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Nachrichten der Einstein Stiftung Berlin


Interview mit Hanoch Gutfreund über das Leben und Werk Albert Einsteins

Foto: Daniel Nartschick/Einstein Stiftung

Hanoch Gutfreund, der Leiter des Einstein-Archivs der Hebräischen Universität Jerusalem und emeritierter Professor für Theoretische Physik, hielt am 1. Dezember 2022 den Festvortrag anlässlich der Verleihung der diesjährigen Einstein Foundation Awards. Wir sprachen mit ihm im Interview über das Leben und Werk Albert Einsteins und seine heutige Bedeutung für Wissenschaft und Gesellschaft.

In den Archiven der Universität werden etwa 80 000 Dokumente von Albert Einstein aufbewahrt. Viele davon sind handschriftliche Manuskripte. Welches dieser Dokumente ist für Sie persönlich besonders herausragend?

Das Albert-Einstein-Archiv ist eine äußerst wertvolle historische Ressource. Es gilt als eine der wichtigsten Quellen für die Geschichte der modernen Physik. Darüber hinaus ist das Archiv eine äußerst wichtige Quelle für die jüdische, deutsche, europäische und amerikanische Geistes-, Politik- und Sozialgeschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wenn ich aus dieser riesigen Sammlung von Archivmaterial nur einen Gegenstand auswählen müsste, der mich jedes Mal begeistert, wenn ich ihn anschaue, dann wäre es das 46 Seiten lange Manuskript zur Allgemeinen Relativitätstheorie. Außerhalb der Wissenschaft finde ich die Korrespondenz Einsteins mit Marie Curie und mit Sigmund Freud besonders interessant und reizvoll.

Und: Was macht die Schrift zur Relativitätstheorie für Sie so besonders?

Einsteins Manuskript zur Allgemeinen Relativitätstheorie ist sein Meisterwerk. Ich bezeichne es gerne als die Magna Carta der Physik. Es ist die Quelle der modernen Kosmologie. Auch wenn es nicht ausdrücklich erwähnt wird, geht alles, was wir heute über das Universum, seinen Ursprung und seine Entwicklung sowie über Phänomene wie Schwarze Löcher, Gravitationswellen und das expandierende Universum wissen, auf diesen Artikel zurück. Dieser Artikel wurde in gedruckter Form veröffentlicht und in vielen Aufsätzen und Büchern analysiert. Dennoch hat das handschriftliche Originalmanuskript einen besonderen Charme sowie einen emotionalen und ästhetischen Reiz. Es gibt uns ein Gefühl der Verwandtschaft mit dem Autor und einen Einblick in seinen kreativen Prozess.

Der Ausnahmephysiker Einstein ist bekannt für seine Relativitätstheorie und seine Arbeiten zur Quantenphysik. Was aber ist in der Öffentlichkeit vergessen? Was sollten wir noch über und von Einstein wissen?

Einstein hat nicht nur die Physik des 20. Jahrhunderts geprägt, sondern auch das öffentliche Bild von Wissenschaft und Wissenschaftlern sowie die kulturelle und politische Geschichte des 20. Jahrhunderts, weit über sein Fachgebiet hinaus. Er stand ständig im Blickpunkt der Öffentlichkeit, und seiner Persönlichkeit und seinen Ansichten wurde auch außerhalb der Welt der Physik große Achtung und Aufmerksamkeit geschenkt. Einstein war ein produktiver Schriftsteller. In zahlreichen Artikeln, in Korrespondenz mit Fachkollegen und in öffentlichen Ansprachen äußerte er sich zu einer Vielzahl politischer, sozialer und moralischer Fragen wie Nationalität und Nationalismus, Krieg und Frieden, Freiheit und Würde des Menschen, und er griff unermüdlich jede Form der Diskriminierung an. Seine unverblümten, kontroversen, oft als einfältig und naiv angesehenen Standpunkte hatten dennoch eine große Wirkung.

Was verraten uns die zahlreichen Dokumente aus Einsteins Nachlass über seine Arbeitsweise, seine Forschungsarbeit?

Das weit verbreitete Bild eines isolierten Wissenschaftlers, der fernab des Alltags die Geheimnisse der Welt enträtselt, ist ein sehr irreführendes Bild von Einsteins Persönlichkeit und Leben. Er war ein Mann dieser Welt, der mit Freunden und Institutionen zusammenarbeitete, sich mit ihnen austauschte und als politisch engagierter Bürger handelte. Er war ein harter Arbeiter. Selbst wenn er sich mit physikalischen Problemen herumschlug, die ihm keine Ruhe ließen, bis er seine Schlussfolgerungen formulieren konnte, ließ er in seiner Korrespondenz mit Fachkollegen nicht locker. Es gibt Tage, an denen er bis zu acht Briefe an Kollegen im Wissenschaftsbereich der Physik und außerhalb der Physik schrieb, in denen er seine Ansichten zur Wissenschaft und zu jedem Thema auf der Tagesordnung der Menschheit darlegte. Seine politischen und moralischen Ansichten und Aktivitäten sind nicht nur ein Zusatz zu seinem der Wissenschaft gewidmeten Leben. Sie werden von demselben inneren Drang angetrieben wie sein Streben nach wissenschaftlichen Erkenntnissen und seine Suche nach einer umfassenden Weltanschauung. Einsteins Relativitätsrevolution trug dazu bei, die Physik als führendes Paradigma der Modernisierung zu etablieren, und zeigte, dass der gesellschaftliche Fortschritt vom Fortschritt der Grundlagenwissenschaften und nicht nur der angewandten Wissenschaften abhängig geworden war. Einsteins Beitrag zu diesem Perspektivwechsel in seinen Vorträgen und Artikeln in der allgemeinen Presse kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Sicherlich ist dies eine sehr hypothetische Frage. Aber was würde Einstein zu einem Preis sagen, mit dem Leistungen gewürdigt werden, die die Forschung und die Wissenschaft als Ganzes verbessern können? Was meinen Sie, wie würde er das Anliegen des von der Einstein Stiftung Berlin ausgeschriebenen Preises zur Förderung der Qualität in der Forschung beurteilen?

