#4: Tilman Santarius
Der große Optimist

Intro: Wir sind diejenigen unserer Generation, die folgende Generation, die noch was verändern können. Und jedes Zehntel Grad globaler Erwärmung, die wir weniger den Planeten aufheizen, sind ein Erfolg. Und deswegen lohnt es sich in jedem Fall zu kämpfen. Und ich sehe auch immer wieder total positive Entwicklungen, die mich hoffnungsfroh stimmen. Also die Coronaauszeit ist eine jetzt, wo ich viel Hoffnung drin sehe, wie solidarisch demokratische Regierungen weltweit gehandelt haben, historisch beispiellos die Wirtschaft runtergeregelt haben zugunsten der Erhaltung von Menschenleben, stimmt unglaublich hoffnungsfroh. AskDifferent, der Podcast der Einstein Stiftung mit Nancy Fischer.
Nancy Fischer: Tilman Santarius und sein Forschungsbereich ist eigentlich ein Widerspruch in sich. Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Also das eine, das, kurz gesagt, die Umwelt schonen soll und das andere, das Strom und Ressourcen frisst. Wie geht das zusammen? Was hat eine Schafherde in Brandenburg damit zu tun? Und wie kam Tilman Santarius zu seinem langen Titel als Professor für sozial-ökologische Transformation und nachhaltige Digitalisierung an der Technischen Universität Berlin und am Einstein Center for Digital Future? All das wollen wir heute klären in dieser Folge von AskDifferent. Herzlich willkommen an euch und hallo an Tilman Santarius.
Tilman Santarius: Hallo.
Fischer: Dröseln Sie uns mal Ihren langen Titel bitte auf. Was genau tun Sie? Also was erforschen Sie ganz praktisch bei Ihrer täglichen Arbeit?
Santarius: Mein langer Titel sozial-ökologische Transformation? Der erste Teil dieses Titels ist allgemein verständlich ein anderes Wort für Nachhaltigkeit. Nur der Nachhaltigkeitsbegriff ist halt über die letzten 20, 30 Jahre immer verwaschener geworden und deswegen verwende ich heute, wenden viele heute den Begriff sozial-ökologische Transformation, weil er anzeigt, dass es wirklich um eine grundständige Veränderung geht, also um eine Transformation, nicht nur ein bisschen besser des Business as usual. Und es geht um soziale und ökologische Themen gleichermaßen. Jede eingesparte Tonne CO2 hilft nichts, wenn die Menschen dabei auf der Strecke bleiben und vice versa, wenn es allen Menschen gut geht, aber der Planet vor die Hunde geht, dann hilft das auch nicht. Also das müssen wir zusammendenken. Und der zweite Teil meines Titels, nachhaltige Digitalisierung, konkretisiert das, was ich jetzt in diesen Jahren verstärkt mache, nämlich die Nachhaltigkeit mit der Digitalisierung zusammenbringen. Und auf den zweiten Blick gibt es auch durchaus viele Punkte, wo die Digitalisierung zur Nachhaltigkeit beitragen kann.
Fischer: Jetzt haben wir Nachhaltigkeit schon so ein bisschen eingenordet. Das ist ja der Begriff, wo Sie auch sagen, ne, der schwebt um uns die ganze Zeit. Und bei Digitalisierung, der ist ja mittlerweile auch fast schon inflationär verwendet im Alltag. Bevor wir diese Begriffe gleich einfach so verwenden, vielleicht noch mal die Digitalisierung. Wie würden Sie die einem Außerirdischen erklären?
Santarius: Digitalisierung, der Begriff zielt nicht nur auf technischen Fortschritt oder auf technische Entwicklung ab, sondern auf die Frage, was diese technischen Innovationen und deren Anwendungen mit der Gesellschaft in Deutschland, weltweit machen. Das heißt, Digitalisierung als sozialer Wandel verstanden, in dem Algorithmen oder schlichter gesagt, die Anwendung von digitalen Devices, mehr und mehr Lebens- und Wirtschaftsbereiche durchdringen und diese prägen.
Fischer: Und diese nachhaltige Digitalisierung, in der Sie forschen, können Sie uns mal an einem Beispiel erklären, wie diese beiden widersprüchlichen Begriffe zusammenkommen?
