Um ihre Agenda für die neue Legislaturperiode vorzustellen, lud die Einstein Stiftung die wissenschaftspolitischen Fraktionssprecher:innen zum Gespräch mit dem Stiftungsbeirat ein.
Ina Czyborra (SPD), Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses und Sprecherin für Wissenschaft im Interview mit der stellvertretenden Beiratsvorsitzenden der Einstein Stiftung Berlin, Melanie Bähr über Digitale Bildung, vorausschauende Verkehrsentwicklung und den Gesundheitsstandort Berlin
Frau Czyborra, Ihre Partei hat sich fünf große Ziele vorgenommen: Bauen, Bildung, Beste Wirtschaft, Bürgernahe Verwaltung und Berlin in Sicherheit. Wie wollen Sie dies konkret umsetzen?
Als erstes müssen wir bei der Verwaltung und den politischen Prozessen ansetzen. Gerade in der Pandemie haben wir erlebt, wie schwerfällig die Umsetzung wichtiger Maßnahmen nur zum Teil gelingt. Bei Herausforderungen wie dem Klimawandel haben wir nicht die Zeit, uns jahrelang mit den gleichen Themen zu beschäftigen und lange zu debattieren, wir müssen handeln. Dafür müssen zunächst die Verwaltungsprozesse vereinfacht werden. Bei mir im Wahlkreis Zehlendorf nimmt etwa allein die Genehmigung eines Zebrastreifens sehr viel Zeit in Anspruch. So werden wir den Neustart für eine sozialökologische Transformation nicht hinbekommen. Mein Vorschlag wäre ein Verfassungskonvent, der die vielen politischen Akteure, Entscheidungsträger*innen und Bezirke an einen Tisch bringt und sich gemeinsam die großen Fragen der Stadt vornimmt. Wir müssen uns trauen, Entscheidungen zu treffen, auch wenn man für sie von der einen oder anderen Seite Kritik ernten mag. Man kann es nicht allen recht machen, aber wir müssen schneller zu Lösungen finden.
Und wie schätzen Sie das Wissenschaftsmanagement an den Berliner Hochschulen ein?
Das Wissenschaftsmanagement ist eine Aufgabe, die weiter professionalisiert werden muss. Ich möchte positiv hervorheben, dass hierfür bereits eigene Weiterbildungsstudiengänge geschaffen wurden - ein wichtiger Schritt, denn die bürokratischen Vorgänge werden durch die Digitalisierung immer komplexer und erfordern neue Herangehensweisen. Die Professionalisierung des Wissenschaftsmanagements ist ein Thema, das die Hochschulen selbst als Schrittmacher vorantreiben und bewältigen müssen. Und was die Realisierung von Gleichstellung und Diversität betrifft, braucht es auch hier Professionalisierung und kompetente Leute, damit diese wichtigen Ziele in der akademischen Selbstverwaltung tatsächlich umgesetzt werden.
Was sind für Sie die wichtigsten Themen, denen sich das Land aktuell widmen sollte, auch mit Blick auf den Neustart nach der Pandemie?
Von großer Bedeutung sind für mich das Hochschul- und Bildungssystem und ihre Digitalisierung. Die Distanzlehre wird uns auch in Zukunft noch beschäftigen und wir brauchen Systeme, die in der Lage sind, sich veränderten Umständen anzupassen und auf Ausnahmesituationen zu reagieren. Auch die Berliner Wirtschaft und ihre besonders stark von der Pandemie betroffenen Bereiche wie die Gastronomie oder der Veranstaltungsbereich müssen unterstützt werden. Darüber hinaus ist mir besonders wichtig, dass wir demokratische Prozesse und Engagement in den Stadtteilen stärken, damit sich mehr Berliner*innen direkt in ihren Communities und Kiezen einbringen. Wir leben in einer Stadt, die stark von Zuzug und Einwanderung geprägt ist. Mehr Beteiligung erreichen wir nur, wenn wir die Bindungskraft der Stadtstrukturen erhöhen und beispielsweise Kirchen und Sportvereine stärker einbeziehen, uns dem Community-Building in den einzelnen Stadtbezirken widmen. Auf diese Frage müssen wir in der Politik wie auch als Stadtgesellschaft eine Antwort finden. Ich bleibe optimistisch, was den Neustart angeht. Berlin ist eine Meisterin in der Bewältigung von Krisen, von den Nachkriegsjahren bis zur Wendezeit.
Sie haben die Digitale Bildung schon angesprochen. Mit Blick auf die Home Schooling-Monate, die hinter uns liegen - was ist ihr Fazit?
