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Nachrichten der Einstein Stiftung Berlin


Askese der Algebra

Der zweigeschossige Bungalow ist schmucklos, die Flure grün-beige und ein wenig muffig, die Fenster an diesem kalten Morgen beschlagen. Arnimallee 3 in Dahlem, Ortstermin bei einer der berühmtesten Mathematikerinnen der Welt. Architektonischer Glamour sieht anders aus.

Hélène Esnault, kurzhaarig, energisch, humorvoll, wirkt nicht, als würde sie die spartanische Umgebung stören. Im Gegenteil: Die 59-Jährige, die in den vergangenen Jahren mit vielen internationalen Auszeichnungen geehrt wurde, könnte an jeder Spitzenuniversität dieser Welt forschen. Entschieden aber hat sie sich für ein Zwölf-Quadratmeter-Büro an der Freien Universität Berlin.

Dass sie seit Herbst 2012 hier arbeitet, ist aber nicht nur dem hartnäckigen Werben der Einstein-Stiftung zu verdanken, die ihr die erste Einstein-Professur angeboten hat. Es hat auch zu tun mit einer besonderen Lebensgeschichte, die in einem Arbeitervorort von Paris anfängt.

Die wissenschaftliche Laufbahn wurde Hélène Esnault nicht in die Wiege gelegt. Sie stammt aus einfachen Verhältnissen, ihre Eltern: eine Krankenschwester und ein Metallarbeiter. Trotzdem sei das Klima zu Hause bildungsfördernd gewesen, betont sie. Es ist ausgerechnet der Vater, der selbst nur wenige Jahre zur Schule gehen konnte, der die Tochter früh mit seiner Begeisterung ansteckt. „Er hat mir gezeigt, wie interessant Mathematik sein kann.“

Schon in der Grundschule fällt ihr Talent auf. „Die Direktorin hat meinen Eltern gesagt, es wäre gut, wenn sie mich nach Paris schicken.“ Esnault kommt auf ein städtisches Gymnasium, nach dem Abitur empfehlen ihre Lehrer den Besuch der Vorbereitungsklasse für die französischen Eliteschulen. Mit 20 wird sie an der École normale supérieure angenommen. „Das Bildungssystem hat in meinem Fall wirklich funktioniert.“

Zu Beginn ihres Studiums schwankt Esnault zwischen Mathematik und Philosophie. „Auch die Philosophie beschäftigt sich ja mit ganz grundsätzlichen Fragen.“ Doch bald missfällt ihr die ideologische Färbung bestimmter Denkschulen. In der Mathematik sei das anders, „da ist etwas entweder richtig oder falsch“. Sie spezialisiert sich zunächst auf Algebraische Geometrie, später auf Arithmetische Geometrie, also auf den abstrakten Zweig des Fachs. Der Computer auf ihrem Schreibtisch – „der ist nur zum Kommunizieren da“, sagt sie lachend. „Der rechnet nichts für mich.“

Die Mathematik, die sie betreibe, habe Ähnlichkeit mit Kunst und Poesie. „Auch wir sind auf der Suche nach der Wahrheit und der Schönheit. Wenn wir die Wahrheit gefunden haben, dann versuchen wir sie zusätzlich noch auf einem schönen Weg zu beweisen.“ Man könne das durchaus mit dem Akt des Schreibens vergleichen, bei dem ein Dichter hier und da an Semantik und Syntax der Sprache rüttelt, um etwas noch genauer ausdrücken zu können.

Esnault ist seit Jahrzehnten dafür bekannt , dass sie an überlieferten mathematischen Konzepten rüttelt. Sie gehöre zu den Wissenschaftlern, die in den letzten Jahren „die Grenzen der Teildisziplinen immer wieder bewusst überschritten haben“ und dadurch „neue, zum Teil sensationelle Erkenntnisse“ erlangt hätten, hieß es aus der Einstein-Stiftung.

