Annemie Vanackere, Intendantin des HAU Hebbel am Ufer und Mitglied im Beirat der Einstein Stiftung, im Gespräch über Wissenschaft und die performativen Künste, neue Formate in Zeiten von Corona und gesellschaftliche Veränderung.
Frau Vanackere, Sie sind als Mitglied im Beirat der Einstein Stiftung tätig. Warum engagieren Sie sich in diesem Gremium?
Diese Nähe zur Wissenschaft, die ich durch die Einstein Stiftung bekomme, ist auch eine Inspiration für meine eigene Arbeit als Intendantin am HAU Hebbel am Ufer. Grundlagenforschung, die sich jenseits von ökonomischen Interessen bewegt, ist enorm wichtig für unsere Gesellschaft. Und es ist gefährlich, wenn die wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht zu allen durchdringen – wie auch aktuell an den Leugnern des Coronavirus, den Klimawandel-Leugnern oder anderen Populismen deutlich wird.
Welche Schnittstellen sehen Sie zwischen den Wissenschaften und den darstellenden Künsten im Allgemeinen?
Der enge Bezug ist ja schon damit gegeben, dass die Freiheit der Wissenschaft und die Freiheit der Kunst zusammen im Grundgesetz stehen. Beide sind wichtige Bestandteile einer demokratischen Gesellschaft. Sie tragen dazu bei, die Wahrnehmung und das Verständnis der Welt zu vertiefen und diese Erkenntnisse zu vermitteln. Zudem verbindet beide Bereiche, dass man nicht nach einem Tag schon ein Ergebnis erwarten kann, sondern vielmehr einen langen Atem braucht. Die weiteren großen Gemeinsamkeiten sind natürlich Fantasie, Leidenschaft und das Risiko, oder besser noch: der Mut, zu scheitern.
Die Programmlinie des HAU stützt sich auf den Begriff des Experiments. Lehnt der Begriff sich an die Wissenschaften an?
Der Begriff des Experiments hat für das Theater eine etwas andere Bedeutung als in der Wissenschaft. In den Naturwissenschaften ist der Versuchsaufbau ja sehr genau, ein Experiment muss mehrmals wiederholt, der Versuchsaufbau angepasst werden und so fort. In den performativen Künsten ist das anders. Für ein Tanzstück zum Beispiel findet sich die Gruppe häufig mit einer ersten theoretischen Grundidee oder Arbeitshypothese zusammen. Diese, oft interdisziplinäre Recherche geht dem Probenprozess im allgemeinen voraus, dann fängt man an zu proben. Manchmal improvisiert man auch fast aus dem Nichts heraus oder nur auf Grundlage von etwas, das man zum Beispiel gelesen hat. In diesem spontanen Austausch findet das Experiment statt, ergeben sich Bewegungsmuster, neue Körperbilder, die dann zu etwas Konkretem führen. Das ist viel weniger strikt reguliert, auch wenn es choreografische Methoden oder ähnliches gibt. Auch bei der Aufführung selbst gibt es diese Offenheit, da das Publikum ein „unbekannter Faktor“ ist: Man weiß nie genau, wie es reagieren wird, ob es nicht vielleicht sogar eingreift. Damit wird im HAU oft gearbeitet, indem etwa das Publikum eingeladen ist, zu interagieren und Teil der Aufführung zu werden.
Über Diskurskritik und politische Fragen finden bei Theaterproduktionen die Geisteswissenschaften relativ starken Widerhall. Aber gibt es auch Bezüge zu Naturwissenschaften oder anderen Feldern?
Durchaus, vor allem im Tanzbereich gibt es gegenwärtig Choreograf*innen, die sich viel mit Biologie und mit Technologie beschäftigen. Da ist zum Beispiel das Duo Schubot & Gradinger, die sich in die Welt der Pflanzen vertiefen und ihrer Form von „Intelligenz“ nachspüren. Man interessiert sich in den Künsten gerade immer mehr für diese besondere Form von Wissen, das aus der Natur kommt. Ein anderes Beispiel ist das Performance-Paar Chris Kondek und Christiane Kühl, die seit mehreren Jahren recherchieren, was Technologie mit uns im Alltag macht und für Ihre Arbeiten auch eigene Software Programme entwickeln.
Gibt es Kooperationen des HAU Hebbel am Ufer mit Studierenden der Berliner Universitäten und Schauspielschulen?