Santarius: Also konstruktiv zusammenkommen tun sie etwa darin, dass Digitalisierung dazu beitragen kann, dass wir in unserem täglichen Leben nachhaltiger konsumieren. Es ist zum Beispiel viel einfacher geworden für Menschen, nachhaltiger erzeugte Produkte via Onlineshopping zu erwerben. Stellen Sie sich vor, Sie leben nicht in Berlin, sondern irgendwo in einer Kleinstadt oder gar aufm Dorf. Da ist das nächste Fair-Trade-T-Shirt oder der fair produzierte Kaffee oder Ähnliches ist weit weg. Und dank Onlineshopping ist er nur einen Mausklick weg. Das ist ein ganz extrem simples Beispiel und das lässt sich vom Lebensstil des Einzelnen, der Einzelnen bis hin auf die Systemebene übertragen. Wir können mithilfe von Digitalisierung unsere gesamte Wirtschaft anders organisieren, wenn wir nur wollten, wenn die Politik das so gestalten würde. Und das könnte dann eine Wirtschaft sein, die auch von der Produktionsseite her wesentlich nachhaltiger ist.
Fischer: Wobei es ja immer irgendwie trotzdem so ein Widerspruch ist, ne. Dann habe ich zwar meinen Fairtrade-Kaffee, aber der wird mit dem LKW geliefert. Den Strom brauche ich, um den zu bestellen, wenn man's jetzt mal genau nimmt. Also irgendwie hakt es doch trotzdem meist.
Santarius: Ja, sowohl für den Strom, nämlich für ein Energiesystem, was zu hundert Prozent auf erneuerbaren Energien aufbaut, ist die Digitalisierung unabdingbar. So was schaffen wir nur mithilfe von mehr Digitalisierung, aber auch für den Verkehrsbereich. Also die Lkws von morgen werden vielleicht selbstfahrende Autos batteriebetrieben sein und überhaupt, um Lieferungen besser bündeln zu können, ist auch wieder Digitalisierung vonnöten.
Fischer: Weil das alles nicht mehr geht, wenn ich das mit der Hand aufs Papier schreibe, sozusagen, ganz simpel gedacht.
Santarius: Ja, vielleicht noch mal zum Energiesystem, weil das Vorantreiben erneuerbarer Energien kann relativ analog erfolgen. Aber die Anpassung der Nachfrage an das zunehmend fluktuierende Angebot, die muss digital gestützt werden. Bisher ist es so, die Stromerzeuger, ja, dicke Kohlekraftwerke oder schlimmer noch Atomkraftwerke, die passen das Angebot des Stroms ungefähr an die Nachfrage an. Also die wissen, wann im Winter, nämlich nachmittags und abends besonders viel Strom nachgefragt wird, wann im Sommer etwa vormittags besonders wenig Strom nachgefragt wird und Ähnliches und passen da das Angebot vom Strom im Netz an. Das wird sich umdrehen. Mit 100 Prozent Erneuerbaren fließt der Strom dann, wenn die Sonne scheint und der Wind weht. Das heißt, wir müssen in gewisser Hinsicht die Nachfrage, unser Verhalten daran anpassen. Das werden wir vielleicht auch ein bisschen durch eigene Reflexion tun. Ich habe mir jetzt grad vor drei Wochen eine PV-Anlage selber aufs Dach montiert. Und jetzt werde ich mehr drauf achten, dass ich die Waschmaschine nicht mehr abends anstelle, sondern eben morgens, wenn ich ausm Haus gehe, weil dann die Sonne scheint. Aber das wird natürlich nur sehr begrenzt durch eigenes Verhalten machbar sein, sondern wir brauchen auch eine Flexibilisierung der Nachfrage mithilfe digitaler Tools. Zum Beispiel ich drücke bei der Waschmaschine auf Play und die geht dann an, wenn der Strom fließt, sprich, wenn die Sonne auf mein Dach scheint oder wenn im Gesamtnetz Strom im Überfluss vorhanden ist. Und diese Art flexible Nachfrage, dafür brauchen wir die Digitalisierung.
