#16: Viola Vogel
Die Welt ist ein Labor

Intro: Es ist unheimlich toll, lebenslang entdecken zu dürfen. Es ist unheimlich toll, selbstbestimmt arbeiten zu dürfen. Es ist unheimlich schön, kreativ sein zu können über die ganze Karriere. Und was ich am meisten schätze ist, immer mit den intelligentesten jungen Menschen arbeiten zu dürfen, mein ganzes Leben.Ich hab immer das Gefühl, ich werde natürlich nie älter, aber mein Studenten werden immer jünger.Aber es ist so toll mit der jungen Generation, denn die junge Generation bringt neue Interessen mit, sie bringt neue Techniken mit, sie bringt neue Ansichten mit. Und dieses immer nutzen zu können, das ist das Tolle in der Wissenschaft. AskDifferent, der Podcast der Einstein Stiftung mit Nancy Fischer.
Nancy Fischer: Wenn Sie mal ganz leise sind, dann hören Sie das auch. Da schlägt Ihr Herz im Brustkorb. Der Darm gluckert manchmal. Das Blut rauscht durch die Adern. Die Lunge füllt und leert sich permanent mit Sauerstoff. All das sind, na ja, im Prinzip mechanische Vorgänge in unserem Körper, die Sie alle sehr gut kennen. Wir wollen aber heute noch tiefer reinhören, denn auch im Gewebe, in den Zellen des Körpers wirken mechanische Kräfte. Von denen wissen wir bloß noch nicht so wahnsinnig viel. Dabei arbeiten in uns ganz kleine Motoren und Pumpen. Da werden Proteine langgezogen und Immunzellen kämpfen gegen Mikroben. Was da alles los ist und wie das helfen kann, Krankheiten zu heilen, das will die Mechanobiologie rausfinden. Und Prof. Viola Vogel, meine heutige Gesprächspartnerin, ist Expertin auf diesem noch recht neuen Gebiet. Und sie ist Einstein Visiting Fellow am Berliner Institut für Gesundheitsforschung. Ich grüß Sie, Frau Vogel.
Viola Vogel: Einen wunderschönen guten Morgen auch von meiner Seite.
Fischer: Mechanobiologie, das ist Ihr Spezialgebiet. Sie sind Physikerin, Bioingenieurin und auch Nanotechnologin. All diese Bezeichnungen habe ich gefunden über Sie. Um mal so eine Idee zu bekommen von Ihrem Beruf. Wie sieht so ein typischer Arbeitstag von Professorin Vogel aus?
Vogel: Heute, mit all den Veränderungen, die wir im Moment durchleben, verbringe ich leider viel zu viel Zeit mit Zoom-Gesprächen, Interviews und per Zoom abgehaltenen Konferenzen. Aber unser Labor ist weiterhin offen und von daher spreche ich auch sehr viel mit meinen Studenten, um unsere Forschung weiterzutreiben. Ich kann leider nicht so oft nach Berlin kommen, wie ich mir das erträumt habe, aber ich stehe mit all meinen Berliner Kollegen und Kolleginnen in sehr engem Kontakt. Und das ist natürlich ermöglicht durch all die technischen Fortschritte, die wir heute zur Verfügung haben.
Fischer: In der Mechanobiologie erforschen Sie – um das noch mal so ein bisschen zu erklären, ich hoffe, ich mach's nicht falsch – also Sie erforschen mit Nanosonden, welche mechanischen Kräfte im Körper wirken, von Zellen gesteuert, also im ganz, ganz Kleinen. Und so wollen Sie quasi besser verstehen, wie Wachstums- und Heilungsprozesse im Körper passieren. Wenn Sie das einem Kind erklären müssten, wie genau passiert das? Wie machen Sie das?
Vogel: Also jede menschliche Zelle, wenn wir sie einfach in Nährmedium geben würden, würde absterben. Das heißt, menschliche Zellen wollen sich alle irgendwo festhalten, aneinander festhalten, aber auch an den Gewebefasern, die sie umgeben, festhalten. Und festhalten bedeutet immer, dass man an den Fasern zieht, dass man Kräfte ausübt. Aber diese Kräfte, mit denen die Zellen an den Fasern ziehen, verändern die Fasern, aber auch ihre eigene Funktion. Das heißt, sie sterben nicht ab, sondern sie können sich dann zum Beispiel teilen. Sie können über mechanische Kräfte mit ihren Nachbarn auch kommunizieren. Und wir verstehen heute nicht, wie Kräfte und die Mechanobiologie wirklich Entzündungsprozesse beeinflussen, aber dann auch Heilungsprozesse. Wir können im Moment, wenn ein Organ wirklich durch fibrotische Veränderungen wie zum Beispiel in der Lunge durch Covid-Infektion oder in der Leber durch Alkoholgenuss verändert werden. Wir wissen heute nicht, wie man diese Organe reparieren kann, sodass sie ihre ursprüngliche Funktion wieder übernehmen können. Und fibrotische Prozesse gibt es in allen Organen.