Wir haben gesehen, dass die digitale Ausstattung der meisten Schulen, aber auch vieler einkommensschwacher Haushalte nicht ausreicht. In der Pandemie wurde deutlich, dass die digitale Spaltung die Bildungsungleichheit noch verstärkt. Schulen sind nicht ausreichend angebunden, viele Schüler*innen haben keinen Zugang zum digitalen Lernmaterial, weil sie zu Hause keine funktionierenden Geräte haben. Dieses Defizit ist aber nur die erste Ebene. Auf der zweiten Ebene geht es darum, sinnvolle Ziele für die digitale Bildung festzulegen. Welche Lernprozesse funktionieren überhaupt digital, welche eher nicht? Bei welchen Themen benötige ich alle fünf Sinne, um den Stoff zu begreifen? Ich sehe besorgt, dass in dieser sich rasant verändernden Welt oft nicht genau hingeschaut wird, was Kinder wirklich benötigen. Sie sind auf Feedback angewiesen, um zu lernen und sich weiter zu entwickeln. Wenn sie alleine zu Hause arbeiten, kommt das häufig zu kurz, vor allem bei denen, deren die Eltern nicht viel verfügbar sind. Zumindest aber hat die Coronakrise dabei geholfen, digitale Prozesse innerhalb der Gesellschaft insgesamt stärker in den Blick zu nehmen.
Wie lautet Ihr Zukunftsbild einer Smart City Berlin?
Wir sind immer schnell dabei, schöne Zukunftsbilder zu entwerfen. In den Smart City Debatten kommt mir dabei aber oft die Klärung der Zuständigkeiten zu kurz. Was ist eigentlich Aufgabe der öffentlichen Daseinsversorge, was fällt in den Bereich Privatwirtschaft? Ist zum Beispiel ein gutes W-LAN Aufgabe des Staats? Auch was die Digitalisierung der Verwaltung angeht, sollten wir uns fragen: Welche Prozesse können wir konkret vereinfachen, wie smart und wie barrierefrei geht das? Eine meiner Prioritäten ist, allen Informationen zur Gestaltung des täglichen Lebens zugänglich zu machen - angefangen beim Thema Nachhaltigkeit. Menschen, die nachhaltiger leben möchten, sollten mehr Serviceangebote gemacht werden und die Suche nach lokalen Anbietern, passenden Verkehrsmitteln und so weiter erleichtert werden. Davon kann die Wirtschaft wie auch der Konsument oder die Konsumentin profitieren.
Beim Thema Stadtverkehr treffen diverse Interessengruppen aufeinander. Wie sollte die Mobilität der Zukunft gestaltet werden?
Viele Menschen empfinden das Leben in Berlin als anstrengend, zuerst wird immer der Verkehr genannt, von dem im Alltag auch die Vereinbarkeit von Beruf und Familie abhängt. Immer mehr Menschen wohnen in Außenbezirken und die Frage der Anbindung zunehmend wichtig. In der Stadtentwicklung sollten wir vorausschauend handeln. Wir machen bisher noch zu viel vom Status Quo abhängig. Mein Lieblingsbeispiel ist der U-Bahnhof Dahlem Dorf. Zur Zeit seiner Errichtung 1913 wurde er auf einer grünen Wiese erbaut. Auf der Domäne Dahlem wurde damals noch Landwirtschaft betrieben. Es gab die Freie Universität noch nicht, auch kein Kaiser-Wilhelm-Institut oder andere wichtigen Institutionen. Erst wurde der U-Bahn-Hof gebaut und dann wurde der Stadtteil entwickelt mit den Wissenschaftseinrichtungen, mit den Taut-Bauten, der Papageiensiedlung. Heutzutage würde man eine solche Entscheidung wohl nicht mehr treffen, denn man macht den Bau eines Bahnhofs immer von der Anzahl der potenziellen Fahrgäste abhängig. Das bedeutet, dass sich unsere Verkehrsinfrastruktur praktisch parallel zum Aus- und Neubau der Stadt entwickelt, und nicht umgekehrt. Eine weitere Frage ist natürlich, inwieweit wir den städtischen PKW- und LKW-Verkehr eindämmen können.
Wie stehen Sie zu einer Öffnung des Forschungsraumes Berlin-Brandenburg?
