Es wird verachtet, weil es stinkt und eine unschöne Färbung hat. Doch das Abwasser kann uns verraten, wie gesund die Menschen sind, welche Medikamente oder Drogen sie nehmen, ob Infektionswellen bevorstehen und welche Schadstoffe uns gefährlich werden können. Ein Besuch im Klärwerk Ruhleben, wo das braune Gold zusammenfließt
Text: Susanne Donner
Vera Schumacher zeigt auf eine Kurve, die steil nach oben geht. „Wir sehen, dass es jetzt im Oktober 2023 wieder mehr Corona-Infektionen in Berlin gibt“, sagt sie. „Im Senat wird gerade diskutiert, ob wieder mehr zum Tragen von Masken ermuntert wird.“
Vera Schumacher ist Biologin. Sie arbeitet bei den Berliner Wasserbetrieben am Standort Ruhleben im Westen der Hauptstadt. Noch vor Jahren hätte sie es für einen seltsamen Scherz gehalten, hätte ihr jemand gesagt, dass sie einmal ein Frühwarnsystem für Infektionen mit betreiben würde. Heute rufen das Robert Koch-Institut und das Berliner Landesgesundheitsamt regelmäßig bei ihr an. Die Behörden brauchen dringend Infektionsdaten aus dem Abwasser. Diese Informationen laufen sonst erst Tage, wenn nicht Wochen später aus Arztpraxen und Krankenhäusern zusammen. Krankheitserreger verlassen den kranken Körper zuerst mit den Ausscheidungen. Der Weg durch die Kanalisation ist somit ihre erste Spur in die Umwelt. Schumacher sah die Corona-Infektionswelle des Jahres 2021 schon sieben Tage bevor die öffentlichen Stellen warnten. Doch damals traute man dem Abwassermonitoring noch nicht so recht.
Jeden Tag treffen die dunkelbraunen Abwasserproben im ersten Stock des Labors von Vera Schumacher ein. Sie werden mittlerweile automatisch aus dem Zulauf der fünf Klärwerke Berlins entnommen. Es handelt sich um eine sogenannte 24-Stunden-Mischprobe: Über einen Zeitraum von 24 Stunden werden in regelmäßigen Abständen kleine Wassermengen entnommen und miteinander vermengt. Das soll Peaks, etwa wenn ein Krankenhaus schlagartig viele Abwässer einleitet, nivellieren und ein realistisches Tagesbild liefern. In der übelriechenden Brühe schwimmen nicht nur SARS-CoV-2-Viren, sondern auch zahlreiche Bakterien, Durchfall- und Schnupfenviren. Schumacher zeigt, was mit dem braunen Abwasser geschieht. Mit verschiedenen Pufferlösungen und einer Polypropylenmembran filtert sie die Erreger aus der Probe. In winzigen Pipettenspitzen befinden sich am Ende 50 Mikroliter einer klaren Lösung mit den Viren und Keimen. Schumacher träufelt zwei Flüssigkeiten hinzu; es handelt sich um sogenannte Sonden, die an die Gene N1 und N2 im SARS-CoV-2-Virus binden und dann eine Fluoreszenz auslösen. Ein Analysegerät kann diese Fluoreszenz messen und damit die Menge an SARS-CoV-2-Viren detektieren.
Um auszurechnen, wie viel Virus im Abwasser schwimmt, brauchen die Mitarbeitenden der Berliner Wasserbetriebe allerdings eine Information über die Menge an Fäkalabwasser. Bei Starkregen würde ihnen sonst ein niedriges Infektionsgeschehen vorgegaukelt, weil der Niederschlag das Abwasser verdünnt. Das harmlose Paprika-Mild-Mottle-Virus, das die Oberfläche der roten Paprika besiedelt, dient als Referenz, um abzuleiten, wie hoch der Fäkalanteil im Zulauf der Kläranlage ist. Das Virus übersteht die Passage durch den Verdauungstrakt unbeschadet und lässt sich im Abwasser nachweisen. „Das ist aber noch nicht der perfekte Standard“, gesteht Schumacher. „Wir sehen aktuell, dass die Leute anders als erhofft nicht zu jeder Jahreszeit gleich viele rote Paprika essen. Deshalb suchen wir jetzt einen neuen, gleichförmigeren Standard.“ Das ist gar nicht so leicht. An Koffein hat man schon gedacht. Das ist aber zu aufwendig nachzuweisen. Schließlich soll das Corona-Monitoring möglichst wenig kosten.