Fischer: Also Entzündungen sind das oder was ist genau fibrotisch?
Vogel: Häufig fängt es mit Entzündung an. Häufig ist es eine Entzündung, die nicht ausgeheilt ist, sondern die konstant weiter nachwirkt. Das führt dazu, dass das Gewebe vernarbt. Das heißt, viele Gewebefasern werden plötzlich langgezogen, fangen an zu aggregieren, dadurch wird eine Narbe in der Haut wird zum Beispiel sehr steif und in der Narbe und durch Narbenbildung wird die die Funktion einer Haut zum Beispiel nicht mehr richtig ausgeübt. Eine Narbe tut weh und Narbenbildung findet auch in unseren inneren Organen statt.
Fischer: Und das ist ja wirklich sehr spannend in diesen Wochen und Monaten, weil da sicherlich viele, wie Sie schon gesagt haben, ans Coronavirus denken. Da bleiben diese Narben auf der Lunge als Spätfolge, das hat man schon oft gehört. Was konnte denn Ihre Forschung jetzt beitragen zur Bekämpfung der Coronapandemie?
Vogel: Wir machen natürlich sehr viel grundlegendere Arbeiten im Moment, um überhaupt zu verstehen, wie diese Narbenbildung entsteht, aber auch, wie wir lokal messen können, wie stark Gewebe vernarbt ist. Wir versuchen, Sonden zu entwickeln, die das Spannungsverhalten von den Fasern ausmessen können. Aber an die Sonden kann man natürlich später auch Medikamente dranhängen, um dann eventuell die Sonden zu benutzen, um neue Therapien zu entwickeln. Und da versuchen wir im Moment in Tiermodellen zu sehen, wie weit wir diese Sonden nutzen können, was wir für Ergebnisse erzielen können und ob wir, und das machen wir jetzt auch mit menschlichem Gewebe, ob wir in solchen Erkrankungen die erkrankten Fasern tatsächlich erkennen können mit unseren neuen Verfahren.
Fischer: Sie haben auch einen Artikel geschrieben über die richtige Atemwegspflege in der Pandemie und darauf gab's auch eine wirklich große Resonanz damals. Vor einem Jahr ungefähr war das. Also als im Frühjahr die Coronapandemie begann, war das ungefähr. Hat denn aus Ihrer Sicht die Wissenschaft in diesen Zeiten eine besondere Verantwortung, vielleicht auch mit der Erfahrung im Hinterkopf?
Vogel: Also das Verhältnis von Wissenschaftlern zur Gesellschaft hat sich natürlich sehr verändert in den letzten zwölf Monaten. Wissenschaftler werden sehr viel aktiver von der Öffentlichkeit wahrgenommen. Die Politik ringt natürlich, wie sie am besten mit wissenschaftlichen Fakten umgehen soll. Was besonders schwer ist in einer Pandemie mit einem neuen Virus, da sich die Erkenntnislage im Lauf der Zeit so stark ändert. Das heißt auch, die Aussagen von Wissenschaftlern ändern sich mit der Zeit. Und für die Öffentlichkeit ist es offensichtlich schwer zu verstehen, wie wir Wissenschaftler arbeiten, wie wir Hypothesen erstellen, mit welcher Sicherheit bestimmte Aussagen gemacht werden und dass wir natürlich, wenn wir mehr Forschungsergebnisse haben, unsere Aussagen dann auch anpassen müssen.
Fischer: Wir wollen in dem Zusammenhang auch noch mal durch Ihr Leben ein bisschen spazieren. Sie waren ja in den USA an verschiedensten Universitäten, der University of Berkeley, California, der University of Seattle, der in Washington und dann haben Sie in den Neunzigerjahren die Regierung von Bill Clinton auch wissenschaftlich beraten. Also Sie haben schon viele Jahre sozusagen so eine Erfahrung, wie eng Politiker und Wissenschaftler zusammenarbeiten. Wie viel Einfluss sollte denn Wissenschaft auf politische Entscheidungen nehmen können?