Ich halte diesen Schritt für sehr wichtig und wünsche mir, dass wir unsere Kooperation beispielsweise mit dem Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung verstärken. Es gibt auch die Forschungstangente Cottbus - Adlershof. Und gerade bei der Entwicklung des Forschungsraumes Cottbus sehe ich enormes Potenzial - hier besteht die enge Kooperation mit der TH Wildau am Berliner Stadtrand, die ähnliche Ausrichtung der Forschungsstandorte lädt zu gemeinsamen Projekten mit Adlershof ein. "Raum mit Metropole" finde ich einen guten Ausdruck, um zu betonen, dass man das Ganze nicht immer nur von Berlin aus zu betrachten hat. Es geht um die gesamte Region. Wenn es uns nicht gelingt, den Strukturwandel gemeinsam zu bewältigen, können in Berlin noch so viele Menschen Fahrrad fahren, wie sie wollen - eine sozial-ökologische Wende schaffen wir dann nicht. Damit möchte ich sagen: Wir müssen den Klimawandeln gemeinsam, mit den ländlichen Gebieten zusammen, bewältigen. Das Climate Change Center Berlin-Brandenburg und das geplante Einstein Center Climate Change können da sicher wegweisende Vorhaben sein.
Wie können Ihrer Meinung nach mehr private Mittel für die Forschung eingeworben werden?
Die Einwerbung privater Mittel ist in Deutschland nicht gerade einfach. Es gibt zwar Stiftungen, die hohe Mengen an Geld verwalten, diese aber für eigene Zwecke ausgeben und nicht etwa an wissenschaftsfördernde Institutionen wie die Einstein Stiftung weiterleiten. Es gilt, mehr Aufmerksamkeit dafür zu schaffen, dass sich Förderung von Spitzenforschung für alle lohnt. Die Pandemie hat deutlich gemacht, wie wichtig Wissenschaft und Forschung für unser Leben, unsere Wirtschaft und Gesellschaft sind. Public Health und Gesundheitsprävention sind Themen, zu denen viele Menschen einen Bezug haben, weil es sie mehr oder weniger direkt betrifft. Mit der Charité, ihrem beeindruckenden Campus Benjamin Franklin und ihrer Forschung an individualisierten Therapieformen spielt Berlin in diesem Bereich in der ersten Liga. Die Vielfalt an Forschungsinstitutionen, insbesondere im Gesundheitssektor, macht unseren Standort einzigartig. Wir sollten da als Land durchaus selbstbewusster auftreten und die Berliner Wissenschaft besser nach Außen verkaufen, um private Mittelgeber zu Investitionen zu überzeugen. Dabei denken wir schließlich nicht nur an uns, sondern auch an die nächsten Generationen. Es geht darum, das Leben in unserer Stadt für alle lebenswert zu erhalten.
Wenn Sie heute noch einmal die Wahl hätten, ein Studium aufzunehmen, für welches Fach würden Sie sich entscheiden?
Die Frage ist nicht leicht zu beantworten. Ich habe mit viel Freude Prähistorische Archäologie an der Freien Universität Berlin studiert und 2001 in dem Fach promoviert. Mein Studium war insgesamt eine großartige Zeit. Ich konnte vieles lernen, das mir heute noch hilft und nützlich ist, in erster Linie die wissenschaftliche Denkweise. Wenn ich es mir noch einmal aussuchen könnte, würde ich am liebsten bunt durch die Fächer studieren und mir wie von einem Buffet die schönsten und interessantesten Themen heraussuchen: Bioinformatik zum Beispiel, denn das, was ich selbst in der Schule über Genetik gelernt habe, war damals schon bestimmt um 20 Jahre veraltet. Ich wünsche den jungen Menschen, die ihre Studienentscheidung nach der Pandemie treffen, dass wir ihnen Zeit geben und ihnen die Freiheit lassen, ihren eigenen Weg zu beschreiten. Dafür sollten wir noch ein wenig an der Flexibilität und Individualisierung von Studiengängen arbeiten und die Anrechenbarkeit von Studienleistungen vereinfachen.
Und was gab nach Ihrer Promotion den Ausschlag, sich für eine politische Karriere zu entscheiden?
Schon als Schülerin und dann als Studentin bei den Jusos-Hochschulgruppen habe ich Politik gemacht und dabei viel gelernt. Politik war immer eine große Liebe neben der Archäologie. Und in allen meinen Lebensphasen habe ich mich besonders mit Fragen der Gleichstellung und der Situation der Frauen befasst - schon in den Gremien an der FU, als es die ersten Frauenforschungsprofessuren gab und die ersten Frauenbeauftragten. Ich kenne die Diskussionen und auch die Widerstände. Ich habe mich ja auch gar nicht gleich für Politik als Beruf entschieden, sondern erst mal ein Unternehmen gegründet und mich viel in Unternehmerinnennetzwerken herumgetrieben. So bin ich in die politische Karriere, wie Sie es nennen, hineingewachsen und war dann in meiner ersten Wahlperiode im Abgeordnetenhaus folgerichtig frauenpolitische Sprecherin der Fraktion.
Haben Sie vielen Dank für das Gespräch, Frau Czyborra.
Ich bedanke mich bei Ihnen, Frau Bähr.
05. August 2021