Ohne Eiweiße funktioniert nichts in unserem Körper. Der Bioanalytiker und neue Einstein-Professor Juri Rappsilber untersucht sie.
Juri Rappsilber ist ein Grenzgänger. Während andere zögern und den Schritt auf die andere Seite abwägen, hat er die Grenze längst hinter sich gelassen. Denn der Einstein-Professor für Bioanalytik an der TU Berlin ist von einer wissenschaftlichen Neugierde getrieben, die ihn über Ländergrenzen, aber auch Grenzen der einzelnen Fächer hinwegführt. Eine Neugierde, die die Grenzen zwischen Tag und Nacht, zwischen Arbeit und Freizeit verschwimmen lässt. Rappsilber erforscht, wie Eiweiße miteinander agieren und wie sie sich dabei verändern.
Unter Kollegen wird der 40-Jährige für sein "herausragendes wissenschaftliches Profil in der massenspektrometrischen Proteom-Analyse" gelobt.
Wenn er seine Forschung einem Laien erklärt, klingt das menschlicher: "Wir versuchen herauszufinden, wie Protein A und Protein B in der menschlichen Zelle zusammenspielen, ob sie sich die rechte Hand geben oder ob A B hinter dem Ohr kratzt."
Ohne Eiweiße funktioniert nichts in unserem Körper. Wir könnten ohne sie nicht sehen, hören oder schmecken. Immer wenn im Körper etwas transportiert, produziert, abgebaut, detektiert oder repariert wird, stecken sie dahinter. Die aus Aminosäuren aufgebauten Riesenmoleküle sind die Macher im Menschen und in anderen Lebewesen.
Rappsilber vergleicht seine Forschung daher mit der Soziologie. Wer die Gesellschaft verstehen will, dem helfe das Telefonbuch nur begrenzt weiter. Man müsse vielmehr untersuchen, wie die Menschen miteinander umgingen. Genau darum geht es ihm bei den Proteinen. Mithilfe eines Massenspektrometers versucht er, sie nicht nur zu katalogisieren, sondern ihre Beziehungen zu analysieren.
Dass Rappsilber Chemie studiert hat, hindert ihn nicht daran, die Software, welche die Daten interpretieren soll, selbst zu entwickeln: "Die Aufteilung in Informatik, Biologie, Physik oder Chemie kommt aus der Schule. Wenn man eine Passion hat, dann ist das egal", sagt der Grundlagenforscher, der schon für seine Diplomarbeit die Grenzen der Chemie überschritten hatte: In einem Molekularbiologie-Labor an der Havard Medical School in Boston arbeitete Rappsilber erstmals mit der Crosslinking-Methode. Dabei werden miteinander interagierende Proteine stabil vernetzt, damit sie bei der Analyse nicht auseinanderfallen. Dieses Verfahren hat er weiterentwickelt, indem er die "Crosslink"-Stellen der Eiweiße mit einem Massenspektrometer und neuartigen Softwarealgorithmen aufspürt.
Bei dieser Arbeit sei ihm zum ersten Mal bewusst geworden, wie interessant Proteine sind, erzählt Rappsilber: "Letztlich sind es nur Chemikalien. Aber wahnsinnig komplizierte, vielfältige und wunderbare Chemikalien!"
Sein Ziel ist es, irgendwann einmal das riesige Beziehungsnetzwerk der Proteine in einer menschlichen Zelle komplett zu erkennen. Bis sich dieser Wunsch erfüllt, wird es noch einige Jahre dauern. Denn es gibt mehr als 20 000 Gene im menschlichen Genom. Aus dieser Gen-Blaupause werden die Proteine nicht 1:1 abgeschrieben. Vielmehr gibt es bereits beim Abschreiben der Gene verschiedene Kombinationen, und auch die fertigen Eiweiße werden modifiziert - je nachdem, welche anderen Eiweiße in der Zelle aktiv sind. So können aus den Puzzleteilen leicht mehrere 100 000 Proteine werden.
"Ich würde es gerne sehen, dass unsere Methode ganz selbstverständlich von vielen Forschern angewendet wird. Sie sollen vergessen, dass wir sie entwickelt haben - so wie die wenigsten Leute wissen, wer das Internet erfunden hat", sagt Rappsilber. Wenn er und seine Kollegen irgendwann das Zusammenspiel der Proteine genau kennen, können andere Forscher ihre Ergebnisse unter anderem dazu nutzen, um Krankheiten wie Krebs besser zu verstehen und Medikamente zu entwickeln.
Neben Rappsilber sind auch die Mathematikerin Gitta Kutyniok und der Chemiker Martin Oestreich dem Ruf auf eine der drei hoch dotierten Einstein-Professuren an die TU Berlin gefolgt. Mit diesem Programm unterstützt die Einstein-Stiftung Berlin die Berufung von Spitzenwissenschaftlern.
"Ich fühle mich sehr geehrt", sagt Rappsilber, der nach Jahren der Forschung in den USA, Dänemark, Italien und Schottland wieder nach Berlin zurückkehrte, wo er aufgewachsen ist und studiert hat. "Berlin ist wie ein wahnsinnig wichtiger Jugendfreund, den man eine Weile nicht gesehen hat. Ich freue mich darauf, ihn wieder näher kennenzulernen, akzeptiere aber auch, dass wir uns parallel entwickelt haben." Der Gang nach Berlin sei ein Gang in die Zukunft, sagt er, nicht in die Vergangenheit.
Text: Susanne Hörr
Mit freundlicher Genehmigung der Autorin. Der Artikel ist erstmalig am 23.5.2012 im Tagesspiegel erschienen.