Vogel: Unsere Rolle sollte sein, den jetzigen Stand der Wissenschaft gut zu kommunizieren, sodass die Öffentlichkeit wissenschaftliche Erkenntnisse in Entscheidungsprozesse mit einbeziehen kann. Das ist unsere fundamentale Aufgabe. Ich hätte vielleicht noch einen Punkt, den ich gerne anbringen möchte, dass wir in der Öffentlichkeit unsere Aufmerksamkeit primär im Moment auf die Entwicklung von Impfstoffen fokussieren. Und die große finanzielle Zuwendung, die diese Firmen bekommen haben von der Öffentlichkeit, vom Steuerzahler, haben eigentlich dazu gedient, dass die Zeit der Zulassung genutzt werden konnte, um bereits mit der Produktion der Impfstoffe anzufangen. Das heißt, am Tag der Zulassung waren diese Firmen in der Lage zu liefern. Phänomenal. Aber was wir völlig vernachlässigen im Moment, ist die Entwicklung von Medikamenten, um frühe Symptome von Covid bekämpfen zu können. Das heißt, wenn jemand jetzt positiv testet, dann heißt es, abwarten. Aber eigentlich werden wir diese Situation nur managen können, wenn wir auch Medikamente haben, die Spätfolgen verhindern können, wenn wir sie rechtzeitig einsetzen. Und diese Firmen müssten eigentlich genauso unterstützt werden, um, wenn sie durch die Zulassung gehen, sie bereit sind, große Zahlen an Dosen ausliefern zu können. Und das Thema wird im Moment nicht hinreichend berücksichtigt in der Art und Weise, wie wir unsere Zukunft planen. Es ist völlig klar, dass wir mit COVID-19 in der Zukunft leben müssen. Und dazu gehört, dass wir Medikamente bereit haben. Denn wir sehen im Moment schon, wie schnell weltweit und klar, die Welt ist ein Riesenlabor, da finden unendlich viele Mutationen statt. Und wir können uns nicht leisten, die Weltbevölkerung durchzuimpfen, das wird nicht passieren. Und wir können uns nicht leisten, jedes Mal nachzuimpfen, wenn eine neue Mutation weltweit entsteht, denn das wird mit wachsender Geschwindigkeit passieren. Das heißt, wir brauchen andere Methoden, um unsere Zukunft sinnvoll gestalten zu können.
Fischer: Wir wollen natürlich auch vor allem über Sie sprechen. Ich bin jetzt so ein bisschen abgeschweift mit meinen Fragen hin Richtung dieser Coronadebatte. Aber mit Ihren Fachrichtungen, also mit Mechanobiologie, mit Nanotechnologie verbinden viele Menschen wahrscheinlich eher so komplizierte Berechnungen oder Formeln oder eben Laborarbeit. Aber Sie sagen, Wissenschaft und Kreativität, das gehört für mich sehr stark zusammen. Das müssen Sie uns mal erklären.
Vogel: Wissenschaft ist ein lebenslanger Lernprozess. Und ich versuche – ich komme aus der Physik – ich versuche, Zeit meines Lebens, mit meinem Wissen in immer wieder neue Gebiete einzudringen. Denn nur dann fühle ich, dass ich fundamental neue Entdeckungen machen kann, und das ist meine Zielsetzung, die in der Medizin umgesetzt werden können. Um so einen Weg zu gehen, braucht es allerdings Kollaboration. Und deswegen ist für mich die Kollaboration, die von der Einstein Stiftung finanziert wird mit Professor Dudas Gruppe und vielen anderen Kollegen und Kolleginnen unterdessen an der Charité, extrem wichtig. Denn wir möchten unsere Erkenntnisse in die Klinik tragen.
Fischer: Also sozusagen die fächerübergreifende Arbeit ist für Sie sehr wichtig und die Kreativität. Da hab ich auch gelesen, Sie haben Hobbys wie Malen, Wandern, Tauchen beispielsweise auch. Alles so Tätigkeiten, bei denen man auch gut nachdenken kann. Ist vermutlich auch kein Zufall.