Fischer: Was so ein Kernbegriff von Ihnen ist, ist diese sanfte Digitalisierung. Ist es das, was Sie darunter verstehen, oder ist das was ganz anderes? Erklären Sie uns das mal.
Santarius: Mit sanfter Digitalisierung verstehe ich zum einen selektive Digitalisierung. Wir müssen hinschauen, wo macht Digitalisierung gesellschaftlich Sinn? Also mit Blick auf Nachhaltigkeit wieder in sozialer Hinsicht, dass sie mehr Menschen wirklich Mitsprache oder auch Zugang zu Ressourcen oder auch wirtschaftliches Wohlergehen beschert. Und in ökologischer Hinsicht, wo macht Digitalisierung Sinn, dass sie wirklich zu einer Verringerung der viel zu hohen Energie- und Ressourcenverbräuche beiträgt? Sanfte heißt auch, so viel Digitalisierung wie nötig, zum Beispiel um Nachhaltigkeitsziele zu erreichen, aber so wenig Digitalisierung wie möglich.
Fischer: Also sprich, wenn jetzt alle grade wie wild netflixen beispielsweise in Coronazeiten, dann ist das nicht so wirklich sanft, dann ist das was, was man nicht unbedingt braucht?
Santarius: Genau, das ist ein super Beispiel oder ein bedauerliches Beispiel für eine Digitalisierung, die gar nicht nachhaltig ist. Wenn ich schon vergleiche, was das herkömmliche Fernsehgucken oder das Ausleihen einer DVD aus einer Videothek, die gibt's gar nicht mehr so ungefähr, im Vergleich zu dem Streamen von einem Hollywoodstreifen an Energie verbraucht, dann ist der Hollywoodstreifen gar nicht so viel besser. Ja, dann kann man nur im Extremfall, wenn man mit dem Auto zehn Kilometer fährt, um sich die DVD aus der Videothek zu holen, um sie am nächsten Tag wieder mit dem Auto zurückzubringen, dann kann man da einsparen beim Streaming. Ansonsten ist Streaming leider so energieintensiv, dass es gar nicht viel besser ist oder teils schlechter als Fernsehgucken oder DVD ausleihen früher. Und deswegen ist das leider ein Beispiel, wie sozusagen zunehmende Digitalisierung auch in unseren Gewohnheiten, man streamt anywhere any time, ein Beispiel ist für eine Digitalisierung, die die Energie- und Ressourcenverbräuche eher in die Höhe treibt. Hier wird also eine sanfte Digitalisierung bedeuten, wie viel muss ich denn wirklich gucken? Muss ich immer parallel, wenn ich im Bus sitze oder im Wartezimmer beim Arzt oder keine Ahnung, ne, dieses Multitasking auch parallel zu vielen anderen Aktivitäten da noch einen Stream laufen lassen.
Fischer: Jetzt nehmen wir hier grade einen Podcast auf. Sie haben grade von Ihrem YouTube-Projekt erzählt. Das ist schon schwer, das wahrscheinlich auch im eigenen Alltag dann umzusetzen, so was oder nicht mal eben nebenbei was zu streamen und zu gucken?
Santarius: Ja, ich meine, das ist schon grassiert, dass über alles kleine Filmchen gedreht werden. Da ist es auf jeden Fall besser, über vieles mal einen Podcast zu drehen. Der ist deutlich datensparsamer.
Fischer: Diese Coronapandemie, die wir erleben, die Wirtschaftskrise, die natürlich auch folgt, das sind ja Zäsuren, die wir jetzt sozusagen auch nutzen können zum Neudenken. Haben Sie da Ideen, diese Krise als Chance, wie es ja immer so schön heißt, zu nutzen?