Nachwuchsförderung hat für mich zwei Seiten. Die eine Seite ist, dass wir am HAU versuchen, ein neues Publikum zu gewinnen: Wir wollen, dass junge Leute zu uns kommen, dass sie eine künstlerische Arbeit sehen, etwas verstehen und mitnehmen können. Wir haben ein gut ausgebildetes Outreach-Team, das mit allerlei Berliner Unis und Schulen in Kontakt ist, Studierende einlädt und ihnen Einführungen zu den Veranstaltungen gibt. Die andere Seite ist die Frage, wo die Nachwuchskünstler*innen herkommen, mit denen wir arbeiten. Weil wir kein klassisches Schauspielhaus sind, eben diesen interdisziplinären Ansatz haben, stehen wir weniger im Austausch mit den Schauspielschulen als mit den Ausbildungsstätten für performative Künste, die nun mal in Gießen und Hildesheim sind, und mit dem Hochschulübergreifenden Zentrum für Tanz in Berlin.
Mit welchen Strategien reagiert das HAU auf die Kontaktbeschränkungen aufgrund der Coronapandemie? Haben sich daraus neue Formen der Aufführung entwickelt?
In unseren drei Häusern haben wir insgesamt drei Bühnen – den digitalen Raum und den Bildschirm verstehen wir jetzt als unsere vierte Bühne. Die Gruppe „Forced Entertainment“ entwickelte anhand einer Videoschaltung per Zoom eine kleine feine Trilogie, das Kollektiv „Digital Feminism“ bietet Onlinetutorials an und am 20. Juni gibt es eine besondere Streaming-Premiere der Gruppe „Gob Squad“, die von der Theaterbühne, von zuhause und Orten in der Stadt aus online performt. Ein anderes Kollektiv, „She She Pop“, hat dagegen ganz altmodisch das Telefon gewählt, um einen neuen Aufführungsort für ihr Stück „Kanon“ zu erfinden. An drei Abenden konnte man anrufen und sich – auf englisch, spanisch, deutsch oder französisch – einen Theatermoment nacherzählen lassen, der es in ihre Auswahl der besten Stücke und Performances geschafft hatte. Man konnte der Performerin oder dem Performer am Telefon aber auch seine eigene besondere Theatererinnerung erzählen. Eine intime Erfahrung, aus der ein neuer Kanon erwächst. Natürlich wollen wir so bald wie möglich wieder die analogen Formate aufnehmen. Wir denken auch über Outdoor-Möglichkeiten nach, aber die Umsetzung ist, zumindest unter den jetzigen Umständen, nicht einfach.
Bietet die Corona-bedingte Verlagerung der Theaterformate in das Digitale also die Chance ein breiteres, vielleicht auch bildungsferneres Publikum zu erreichen?
Wir haben auf jeden Fall ein diverseres Publikum als sonst, allein weil die Ortsbindung wegfällt. Wir freuen uns über hohe Klickzahlen, wobei natürlich bekannt ist dass nicht alle, die einschalten, bis zum Ende dabei bleiben. Ich denke auch, dass wir mit den richtigen Formaten online auch Menschen erreichen können, die sonst nicht ins Theater gehen würden. Es ist für uns eine spannende Zeit, weil wir am HAU ohnehin viel darüber nachdenken, wie man die „Generation Z“, die in den 2000ern Geborenen, ansprechen kann. Die sind nicht unbedingt „bildungsfern“, aber es ist eben diese Zielgruppe, die mit dem Handy geboren wurde und mit ganz anderen Erzählstrukturen aufwächst: mit Netflix-Serien, Games und den extrem kurzen Formaten von TikTok und Snapchat.
Welches Objekt – ob Alltagsgegenstand, Kunstwerk, Symbol oder Meme – könnte symbolisch für Ihre Intendanz stehen bzw. den Ansatz, den Sie in Ihrer künstlerischen Leitung verfolgen?
Der Berliner Fuchs. Es gab zu Anfang meiner Intendanz eine Kampagne mit Tierporträts, die nicht nur schön waren, sondern uns Menschen als dominierende Spezies direkt anblicken. Sie sind auch Mitbewohner*innen auf diesem Planeten, die anthropozentrische Perspektive ist nicht die einzige. So ist dieses riesige Poster entstanden, das nun seit fast acht Jahren über meinem Schreibtisch hängt. Es ist tatsächlich ein Berliner Fuchs, aufgenommen von einem Berliner Fotografen.
Sie haben während Ihres Studiums in Paris auch eine Vorlesung von Jacques Derrida besucht, der am Collège internationale de philosophie lehrte. Wie war Ihr Eindruck?