Vogel: Das ist total wichtig, diese Eindrücke auf sich wirken zu lassen, uns zu synthetisieren. Das heißt, Hobbys sind extrem wichtig, um den Abstand von dem Täglichen, was gemacht werden muss, zu gewinnen und sich zu überlegen, wo die Reise hingehen kann. Was hat man eigentlich die letzten Monate gelernt? Wie können wir unsere Forschung priorisieren, sodass wir wirklich wichtigen Fragestellungen, nicht irgendwelchen Fragestellungen nachgehen, sondern den wichtigsten. Und diese wichtigsten Fragestellungen verändern sich natürlich auch, weil weltweit neue Erkenntnisse entstehen, die immer wieder in die Forschung integriert werden müssen, um nachher auch was wirklich Neues, State of the Art machen zu können.
Fischer: Das heißt, wenn Sie beispielsweise zu Hause sitzen und an einem Bild malen, dann ist das gar nicht der Moment, wo Sie gar nicht über die Wissenschaft nachdenken, sondern wo es vielleicht eher so ganz langsam einsickert und dann in so eine Erkenntnis kommt.
Vogel: Das ist schon häufig, häufig so passiert. Obwohl ich in dem Moment das Gefühl hab, überhaupt nicht an Wissenschaft zu denken und Abstand zu gewinnen. Aber ja, genau das ist häufig passiert.
Fischer: Sie sind heute, also das haben wir natürlich schon erfahren, eine anerkannte internationale Wissenschaftlerin. Dabei haben Sie eigentlich mal angefangen, auf Lehramt zu studieren, und zwar Biologie und Physik. Warum wollten Sie letztlich nicht vor Schülerinnen und Schülern stehen?
Vogel: Im Prinzip steh ich mein ganzes Leben vor Schülerinnen und Schülern. Aber ich wollte gleichzeitig Neues entdecken. Und von daher ist eine Professur ideal geeignet, um Freude an der Lehre mit Freude an der Forschung zu verbinden.
Fischer: Also ohne die Forschung hätten Sie nicht arbeiten wollen?
Vogel: Das ist richtig.
Fischer: Wie kann man denn heute, wenn Sie trotzdem ja auch vor Studenten unterrichten, wie kann man junge Leute, Schülerinnen, Schüler für die Forschung begeistern?
Vogel: Eigentlich dadurch, dass man sie aufmerksam macht, zu wie vielen Fragen wir noch überhaupt keine Antworten haben. Ich glaube, die Gesellschaft merkt im Moment, wie Wissenschaftler arbeiten, dass wir von einem raffinierten kleinen Nanopartikel als Kopiermaschine benutzt werden und nicht wissen, wie wir uns wehren können.
Fischer: Das Virus meinen Sie damit?
Vogel: Korrekt. Das ist einfach phänomenal. Im Gegensatz zu allen früheren Pandemien wissen wir heute, wir kennen jedes Molekül. Wir kennen jede Struktur eines jeden Moleküls, das von diesem Virus benutzt wird. Und dennoch wissen wir nicht, wie wir uns schützen und wie wir uns verteidigen können. Das heißt, die erste Reaktion war auf Methoden, die auch im Mittelalter angewendet wurden, sich vor Seuchen zu schützen, sich zu isolieren. Aber dass wir mit all unserem Wissen, mit all unseren Möglichkeiten, in die Nanowelt reinzuschauen, optisch mit Elektronenmikroskopie und so weiter, dass wir dennoch keine sofortigen Maßnahmen ergreifen konnten, die über mittelalterliche Methoden hinausgehen, war absolut bemerkenswert. Auf der anderen Seite ist es absolut bemerkenswert, wie die Forscher weltweit sich zusammengetan haben, um Impfstoffe zu entwickeln. Was häufig falsch porträtiert wird, ist, dass der Impfstoff in einem Jahr entwickelt wurde. Nein, das ist nicht der Fall. Diese Firmen arbeiten seit zehn, 20 Jahren an diesen neuen Ideen für die Messenger-RNA-Impfstoffe. Sie wurden allerdings im Kontext von anderen Krankheiten entwickelt. Sie wurden teilweise schon nicht nur in Mäusen, sondern auch in höheren Säugetieren oder Affen getestet. Das heißt, die Entwicklung war schon sehr weit. Aber diese Entwicklung jetzt auf die jetzige Pandemie anzuwenden und dann auch zur Zulassung zu kommen, war natürlich phänomenal. Und das zeigt die Stärke der Wissenschaft.
Fischer: Merken Sie auch unter Ihren jungen Doktoranden, Doktorandinnen, das ist noch mal eine neue Motivation, so eine riesige Pandemie, da in dem Bereich zu arbeiten?