Santarius: Ja, unbedingt. Ich schreib auch grad an einem Artikel, der genau das beleuchtet, und wir haben schon ein paar Blogbeiträge gemacht. Ich sehe verschiedene Chancen. Ich habe erst mal beobachtet, was wahrscheinlich ein Allgemeinplatz ist, dass die Coronakrise einen Riesensprung in die Digitalisierung für die breite Bevölkerung bedeutet hat. Also das beste Beispiel sind natürlich die Videokonferenzen, aber auch die Lerntools für Schülerinnen und Schüler oder eben die digitale Lehre an den Unis, das Homeoffice, was jetzt viel verstärkter stattfindet, und vieles dergleichen mehr. Da hatten wir netto eine unglaublich positive Bilanz durch ein Mehr an Digitalisierung und ein Weniger an Produktion, Konsum und Transport in der Coronakrise. Und daraus müssen wir jetzt lernen. Wir müssen jetzt erkennen, dass Homeoffice in ganz vielen Bereichen, wo es früher hieß, das geht nicht, sehr, sehr gut geht, dass man eine Menge Flugreisen ersetzen kann. Die internationalen und die transnationalen Produktketten sind nicht zusammengebrochen. Wir haben sie einfach ein Stück weit ersetzt, die ganzen physischen Präsenzen durch digitale, und das ist eine unglaublich tolle Entwicklung und die gilt's jetzt zu verstetigen. Natürlich bitte schön ohne Mund- und Nasenmaske.
Fischer: Wir könnten das mal gerne an diesem Beispiel beibehalten oder auch generell. Also was ist denn der praktische Nutzen Ihrer Forschung für mich, für unsere Zuhörerschaft, wenn Sie sagen, Sie schreiben da beispielsweise gerade einen Artikel drüber oder an anderen Beispielen?
Santarius: Ja, wir zeigen eben unter anderem auf, wie man Digitalisierung dazu nutzen kann, um Wirtschaft dezentraler zu organisieren, um sie zu entglobalisieren, um sie zu entflechten, um die Produktion eher lokal organisieren zu können, um damit am Ende des Tages vor allen Dingen Verkehrsemissionen einzusparen. Aber ich habe ja gesagt, Nachhaltigkeit ist auch ein soziales Anliegen, um auch wieder Kommunen zu stärken, um Menschen mehr Mitsprache in der Produktion auch zu geben, ne. Globalisierte Wertschöpfungsketten, da haben die Näherinnen in Bangladesch oder Designer in Kalifornien ja auch nur sehr begrenzt dann Einfluss auf die ganze Produktkette. Wenn wir das wieder stärker re-regionalisieren, lokalisieren könnten und dafür brauchen wir die Digitalisierung, dann wäre das sozial und ökologisch deutlich nachhaltiger. Und dafür brauchen wir jetzt politische Maßnahmen, deswegen forschen wir natürlich auch an den Gestaltungsoptionen für so eine demokratietaugliche und lokalisierte Wirtschaft mithilfe von Digitalisierung.
Fischer: Ein anderes Projekt, an dem Sie auch arbeiten, dreht sich ja ums Thema Smarthome. Also um da eine Vorstellung zu kriegen, wie sieht denn Smarthome aus, das heute auf dem neuesten Stand Forschung ist?
Santarius: Ja, wir forschen gar nicht so sehr zu der technischen Entwicklung von Smarthomes. Das tun Kollegen von mir im Einstein Center oder auch die entsprechenden Praxispartner, also die Unternehmen, mit denen wir zusammenarbeiten. Wir, meine Forschungsgruppe ist ja transdisziplinär, wie das so schön heißt. Das bedeutet, wir arbeiten mit Akteuren in der Gesellschaft zusammen, da sind auch Smarthome-Hersteller dabei. Was uns interessiert, ist vor allen Dingen, wie sich die Anwendung von Smarthomes im Haushalt so gestalten lässt, dass sie wirklich zu einer Einsparung von Energie- und Stromverbräuchen beiträgt. Das ist nämlich kein No-brainer, das ist kein Automatismus, dass wenn sich Haushalte, ein Smarthome-System, eine automatisierte Heizungssteuerung, geschweige denn so ein Alexa-Speaker, läuft ja auch unter Smarthome, da einbauen, dass sie dann automatisch Strom und Energie einsparen. Gar nicht. Im Gegenteil sehen wir, dass das Pi mal Daumen auf ein Nullsummenspiel rauskommt. Es gibt dann Einsparpotenziale, aber die Smarthome-Systeme selber tragen dann wiederum dazu bei, dass an anderer Stelle neue Verbräuche auftreten. Und deswegen auch hier unser Fazit, nicht einfach nur die technische Entwicklung vorantreiben, sondern zusehen, dass das flankiert wird durch Aufklärung, Informationen für die Nutzer:innen und vielleicht auch durch politische Instrumente, die das maximieren, diese Einsparpotenziale, und verhindern, dass es eben dann durch Reboundeffekte und andere Nachfragesteigerungen zu einem Nullsummenspiel kommt.