Ich glaube, dass Einstein das allgemeine Konzept, das den von der Einstein Stiftung Berlin verliehenen Preisen zugrunde liegt, gutheißen würde. Ich stütze mich dabei auf Einsteins autobiographische Aufzeichnungen. In diesen Aufzeichnungen schildert Einstein seine persönliche Sicht auf einige der wichtigsten wissenschaftlichen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts. Das Besondere an seiner Darstellung dieser Entwicklungen ist, dass der Schwerpunkt auf Denkprozessen liegt, die zu diesen Ergebnissen führten, und nicht auf den Ergebnissen selbst. Dies steht im Einklang mit seiner Aussage, dass es im Leben eines Menschen wie ihm nicht darauf ankommt, wann und was er tut, sondern wie und worüber er denkt. Nicht einmal eine von Einsteins Arbeiten, die seine wissenschaftliche Revolution markieren und zu den Grundpfeilern der modernen Physik wurden, wird in seinen autobiographischen Notizen erwähnt. Er spricht nur über den Denkprozess, der zu ihnen führte. Ein Prozess, der von erkenntnistheoretischen und philosophischen Überlegungen begleitet wird und auf einer umfassenden Weltanschauung beruht. Daher glaube ich, dass Einstein Forschungspreise begrüßen würde, die sich nicht nur auf die Forschungsergebnisse selbst konzentrieren, sondern auch auf den breiteren intellektuellen Rahmen, der zu solchen Ergebnissen führt.

Einstein ist unbestreitbar eine der herausragenden Persönlichkeiten des vergangenen Jahrhunderts. Wie spüren wir seinen Geist auch heute und in Zukunft? Was bedeutet Einstein heute für die moderne Wissenschaft?

Wenn Menschen, selbst sehr wichtige und beliebte Persönlichkeiten, sterben, tritt ihr Andenken normalerweise in den Hintergrund. Man erinnert sich an sie im Zusammenhang mit ihren Leistungen und ihrem Wirken, aber nicht in der breiten Öffentlichkeit. Der Fall Einstein zeigt das Gegenteil. Heute, rund 65 Jahre nach seinem Tod, ist das öffentliche Interesse an seinem Leben und seiner Wissenschaft ungebrochen. Jahrestage der Meilensteine seines Schaffens wurden weltweit mit öffentlichen Veranstaltungen, internationalen Konferenzen, Workshops, Fernsehsendungen und einer Flut neuer Bücher gefeiert. Sein Bild ziert viele kommerzielle Produkte und ist das bekannteste Gesicht auf unserem Planeten. Fortschritte in der Wissenschaft und neue kosmologische Beobachtungen erinnern uns immer wieder daran, dass Einstein Recht hatte. Sie erinnern uns aber auch daran, dass das Streben nach Wissen kein Ende nehmen kann. Wenn neue Entdeckungen gemacht werden, die mit Einsteins Arbeit in Zusammenhang stehen, wie etwa die kürzliche Entdeckung von Gravitationswellen, sind Menschen rund um den Globus, die nicht unbedingt verstehen, worum so viel Aufhebens gemacht wird, oder vielleicht gerade deswegen, von der charismatischen Anziehungskraft der Wissenschaft und dem ikonischen Bild ihres prominentesten Vertreters - Albert Einstein - fasziniert.

Welchen Rat haben Sie für junge Forscher? Was würde, wiederum rein hypothetisch, Albert Einstein jungen Leuten raten?

Es ist schwierig, Einsteins Weltanschauung auf die heutige Zeit zu übertragen. Er war ein unabhängiger Beobachter, der oft unkonventionelle Meinungen vertrat. Aber wenn es sein muss, würde ich annehmen, dass er angesichts der Klimakrise, des Hungers, der Armut und der Kriege in der Welt und der immer noch bestehenden atomaren Bedrohung skeptisch über die Zukunft der Menschheit wäre, aber vielleicht ein wenig Hoffnung hätte, mit den Kräften der Vernunft und unserem Glauben an die gute Seite der Menschheit darauf zu reagieren. Seine "Flaschenpost" für die jungen Menschen von heute und für die heutige Generation im Allgemeinen würde also wahrscheinlich lauten: "Kultiviert die Wissenschaft, denn sie kann das Beste in uns Menschen zum Vorschein bringen."

Sehr geehrter Herr Gutfreund. Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für dieses Interview genommen haben.

 

Das Interview führte André Tonn, Publiplikator

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