Vogel: Also ich glaube, sehr viele junge Menschen sehen auch, wo der Beitrag der Wissenschaft liegen kann. Und dass es sehr motivierend ist. Aber ich glaube, die Pandemie wird die ganze Art und Weise, wie Wissenschaft betrieben wird, wie kollabiert wird, große Probleme zu lösen, verändern.
Fischer: Jetzt sprechen wir über die Kollaboration von länderübergreifenden Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen, aber auch Älteren und Jüngeren, Studenten und Professorinnen beispielsweise. Wie denken Sie denn grundsätzlich über das Thema Hierarchien in der Wissenschaft?
Vogel: Hierarchien, glaube ich, ob in der Politik oder in der Wissenschaft oder in Firmen, stark ausgeprägte Hierarchien bremsen die Innovation aus. Ich bin nur so gut wie meine eigenen Studenten und Studentinnen. Das heißt, ein Lernen voneinander ist absolut essenziell, um Fortschritte zu machen. Eine offene Kommunikation ist absolut wichtig. Wenn Experimente, die ich absolut cool finde, nicht funktionieren, dann muss ich auch verstehen und meinen Studenten und Studentinnen zuhören können, warum sie glauben, dass diese Experimente nicht funktionieren, um dann neue Ideen zu entwickeln, um Fortschritte zu machen. Also Hierarchien sind bremsend in allen Bereichen der Gesellschaft.
Fischer: Wie haben Sie das rausgefunden? War da was, was Sie auf Ihrem Weg in die Wissenschaft anders erlebt haben? Oder war das schon immer so, dass keine Hierarchien da waren und Sie das so gelernt haben?
Vogel: Also das deutsche Bildungssystem und akademische System ist sehr viel hierarchischer aufgebaut als das amerikanische. Das heißt, ich hab eigentlich in Amerika, wo mir zu dem Zeitpunkt ein Start up-Package bereits gegeben wurde, was in Deutschland für junge Akademiker noch nicht der Fall war, gelernt, mit einer kleinen Gruppe effektiv zu arbeiten. Und in Forschungsgruppen in den USA ist die Hierarchie sehr viel geringer als in vielen deutschen Forschungsteams. Und ich hab versucht, diesen amerikanischen Stil in meiner eigenen Gruppe, als ich an die ETH kam, weiter beizubehalten.
Fischer: Also welche Erfahrungen Sie besonders geprägt haben in Ihrer universitären Laufbahn, das waren dann offensichtlich die amerikanischen Einflüsse. Und natürlich auch inhaltlich. Sie haben wahnsinnig viel entdeckt und erforscht. Wenn Sie jetzt so morgens aufstehen, was treibt Sie denn dann persönlich noch an, jeden Tag wieder ins Labor zu gehen oder wieder ins Büro zu gehen und weiterzumachen?
Vogel: Unser Wissen umsetzen zu können. Also wir haben sehr, sehr viel Wissen in der Mechanobiologie in den letzten zehn, 15 Jahren gelernt. Und zwar, wenn ich sage, wir, nicht nur wir als Labor, sondern wir als Community. Aber sehr, sehr wenige von diesen Erkenntnissen werden im Moment klinisch umgesetzt. Und das ist eine ganz große Zielsetzung von mir, dies noch zu erreichen und auch für meine Studenten Möglichkeiten und ein Umfeld zu kreieren, vielleicht hier und da noch eine Start up-Firma zu gründen, die dann diese neuen Ideen in die Klinik bringen kann.
Fischer: Ich hab ja auch die Frage mir aufgeschrieben nach Rückschläge in Ihrer Karriere. Ist das denn vielleicht was, dass Sie sagen, wir erforschen so großartige Sachen, aber niemand macht damit irgendwas?
Vogel: Auch das dauert. Und das, wir wissen, wie lang es gedauert hat vom Entziffern des genetischen Codes des Menschen zu vielen medizinischen Anwendungen. Diese Prozesse dauern normalerweise zehn Jahre. Und deswegen dürfen wir Wissenschaftler auch nicht zu ungeduldig sein. Wenn wir nicht wirklich dahinterstehen und drücken, drücken, drücken, damit wir weiterkommen, dann passiert häufig lange gar nichts, weil eine neue Arbeitsgruppe sich dann erst in dieses Wissen einarbeiten muss, bis sie das vielleicht umsetzen kann. Und das sind langwierige Prozesse.
Fischer: Sie haben mal gesagt, Sie versuchen alle fünf Jahre mit neuen Fragestellungen und Fachgebieten irgendwie anzufangen. Was steht denn als Nächstes auf Ihrer Liste?