Fischer: Was sind Reboundeffekte?
Santarius: Der Reboundeffekt sagt, dass eine Effizienzsteigerung zum Beispiel durch Technik nicht zwingend zu einer Einsparung führt. Man denkt ja immer, wenn man sich jetzt ein Auto kauft, was statt sechs Liter nur drei Liter verbraucht oder wenn man sich ein Smarthome-System kauft, was mir hilft, den Strom zu optimieren im Haushalt, dass man dann automatisch auch tatsächlich Strom einsparen würde. Das ist aber nicht so. Viele Studien zeigen, dass die Menschen, die ein Drei-Liter- statt ein Sechs-Liter-Auto haben, dann damit mehr fahren. Und dann haben sie einen Reboundeffekt hervorgerufen, sprich das Einsparpotenzial durch Nachfragesteigerung wieder aufgefressen. Und bei den Smarthomes können wir das eben auch sehen. Da ist es nicht so sehr, dass die Leute das viel intensiver nutzen, sondern sie haben mehr Geräte. Im Smarthome sind's vor allen Dingen die Neuanschaffungen von zusätzlichen Geräten, die dann in der Nutzung Strom verbrauchen und in der Herstellung Energie verbraucht haben, die dann die Einsparpotenziale, die sich zum Beispiel durch automatisierte Heizungssteuerung erzielen lassen, ein Stück wieder auffressen.
Fischer: Wenn ich's richtig gelesen hab, beschäftigen Sie sich so seit ungefähr 20 Jahren mit der ganzen Thematik Digitalisierung, Nachhaltigkeit. Hatten Sie damals so eine vage Idee, wie Digitalisierung unsere Welt formen würde bis heute?
Santarius: Ich beschäftige mich erst seit 2016 so richtig intensiv mit der Digitalisierung und der Nachhaltigkeit. Vorher war ich eher relativ analog unterwegs, nicht nur beim Hüten meiner Schafe, sondern tatsächlich auch in meinem beruflichen und alltagsweltlichen Leben. Also ich war nicht jemand, der jetzt ohne Ende Social Media betrieben hat oder sich immer das neueste Smartphone geholt hat, sondern ich war da durchaus auch schon kritisch. Und ich glaube, diese kritische Haltung, mit der ich schon in das Thema reingegangen bin, schlägt sich jetzt auch in meiner Forschung nieder. Was ich seit 20 Jahren mache, ist eher, dass ich die Nachhaltigkeit als Thema, was sich durchzieht bei mir, im Grunde schon auch seit Schulzeiten oder Kinderzeiten, dass ich diese Nachhaltigkeit immer wieder mit anderen großen Diskursen oder man kann auch sagen gesellschaftlichen Megatrends verbinde. Das habe ich, wie gesagt, vor 20 Jahren mit Nachhaltigkeit und Globalisierung gemacht. Ich habe mich sehr intensiv mit Klimaschutz beschäftigt, mit Welthandel und Agrarsystemen und dann immer ja mit Blick auf Nachhaltigkeit. Das heißt, die Digitalisierung ist jetzt ein neuer Megatrend, wie manche den nennen möchten, den ich versuche, in der Forschung dann mit der Nachhaltigkeit zu verknüpfen.
Fischer: Wann war Ihnen eigentlich klar, ich habe Lust, in die Wissenschaft zu gehen? Das wird so mein Weg?
