Netzpolitik aufkam und das Internet als politischer Raum entdeckt wurde“. Seitdem stellt Liquid Democracy die Open-Source-Software Adhocracy zur Umsetzung von Beteiligungsprozessen zur Verfügung. „Als NGO, Bürgerbewegung oder lokaler Ortsverein einer Partei bekomme ich einen eigenen Bereich auf der Homepage. Da kann ich dann zum Beispiel Ideen sammeln, einen Bürgerhaushalt machen oder die Entwicklung eines Wahlprogramms diskutieren.“ Ein bisschen sei das, als habe man eine eigene Facebook-Seite, sagt Ritter, „nur eben für Beteiligungsprozesse, und vor allem: ohne Hassrede“. 2020 arbeitete der Verein mit der Enquete-Kommission „Künstliche Intelligenz“ des Deutschen Bundestags zusammen, um Bürger*innen an der Diskussion über ethische und soziale Fragen rund um das Thema KI zu beteiligen. Im selben Jahr unterstützte das Liquid-Democracy-Team unter anderem den Beteiligungsbeauftragten der Stadt Werder (Havel). Hier konnten Einwohner*innen Vorschläge für einen Zukunftshaushalt einreichen. Die Entscheidung, welche Projekte am Ende finanziert werden, trafen ausschließlich Kinder und Jugendliche. „Für mich ist das die Essenz von Liquid Democracy: Wir binden Gruppen ein, die im politischen Prozess sonst kaum vorkommen.“

 


Algorithmen entlarven

unding.de

 

Ungehobelte Algorithmen in ihre Schranken weisen: Möglich macht das die Beschwerdeplattform UNDING von AlgorithmWatch. „Wenn Menschen durch automatisierte Entscheidungen benachteiligt oder diskriminiert werden, dann können sie sich an UNDING wenden“, sagt Projektmanagerin Anna Lena Schiller. Im März 2021 ging die Plattform an den Start, melden kann man hier zum Beispiel rassistische Fotoautomaten. „Hintergrund ist, dass in deutschen Behörden Fotoautomaten stehen, die schwarze Menschen nicht erkennen: Je dunkler die Hautfarbe, desto schlechter die Gesichtserkennung. Das Gerät sucht und sucht dann, macht aber kein Bild.“ Weitere „Undinger“ sind Navigationsprogramme, die Lkws durch Fahrradstraßen leiten, intransparente Schufa-Scores oder fragwürdige Vervollständigungsvorschläge bei Suchanfragen. „Wenn wir glauben, der Computer wird schon recht haben mit seinen Entscheidungen, dann sind wir technologisch fremdgesteuert“, betont Schiller. Um Benachteiligung und Diskriminierung durch Algorithmen entgegenzusteuern, hilft UNDING Geschädigten mit automatisch generierten Anschreiben. Gerichtet sind diese an die Verantwortlichen in Firmen und Behörden. „Es braucht mehr Verbindlichkeit und Transparenz und UNDING kann da als Druckmittel dienen: Es gibt immer mehr Prozesse, bei denen automatisch entschieden wird und Firmen wie Google, Apple und Facebook die Regeln vorgeben“, sagt Schiller. „Die Leidtragenden sind Menschen – und dagegen müssen wir etwas unternehmen.“ 

Text: Nora Lessing

Stand: Dezember 2021