Mit welchen Augen sehen muslimische Gelehrte die Bibel? Knapp 100 Besucher waren am 14. Mai 2013 in die St. Matthäus-Kirche am Kulturforum gekommen, um Sabine Schmidtkes Antwort auf diese Frage zu hören. Die renommierte Islamwissenschaftlerin und frühere Diplomatin richtet mit finanzieller Unterstützung der Einstein Stiftung mehrere deutsch-israelische Summer Schools aus.
In ihrer Vorlesung nahm die Professorin von der Freien Universität Berlin ihre Zuhörer mit auf eine kulturhistorische Reise in den Nahen Osten. Im Mittelpunkt ihres Vortrags stand das ambivalente Verhältnis muslimischer Gelehrter zur Bibel: Oft vertreten sie die Auffassung, dass der Prophet Muhammad bereits in der Bibel angekündigt worden sei und zitieren entsprechende Bibelverse. Genauso oft findet sich in muslimischen Texten aber auch das Urteil, dass Christen und Juden ihre Offenbarungsschriften verfälscht haben sollen. Diese Meinung wurde bestärkt durch die vielen Übersetzungen der Bibel in andere Sprachen.
"Obwohl die beiden Auffassungen offensichtlich im Widerspruch zueinander stehen, tauchen sie in religiösen Schriften nicht selten direkt nebeneinander auf", sagt Sabine Schmidtke. "In Ansätzen finden sich diese Argumentationsweisen schon im Koran selbst." So stehe dort zum Beispiel: "Unser Gott und euer Gott sind einer."
Doch wie kamen die muslimischen Autoren im frühen Mittelalter zu ihrem Wissen über die Bibel? Welchen Zugang hatten sie zur Heiligen Schrift der Christen? "Da tappt die Wissenschaft noch heute im Dunkeln", so Sabine Schmidtke. Sie ist überzeugt, dass heutige Islamwissenschaftler die Sprachkenntnisse der frühen muslimischen Autoren oft überschätzen. Manche Autoren des frühen Mittelalters zitierten zum Beispiel einen Bibelvers in mehreren Sprachen, merkten aber nicht, dass es sich um denselben Vers handelte. Die entsprechenden Stellen hatten sie offenbar nur aus der Sekundärliteratur übernommen, ohne die zitierte Sprache zu verstehen.
"Erst für das 13. Jahrhundert ist eindeutig belegt, dass muslimische Gelehrte Zugang zu arabischen Übersetzungen der Bibel hatten", erklärt Sabine Schmidtke. In dieser Zeit bildete sich auch eine muslimische Bibelwissenschaft heraus, die sich zwar über die Jahrhunderte veränderte, aber bis heute fortbesteht.
Die Geschichte dieser Disziplin wissenschaftlich zu untersuchen, ist für Sabine Schmidtke eine große Herausforderung, da das Forschungsfeld stark ideologisch aufgeladen sei: "Ich denke, wir sollten die Unterschiede zwischen den Religionen anerkennen, aber ihre Geschichte zugleich als unsere gemeinsame Kulturgeschichte begreifen."
Text: Julia Walter