Santarius: Ich bin mir da bis heute nicht klar. Sie sagen, wann war das klar? Natürlich, jetzt bin ich Professor und da könnte man sagen, ich bin irgendwo am Ziel angekommen in der Wissenschaft, was viel Höheres gibt's ja dann nicht mehr, vielleicht noch den Unipräsidenten oder Ähnliches. Aber ich bin trotzdem nach wie vor ein Grenzgänger zwischen Wissenschaft und Zivilgesellschaft, vielleicht auch ein bisschen zwischen Wissenschaft und Politik. Und das bedeutet auch, dass ich keineswegs sicher bin, dass ich bis zur Rente jetzt Prof bleibe. Vielleicht werde ich ja auch noch mal was anderes machen. Zum Beispiel mich in der Zivilgesellschaft engagieren, das habe ich eigentlich von Anbeginn sehr viel gemacht. Ich war schon in den 2000er Jahren in diversen NGO-Netzwerken verbunden mit Akteuren, die viel stärker politische Lobbyarbeit betreiben, Kommunikation in die Gesellschaft machen, und hab immer versucht, die wissenschaftlichen Erkenntnisse da einzubringen und wiederum aber auch wissenschaftliche Fragestellungen aus diesem sehr angewandten Arbeiten von den NGOs zu ziehen, um damit beizutragen, dass eben die Transformation zur Nachhaltigkeit gelingt. Und ich habe mich eben dann zehn Jahre im Vorstand von Germanwatch, einer mittelgroßen deutschen Umwelt- und Entwicklungs-NGO engagiert und bin ja jetzt Aufsichtsratsmitglied bei Greenpeace Deutschland, der sehr, sehr großen NGO und bekannten schlagkräftigen Umweltorganisation. Das ist mir also unglaublich wichtig als Reality Check, als Möglichkeit, auch nochmal mein Wissen ganz anders einzubringen. Und wiederum auch als Laborfeld, um dort Fragestellungen, die in der Wissenschaft relevant sein sollten, zu extrahieren und dann zu beforschen.
Fischer: Auf der Bandbreite so vom, sagen wir mal, „Nokia-Handy-ohne Internet“-Besitzer bis zum Smarthome nutzenden Technikgeek, wie digital leben Sie selbst?
Santarius: Na ja, ich verbringe natürlich mindestens ein Drittel meiner Tageszeit vor dem Rechner. Aber das, würde ich sagen, ist auch irgendwie heutzutage in diesen Berufen der Wissenschaft, aber an vielen anderen auch irgendwo so normal, dass man's vielleicht nicht mehr als speziell stark digitalisiert bezeichnen sollte. Ansonsten bin ich, wie gesagt, eher zurückhaltend. Also ich nutze auch nach wie vor eigentlich Social Media kaum, mache eher spärlichen Gebrauch von meinem Smartphone, weil ich dann, weil ich schon so viel am Computer arbeite, nicht noch die ganzen Zwischenzeiten auch wiederum irgendwie mit dem Internet und der virtuellen Welt verbringen möchte. Also ich glaube, ich bin ein eher weniger stark digitalisierter Mensch, Smartwatch oder so was habe ich gar nicht. Und ich lehne auch viele dieser Geräte, die jetzt grad so en vogue sind, ab, weil ja bei denen häufig auch die Datenschutzfrage gar nicht geklärt ist. Und für mich ist die Datenschutzfrage eine wichtige neue Säule der sozialen Nachhaltigkeit. Ich glaube, da geht's auch gar nicht darum, dass man jetzt selber nicht irgendwelche Geheimnisse preisgeben will, sondern eher um diese unglaublichen Machtasymmetrien, die zwischen den digitalen Plattformen und Firmen oder den Smartwatch-Betreibern oder so ähnlich und die dann unglaublich gute Informationen über Millionen, teils Milliarden Bürger haben. Diese Machtasymmetrien zwischen diesen Firmen und den einzelnen Menschen, die sind so groß, das ist in sozialer Hinsicht äußerst bedenklich. Und auch deswegen bin ich da ganz persönlich auch zurückhaltend. Konsummiere ja auch lieber Bioprodukte als konventionelle. Insofern, warum soll ich eine Smartwatch haben, wenn mir das Thema Datenschutzmachtverteilung enorm wichtig ist?