Nichtdestotrotz hat die Corona Pandemie klargemacht: Das Abwasser ist ein ungeschöntes Seismoskop der Krankheiten in der Bevölkerung. Und besonders seitdem es keine flächendeckenden PCR-Corona-Tests mehr gibt, sind die Daten aus den Hinterlassenschaften für die Surveillance, also die Früherkennung von Erkrankungswellen, gefragt. „SARS ist der Türöffner gewesen. Jetzt weitet sich der Blick“, sagt Schumacher. „Wir könnten in Zukunft auch Grippeerreger, Atemwegskeime wie RSV und Antibiotikaresistenzen untersuchen.“
Die Berliner Wasserbetriebe kooperierten bei der Entwicklung der Corona-Diagnostik mit dem Max-Delbrück-Centrum in Berlin-Buch, das schon ab 2021 nach anderen Spezies im Abwasser Ausschau hielt. Hepatitis-, Grippe- und Durchfallerreger konnten sie beispielsweise genauso detektieren. Andere Länder haben so bereits Ausbrüche von Kinderlähmung verhindern können. „Es ist sogar möglich, das Abwasser als eine Art Mine zu nutzen, um nach bisher unbekannten Virusgenomsequenzen und damit letztlich nach unbekannten Krankheitserregern zu schürfen, denn davon gibt es extrem viele“, skizziert der Molekularbiologe Markus Landthaler vom Max-Delbrück-Centrum. Im Entwurf der Kommunalabwasserrichtlinie der EU ist sogar vorgesehen, dass aus dem Abwasser künftig systematisch Gesundheitsinformationen gewonnen werden. Die Keime, um die es geht, sind allerdings nicht festgelegt. Auch die Finanzierung ist noch unklar. Die tägliche Erfassung der Coronaviren im Abwasser bezahlt das Land Berlin zumindest noch bis zum Jahresende. Ein Teil der Kosten wird danach noch über das Projekt „Amelag – Abwassermonitoring für die epidemiologische Lagebewertung“ gedeckt, das Ende 2024 ausläuft.
Das Bundesgesundheitsministerium sowie das Bundesumweltministerium finanzieren mit dem Vorhaben den Aufbau eines bundesweiten Frühwarnsystems auf Basis des Abwassers mit über 30 Millionen Euro. In den USA ist man einen Schritt weiter. Im Projekt WasteWaterScan werden zwölf unterschiedliche Erreger – neben SARS-CoV-2, Grippe- und RSV-Viren auch der sich ausbreitende Pilz Candida albicans sowie die als biologische Waffe gefürchteten Pockenerreger – im kommunalen Abwasser von 400 Entsorgern detektiert. Candida albicans sorgte in letzter Zeit für Schlagzeilen: Er ist ein neuer Erreger. In den USA ist er punktuell gegen alle Antibiotikaklassen resistent und kann noch dazu von Mensch zu Mensch übertragen werden. Forschende der Stanford University haben die Abwassertestbatterie während der Corona-Pandemie ab 2020 entwickelt. Im Oktober 2023 vergaben die staatlichen Stellen die Testung nun an den kommerziellen Partner Verily.
Das Abwasser verrät viel Verborgenes über die Menschen. So zeigten 2023 neue Daten aus dem Berliner Abwasser, dass der Kokainkonsum in der Hauptstadt in den letzten fünf Jahren um 58 Prozent gestiegen ist. Berlin ist damit trauriger Rekordhalter in Deutschland, gefolgt von Dortmund und München. Abwasser kann aber auch effektiv vor verborgenen Gefahren warnen, die durch menschliche Lebensweisen in Umlauf geraten. Derzeit spülen Kläranlagen neben Viren Tausende unterschiedliche 72 Schadstoffe in Flüsse und Seen, weil sie nicht richtig abgebaut werden können. Darunter etwa Spuren des Schmerzmittels Diclofenac, das sich mittlerweile in den meisten Gewässern nachweisen lässt. „Das ist nun ein Problem geworden, weil die Chemikalie die Nieren von Fischen schädigt“, berichtet Martin Jekel, Hydrologe und Direktor des Kompetenzzentrums Wasser Berlin. Andere Schmerzmittel wie Ibuprofen zersetzen sich dagegen rasch genug und stören den Wasserhaushalt und ökologische Prozesse nicht. Der Tegeler See bei Berlin ist besonders hoch mit Rostschutzmitteln aus der Klasse der Benzotriazole belastet. Diese Chemikalien stecken in Geschirrspülmaschinentabs, damit die Geräte im Inneren nicht rosten. Fischen und Wasserschnecken schaden sie jedoch in den nun detektierbaren Mengen. Vor diesem Hintergrund initiierte das Bundesumweltministerium 2020 einen Dialog mit verschiedenen Akteur:innen, um Minimierungsmaßnahmen zu erarbeiten. Süßstoffe wie Acesulfam-K gelten mittlerweile gar als Indikatoren dafür, wie naturbelassen ein Gewässer tatsächlich noch ist. Die Substanz schwappt mit den Fäkalien in die Klärwerke, baut sich dort aber kaum ab. Je mehr geklärtes Abwasser aus menschlichen Siedlungen in umliegende Gewässer fließt, desto höher sind die Gehalte im lokalen Wasserhaushalt.