Vogel: Die klinische Umsetzung. Und deswegen ist für mich die Interaktion über die Einstein Stiftung mit der Charité von fundamentalen Interesse und Bedeutung.
Fischer: Und die Bedingungen für eine wissenschaftliche Laufbahn, die sind ja nach wie vor relativ schwierig. Was raten Sie jetzt vielleicht am Ende noch jungen Wissenschaftlerinnen, zum Beispiel auch Ihren Doktoranden, die eine wissenschaftliche Karriere anstreben? Haben Sie so einen Tipp oder zwei Tipps, wo Sie sagen, die muss man immer im Kopf haben, die haben mir auch sehr geholfen?
Vogel: Es gibt eigentlich viele Punkte zu beachten, speziell für Frauen. Viele Frauen schrecken davor zurück, die Wissenschaft, die einen eigentlich vollständig absorbiert, zu verfolgen, weil sie Angst haben, dass sie eventuell wissenschaftliche Fragestellungen, wissenschaftliche Karrieren nicht gut mit Familie kombinieren können. Allerdings, die Zeiten ändern sich stark. Es ist machbar, ich selber habe zwei Kinder. Es ist machbar und viele, viele Professorinnen zeigen im Moment, dass es machbar ist, Familie und Beruf zu kombinieren.
Der nächste Punkt, der so wichtig ist, dass Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen sehr selbstgetrieben arbeiten dürfen. Es ist unheimlich toll, lebenslang entdecken zu dürfen. Es ist unheimlich toll, selbstbestimmt arbeiten zu dürfen. Es ist unheimlich schön, kreativ sein zu können über die ganze Karriere. Und was ich am meisten schätze, ist immer mit den intelligentesten jungen Menschen arbeiten zu dürfen, mein ganzes Leben. Ich hab immer das Gefühl, ich werde natürlich nie älter, aber mein Studenten werden immer jünger. Aber es ist so toll, mit der jungen Generation und immer mit der jungen Generation arbeiten zu dürfen. Denn die junge Generation bringt neue Interessen mit, sie bringt neue Techniken mit, sie bringt neue Ansichten mit. Und dieses immer nutzen und synthetisieren zu können und voneinander lernen zu können, das ist das Tolle in der Wissenschaft. Und dies zu kommunizieren und darüber nachzudenken, ist eigentlich ganz wichtig, wenn junge Menschen eine Entscheidung treffen über ihre eigene Karriere. Klar, wir müssen in allen Berufen viel arbeiten. Aber Wissenschaftler oder Wissenschaftlerin zu sein, bringt unheimlich viele Freuden im Leben mit sich.
Fischer: Haben Sie zuletzt was von Ihren jungen Studentinnen gelernt, an das Sie sich erinnern, wo Sie sagten, ah, interessant, war mir gar nicht so klar?
Vogel: Eigentlich täglich. Jedes Mal, wenn wir durch Daten durchgehen, diskutieren wir fundamentale Probleme. Und jedes Mal haben mein Student oder Studentinnen was gelesen, was ich noch nicht weiß. Ich hab was gelesen oder erinnere von Konferenzen oder von früheren Teilen meiner Karriere, woran sie bisher nicht gedacht haben. Das ist diese tägliche Befruchtung, die stattfindet. Und dieser tägliche Dialog, der so essenziell ist, um dann wichtige nächste Schritte planen zu können und sich nicht in irgendwelchen Sackgassen zu verlaufen.
Fischer: Man kriegt richtig Lust, mit Ihnen mal zusammenzuarbeiten. Ich hab nur leider keine Ahnung von Nanotechnologie, Frau Vogel. Aber das hat schon Spaß gemacht, überhaupt mit Ihnen zu reden. Wir haben gesprochen mit Viola Vogel, Professorin, international renommierte Expertin an der ETH Zürich und Einstein Visiting Fellow am Berliner Institut für Gesundheitsforschung. Ich danke Ihnen sehr für Ihre Zeit heute und fürs Gespräch.
Vogel: Ganz, ganz vielen Dank für dieses Interview. Es hat mir riesig viel Spaß gemacht, auch mit Ihnen zu sprechen.
Fischer: Und auch Ihnen, wo auch immer Sie uns zugehört haben heute, das war AskDifferent. Herzlichen Dank fürs Zuhören, der Podcast der Einstein Stiftung. Mein Name ist Nancy Fischer. Machen Sie's gut. Bis zum nächsten Mal.