Fischer: Sie haben ja auch einen Hof in Brandenburg, wenn wir schon über Bio reden und über so ein bisschen entkoppelt vom Digitalen, in Gransee, mit eigener Schafherde, vermutlich nicht so wahnsinnig gutem Internet oder ist das immer noch ein Klischee?
Santarius: Doch, das Internet ist super. In der Coronazeit konnten wir perfekt Homeoffice machen da. Das ist zum Glück vorhanden.
Fischer: Was bedeutet Ihnen denn dieser Ort als, ich sag jetzt mal einfach als Digitalisierungsexperte?
Santarius: Ein Stück weit auch remote sein, nicht so unter dem Einfluss von 16 parallelen WLANs zu sein, die in der Stadt ja ständig auf einen einprasseln. Wobei ich jetzt überhaupt nicht denjenigen angehöre, die Angst vor Funkstrahlung haben. Aber ich meine das ja auch im metaphorischen Sinne, ne. Die Digitalisierung ist in der Stadt natürlich viel präsenter, als wenn ich da meine Schafe über ein Stück Wiese treibe. Trotzdem ist es immer wieder auch diese spannende Ambivalenz. Also die Schafe haben alle eine Ohrmarke mit einem RFID tag drin. Das ist heute Standard. Das heißt, die lassen sich mit einem Lesegerät orten digital und insofern, so analog sind die dann auch wieder nicht. Es ist also irgendwo die Digitalisierung natürlich auf dem Land auch gar nicht stehen geblieben, sondern vielleicht dort sogar nötiger als in der Stadt. Und ich find dieses Spannungsfeld einfach interessant. Und deswegen geht's in der Coronazeit natürlich Homeoffice, Videos drehen für die digitale Leere da draußen. Das war alles genauso möglich. Und wir haben das auch so weit getrieben, dass ich jetzt sogar ganz aktuell einen Zehnfinger-Tippkurs für die Kinder unseres Hausprojekts da in Brandenburg per Videokonferenz anbiete. Also man kann das auch auf dem Land wunderbar weitertreiben, die Digitalisierung für sinnvolle Zwecke nutzen.
Fischer: Wie oft gönnen Sie sich so eine komplette digitale Auszeit?
Santarius: Zu selten, würde ich sagen, weil ich auch gerade viel an den Wochenenden arbeite. Aber ansonsten ist eben gerade Woche über in der Stadt sein, arbeiten, was zwangsläufig Digitalisierung bedeutet und dann aber am Wochenende auch mal einen Tag oder zwei einfach nur auf der Wiese sitzen, im See baden oder mit den Schafen arbeiten, natürlich ein guter Ausgleich.
Fischer: Was geht Ihnen da so durch den Kopf? Immer die Forschung, immer die Wissenschaft?
Santarius: Es ist auf jeden Fall auch ein Ort, um Kreativität zu tanken. Ich glaube grade, dass auch mal Abschalten von den Devices neue Denkräume wieder öffnet. Und natürlich denke ich da auch an die Forschung, aber es ist auch ein Abschalten im Sinne von, mal nicht an den Job denken, auch das gelingt mir da draußen besser als in der Stadt und an dem Ort, wo ich ja sonst immer mit dem Alltag zu tun hab.
Fischer: Wenn Sie sich anschauen, wie jetzt die Digitalisierung uns auch irgendwie ja schädigt, also sei es jetzt Handysucht bei Kindern bis zu Morddrohungen im Internet oder bei all dem auch beim großen Thema Nachhaltigkeit, globale Erwärmung so wenig wirklich leider ja langfristig Besserung in Sicht ist, wenn man sich so die die Zahlen anschaut. Wie sehr lässt Sie denn Ihr eigener Forschungsbereich manchmal auch verzweifeln?