Sorgen machen auch die steigenden Gehalte an PFAS, per- und polyfluorierten Alkylsäuren. Chemikalien aus dieser Kategorie sind besonders langlebig, was ihnen den Namen „Ewigkeitschemikalien“ eintrug. In weiten Teilen Europas sind sie bereits in Größenordnungen von Nanogramm je Liter Wasser in den Gewässern zu finden. Und da die prominentesten Vertreter Leberkrebs hervorrufen und das Immunsystem stören, ist das ein Alarmsignal. Die Europäische Kommission möchte die Substanzen in Zukunft zurückdrängen.
Obschon die Leit- und Grenzwerte verschiedener Schadstoffe im Trinkwasser oft nicht überschritten werden, bereitet die wachsende Zahl an Chemikalien den Wasserbetrieben doch Sorgen. Sie fürchten, dass der Aufwand zur Aufbereitung des Wassers steigt. Mehr und mehr Kommunen und Kläranlagenbetreiber erwägen bereits eine vierte Reinigungsstufe. Bisher reinigen die Klärwerke das Abwasser nur in zwei Stufen biologisch und mechanisch. In einer dritten Stufe werden Phosphate chemisch entfernt.
Aber Medikamentenrückstände, Süßstoffe, Mikroplastik, PFAS, auch viele Schadstoffe aus Industrieprozessen passieren diese drei Becken zu einem erheblichen Teil ungehindert. Sie gelangen in die Gewässer, und damit ist es nur eine Frage der Zeit, bis sie über den Wasserkreislauf im Trinkwasser auftauchen. Aktivkohlefilter sollen die gefährliche Fracht nun an den Kläranlagen abfangen. „Viele Anlagen in Baden-Württemberg sind schon damit ausgestattet und auch im Ruhrgebiet rüsten die Betreiber:innen nach“, sagt Jekel. Zehn Cent je Kubikmeter koste die Technologie, aus seiner Sicht ein vertretbarer Aufpreis.
Die Verschmutzung des Wassers kann allerdings auch diese vierte Reinigungsstufe nicht vollständig verhindern, warnt Klaus Kümmerer, Experte für nachhaltige Chemie von der Universität Lüneburg. Denn nicht alle Schadstoffe lassen sich gleichermaßen effektiv über Aktivkohlefilter entfernen. Bestimmte PFAS binden kaum daran. Keime und Erreger halten sie auch nur schlecht ab. Antibiotikaresistente Bakterien sowie Viren können also weiterhin ihren Weg in Flüsse und Seen finden. Und damit prinzipiell auch ins Trinkwasser gelangen. Eine umfassende Überwachung der Abwässer kann helfen zu verhindern, dass unerwünschte Substanzen und Erreger überhaupt in zu großer Menge in den Wasserhaushalt gelangen.
Manches Ergebnis des Corona-Monitorings hat Schumacher überrascht: „Wir haben am Abwasser des Flughafens Berlin, das gesondert geklärt wird, gesehen, dass der Flughafen gar nicht der Hotspot für neue Corona-Varianten ist, wie Fachleute vermutet hatten“, erzählt sie. Als dagegen die Maskenpflicht in den öffentlichen Verkehrsmitteln fiel, schnellten die Coronaviruszahlen im Abwasser in die Höhe.
Stand: März 2024