Mit Eckart Viehweg errang sie 2003 den Leibniz-Preis

Lange hat sie ihre Karriere zusammen mit ihrem Mann, dem Mathematiker Eckart Viehweg, ja, was, geplant, vorangetrieben? Das trifft es beides nicht. Nach dem Studium wechselt Esnault nach Deutschland. Warum? „Ganz einfach, ich hatte einen deutschen Freund.“ Dass ausgerechnet das Ruhrgebiet ihr gemeinsamer Lebensmittelpunkt wird und über 20 Jahre lang bleibt, ist zunächst Zufall. In Essen haben beide eine Professur inne. Später kommen Angebote aus dem In- und Ausland. Aber eine räumliche Trennung kommt für das Paar nicht infrage. Und zwei parallele Professuren sind nur selten vakant. So bleibt das Ausnahmeduo in Essen, forscht, lehrt, publiziert. 2003 erhalten die beiden den hoch dotierten Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

2010 stirbt Eckart Viehweg. Für Hélène Esnault beginnt eine schwere Zeit: „Ich bin nur für ihn nach Deutschland gekommen, und nun war er nicht mehr da.“ Zunächst ist sie entschlossen, in Essen zu bleiben, an der Uni, an der sie gemeinsam so viel aufgebaut haben. Doch während eines Freisemesters öffnen sich neue Horizonte. Sie wird nach Harvard und Princeton eingeladen. „Dort haben sie mich total gefeiert.“ Völlig überrascht sei sie von dem Zuspruch gewesen. Als man ihr signalisiert, sie könnte einen Lehrstuhl an einer US-Eliteuni bekommen, ist das für sie auch ein Sprung heraus aus der Trauer. „Das hat mich wachgerüttelt.“

Trotzdem ist ihr sofort klar, dass sie nicht in die USA gehen wird. Esnault zuckt spöttisch die Schultern, „da sind große Autos und große Häuser“. Aber wohin dann? Auch bei einem Forschungsaufenthalt in Paris fragt man sie, ob sie bleiben möchte. „Das hätte aber bedeutet, dass ich auf meine Rentenansprüche verzichten muss.“ Schließlich entscheidet sie sich für einen Wechsel nach Berlin. „Die Einstein-Stiftung und die FU haben sehr darum gekämpft, dass ich hierher kommen kann.“

Einige Monate hat der Umzug ihres Teams gedauert, Gelder mussten transferiert, Stellen neu besetzt, Arbeitsplätze eingerichtet werden. Im vergangenen Wintersemester hat Esnault bereits mit ihrem Forschungsseminar angefangen, seit dem Sommersemester hält sie auch Vorlesungen. „Die Lehre gehört dazu“, sagt sie und lässt trotzdem keinen Zweifel daran, wo ihre Prioritäten liegen. „Meine Forschung ist das Einzige, das mich wirklich bewegt.“ Zurzeit beschäftigt sie sich unter anderem mit der Existenz von algebraischen Zyklen und mit arithmetischen Fundamentalgruppen. Wie eine Askese empfinde sie das Grübeln über mathematischen Grundsatzfragen. Und nichts sei vergleichbar mit dem Gefühl, nach Monaten oder Jahren endlich eine Lösung zu finden. „Es gibt keine größere Freude als die des Verständnisses für etwas, worüber man lange Zeit nachgedacht hat.“ Plötzlich wirkt die temperamentvolle Wissenschaftlerin verlegen, fast ehrfürchtig.

Aber nur für einen Moment, dann ist wieder die Rede vom wunderbaren Berlin. Vom Viktoria-Luise-Platz in Schöneberg, wo Esnault eine Wohnung gefunden hat. Sie liebe die Atmosphäre dort, die vielen Menschen, die Cafés. Nichts sei schöner als die Lebendigkeit einer Großstadt. „Man kann sich überall hinsetzen und fühlt sich nicht allein.“ Sie könne sich vorstellen, noch viele Jahre hier zu bleiben. Hélène Esnaults neuer Lebensabschnitt – er hat gerade erst begonnen.

Text: Astrid Herbold
Mit freundlicher Genehmigung der Autorin. Der Beitrag ist erstmalig am 25.04.2013 im Tagesspiegel erschienen.

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