Santarius: Verzweifelt bin ich eigentlich nie. Ich bin ein grundoptimistischer Mensch. Bei mir ist das Glas auf jeden Fall immer halb voll. Auch wenn ich jetzt nicht davonlaufe und ganz klar sehe, dass wir die 1,5 Grad globale Erwärmung nicht erreichen werden als Weltgesellschaft. Das wird nicht klappen, es sei denn, es passiert ein Wunder. Wenn wir froh sind, können wir vielleicht zwei oder zweieinhalb Grad erreichen. Und das bedeutet eine Katastrophe mit Blick auf Millionen von Menschenleben und die Funktionsfähigkeit der Ökosysteme. Trotzdem verzweifle ich da nicht, weil erstens bringt's ja nichts. Wir sind diejenigen, unsere Generation, die folgenden Generationen, die da noch was verändern können. Und jedes Zehntel Grad globaler Erwärmung, die wir weniger den Planeten aufheizen, sind ein Erfolg. Ja, man darf nicht sagen, wenn wir die 1,5 Grad nicht erreichen, dann ist alles für die Katz. Nein, natürlich mit jedem Zehntel Grad hängen wieder Millionen von Menschenleben dran. Und deswegen lohnt es sich in jedem Fall zu kämpfen. Und ich sehe auch immer wieder total positive Entwicklungen, die mich hoffnungsfroh stimmen. Also die Coronaauszeit ist eine jetzt, wo ich viel Hoffnung drin sehe, wie solidarisch Regierungen, demokratische Regierungen weltweit gehandelt haben, historisch beispiellos die Wirtschaft, Unternehmensgewinne, Wachstum runtergeregelt haben zugunsten der Erhaltung von Menschenleben und Gemeinwohl. Also das find ich, stimmt unglaublich hoffnungsfroh. Oder auch eben, was wir eben hatten, das Thema Datenschutz. Bis vor ein paar Jahren hat das keinen Mensch interessiert. Alle haben gesagt, was habe ich denn zu verbergen? Ist mir doch egal, wenn Facebook und Google alles wissen. Und das hat sich geändert, die Diskussion. Viel mehr Menschen sind jetzt achtsamer geworden, interessieren sich dafür. Also es gibt ganz viele auf allen Ebenen, ob ökologisch, sozial oder mit Blick auf Digitalisierung, Bewegungen, Entwicklungen, die hoffnungsfroh stimmen. Und dazu möcht ich auch einen Beitrag leisten. Es geht ja nicht nur darum, zu kritisieren und die Finger auf die Wunde zu legen, sondern auch konstruktiv dran zu arbeiten, dass genau diese Kräfte, diese Akteure gestärkt werden.
Fischer: Wir sind fast am Ende angekommen. Ich habe noch so drei Sätze, wo ich Sie einfach bitten würde, die zu ergänzen in spontanen Einfällen. Ein Leben ohne Wissenschaft ist für mich …
Santarius: Ein Leben, was mit anderen Wissensformen auskommen muss. Wissenschaft ist nur eine Möglichkeit, um Wissen zu generieren. Es gibt auch Alltagswissen, es gibt auch Wissen von indigenen Völkern. Es gibt auch Wissen bei Tierarten. Und deswegen würde ich die Wissenschaft, so gern ich sie betreibe, nicht unbedingt über andere Formen des Wissens erheben.
Fischer: Wenn ich in Rente gehe, möchte ich erreicht haben, dass …
Santarius: Ich auf ein Berufsleben zurückgucke, in dem ich nichts bereue und in dem ich sage, genauso möchte ich gelebt haben.
Fischer: Die Welt im Jahr 2040 ist in meiner Vorstellung …
Santarius: Eine Welt, die ein ganzes Stück gerechter ist und radikal ökologischer ist, wo also die Emissionen runtergefahren sind, wir weniger konsumieren und der Planet von uns nachhaltig in Ordnung gehalten wird.
Fischer: Wir haben heute gelernt, was so riesige Begriffe wie Digitalisierung und Nachhaltigkeit wirklich ganz praktisch bedeuten, denn genau dazu forscht Tilman Santarius, der Professor für sozial-ökologische Transformation und nachhaltige Digitalisierung an der TU Berlin und am Einstein Center for Digital Future. Ich danke Ihnen sehr, dass Sie uns heute mitgenommen haben in die Zukunft.
Santarius: Hat Spaß gemacht. Vielen Dank auch.
Fischer: Und ich danke euch fürs Dranbleiben. Mein Name ist Nancy Fischer. Wir hören uns auch in der Zukunft zur nächsten Folge von AskDifferent hoffentlich wieder, dem Podcast der Einstein Stiftung.