Ja, 1989 muss das gewesen sein. Ich ging mit einem Freund aus Belgien hin, der wie ich Philosophie studierte. In der gratis Vorlesung saßen viele internationale Studierende unterschiedlicher Generationen, sehr gemischt kurzum. Derrida war ein wunderbarer Erzähler. Seine Bücher sind ja zum Teil schwer verständlich, aber in seinen Vorträgen kamen die komplizierten Theorien glasklar herüber. Mir fällt auch eine Anekdote dazu ein. Ich habe mich damals viel mit Fotografie beschäftigt und ihn schließlich gefragt, ob ich ihn fotografieren dürfe. „Mais oui!“, hat er geantwortet und mich zu einem Café eingeladen, wo ich ein paar Aufnahmen von ihm machen durfte. Doch leider habe ich keinen Beweis dafür! Ich habe die Bilder entwickelt und die Fotos zusammen mit den Negativen einer Freundin gegeben, die Abzüge machen sollte. Und am Ende habe ich sie nie wieder gesehen: Meine Fotos von Derrida sind versunken in den Falten der Geschichte.
Mit wem würden Sie gerne einmal einen Arbeitstag tauschen, und was würden Sie dann tun?
Ich würde gern mit Angela Merkel tauschen und überall eine strikte 50-Prozent-Frauenquote einführen: Im Parlament, im Regierungskabinett, in Unternehmensvorständen, Medienbehöden, Verwaltungen, in Universitäten, Forschungs- und Kunstinstitutionen. Großer Handlungsbedarf besteht ja zum Beispiel gerade in den MINT-Fächern und im IT-Bereich. Wenn alle Software nur von Männern entwickelt wird, wenn der öffentliche Raum, wenn Städte hauptsächlich von Männern gestaltet werden, bringt das zwangsläufig Nachteile für Frauen, einfach weil sie nicht mitgedacht werden. Als Kanzlerin würde ich außerdem Angela Merkels Motto „Wir schaffen das!“ mit Blick auf die Flüchtlingsproblematik in Zeiten von Corona wiederbeleben. Norbert Blüm hat 2016 das Flüchtlingslager in Idomeni in Griechenland besucht und von einem „Anschlag auf die Menschlichkeit“ gesprochen. Er meinte: „Wenn 500 Millionen Europäer keine fünf Millionen oder mehr verzweifelte Flüchtlinge aufnehmen können, dann schließen wir am besten den Laden „Europa“ wegen moralischer Insolvenz.“ Ich bin mit dem europäischen Gedanken groß geworden und es macht mich traurig zu sehen, dass das Projekt Europa – aus verschiedenen Gründen – bedroht ist.
Können Sie uns Ihre Lieblingsorte in Berlin nennen?
Das Affenhaus im Zoo. Seit Corona bin ich auch viel mehr abseits des Zentrums unterwegs und mache Radtouren. Zuletzt habe ich die Lilienthal Gedankstätte in Lichterfelde entdeckt, als gerade die japanischen Kirschbäume geblüht haben - schön.
Was wünschen Sie der Berliner Kulturlandschaft in diesen Zeiten?
Ich hoffe vor allem, dass die kulturelle Szene in der Stadt angesichts der Coronapandemie irgendwie überleben kann: Viele Künstler*innen und Freischaffende haben aufgrund all der Schließungen und Absagen keine Einnahmen. Mein Wunsch ist, dass diese Leute genug finanzielle Unterstützung bekommen, damit sie weiterhin, auch während und nach der Krise, kreativ arbeiten können. Es ist wichtig, den Kopf frei von existenziellen Sorgen zu haben, um darüber nachdenken zu können, wie die Zukunft mit und nach Corona – „The New Normal“ – aussehen soll.
Haben Sie noch einen Wunsch für die Einstein Stiftung?
Mein Wunsch ist, dass die Einstein Stiftung weiterhin großzügige Mittel bekommt, um ihre tollen Programme weiterzuführen. Ich bin guter Dinge, was den Standort Berlin angeht. Aber blickt man hinaus in die Welt, sieht man, dass Kunst und Wissenschaft vielerorts gefährdet sind. Es ist so wichtig, dass Forscher*innen auch solche Projekte verfolgen können, die keinen unmittelbaren wirtschaftlichen Nutzen haben. Nicht zuletzt wünsche ich mir genug Ressourcen für die Forschungsförderung, damit mehr Menschen aus aller Welt – vor allem aber aus dem sogenannten globalen Süden – von den wunderbaren Förderangeboten der Einstein Stiftung in Berlin profitieren und zum internationalen Austausch beitragen können.
Herzlichen Dank für das Gespräch, Frau Vanackere.
Interview: Eva Murasov