Details

Nachrichten der Einstein Stiftung Berlin


Mit Einstein über Berlin: Tobias Schulze

Die stellvertretende Beiratsvorsitzende Melanie Bähr im Gespräch mit Tobias Schulze, MdA, stellvertretender Landesvorsitzender und Sprecher für Wissenschaft und Forschung der Fraktion DIE LINKE. Foto: Michael Sven Meier

Um ihre Agenda für die neue Legislaturperiode vorzustellen, lud die Einstein Stiftung die wissenschaftspolitischen Fraktionssprecher:innen zum Gespräch mit dem Stiftungsbeirat ein.

Tobias Schulze (DIE LINKE), Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses und Sprecher für Wissenschaft und Forschung seiner Fraktion, im Interview mit der stellvertretenden Beiratsvorsitzenden der Einstein Stiftung, Melanie Bähr, über faire Governance an den Hochschulen, nachhaltige Nachwuchsförderung und das Innovationspotenzial der städtischen Betriebe

 

Das Programm Ihrer Partei lautet Rot, Radikal, Realistisch. Können Sie das erläutern?

Rot ist unsere Parteifarbe. „Radikal“ fällt schon seit einiger Zeit wieder öfter in den politischen Debatten. Das haben wir gewählt, weil Leute an manchen Stellen doch größere Schritte erwarten, nicht ein Herummanövrieren, wie wir in den letzten Jahren hatten. Es gibt ein paar Probleme, die brauchen Lösungen, die an die Wurzel gehen. In Berlin ist das klar die Mieten- und die Wohnungsfrage, in globaler Hinsicht die Klimaschutzfrage. Und realistisch klingt wie ein Gegensatz dazu, aber in der Verbindung wollen wir sagen, dass an die Wurzel gehende Lösungen tatsächlich möglich sind, also konkret umgesetzt werden können.

 

Die Berliner Linke will den demokratischen Prozessen in der akademischen Selbstverwaltung mehr Raum geben. Wie wollen Sie das konkret umsetzen?

In den vergangenen Jahren ist die Wahlbeteiligung in den Hochschulen in allen Statusgruppen massiv runter gegangen, vermutlich infolge der Wahrnehmung, man könne als wissenschaftliche Mitarbeiterin oder Student nicht viel mitentscheiden. Daher wollen wir dafür den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern mehr Raum für Selbstverwaltung geben. Wo eine Hochschule in zehn Jahren stehen wird, sollte nicht nur von Außen, also politisch und durch Drittmittelgeber, vorgegeben werden. Die Forscher*innen sollen die Möglichkeit haben, selbst ihre Schwerpunkte zu setzen. Konkret müssen dafür die Befugnisse der Gremien präzisiert und ausgeweitet werden. Beispielsweise sollten die Mitarbeiter*innen an den Hochschulen selbst über den Haushalt entscheiden können. Bisher macht das ja das Kuratorium. Doch das besteht nur zur Hälfte aus internen Mitgliedern, die andere Hälfte sind alles externe. Wir streben damit mehr Autonomie der Wissenschaft an.

Es gibt auch ein gewisses Ungleichgewicht in der Governance. Die wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind ja mit Abstand die größte wissenschaftliche Statusgruppe an den Hochschulen, haben aber wenig mitzuentscheiden. Die Professor*innen sind dagegen eine kleine Gruppe, jedoch mit vielen Befugnissen. Das Zahlenverhältnis sollte auch in den Gremien, in den Selbstverwaltungen, entsprechend repräsentiert sein. Wir müssen darüber hinaus auch ein Auge auf das Verhältnis von Managementstrukturen und Selbstverwaltungsstrukturen haben. Management hat in den letzten Jahren stark an Gewicht gewonnen, gerade im Zuge von Projektfinanzierung, Drittmittelorientierung und größerer Flexibilität des Systems. Das muss gemanagt werden, das ist klar. Aber Forschung machen immer noch die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und nicht die Manager – das sollte auch im System ausgewogen widergespiegelt werden.

 

Mit Blick auf den Wissenschaftsstandort Berlin, welche Fachbereiche sollten aus Ihrer Sicht stärker gefördert werden? Wo sollte man Schwerpunkte setzen?

Eine Vorbemerkung: Bisher gab es ja quasi gar keine zielgerichtete Förderung seitens des Landes Berlin für diese oder jene Fachgebiete. Bis auf die Forderung, dass die Lehrerbildung ausgebaut werden soll, hatten wir quasi keine eigene Schwerpunktsetzung. Die Schwerpunkte wurden über die Exzellenzinitiative, über Drittmittelförderung gesetzt. Deswegen freue ich mich auch über die Einstein Stiftung: Sie ermöglicht, dass die Berliner Wissenschaft überhaupt so etwas wie eine eigene Agenda entwerfen kann. Das Einstein-Zentrum Digitale Zukunft ist ein regelrechtes Vorzeigemodell dafür. Wo die Berliner Forschung in zehn Jahren stehen soll, das müssen wir jetzt aber auch mithilfe der nächsten Hochschulverträge definieren, die sind ebenfalls ein Instrument.

Was konkrete Themen betrifft, fällt mir zum Beispiel die Friedens- und Konfliktforschung ein, der ganze Bereich der international vergleichenden Forschung. Berlin sollte als große europäische Hauptstadt dafür eine entsprechende Wissenschaftsstruktur bieten. Auch die hier bereits stark vertretene Integrations- und Migrationsforschung ist ein Zukunftsthema. Staatssekretär Krach hat vorgeschlagen, eigene Klimaschutzprofessuren zu schaffen – Themen, die  uns die nächsten Dekaden beschäftigen: Krisenfestigkeit, Resilienz, Klimaschutz. Auch die Frage, wie es mit den Städten weitergeht, muss erforscht werden. Berlin hat ja in vielen Punkten mehr mit London, Paris, Barcelona, Budapest oder Warschau gemeinsam als mit etwa Eberswalde. Die Metropolen beschäftigen Fragen wie sozialer Zusammenhalt, eine klimaresiliente Stadtentwicklung, wie Flächen genutzt werden, wie konsumiert wird.

Persönlich liegt mir auch am Herzen, die Kommunikationswissenschaften und Publizistik wieder zu stärken. Das habe ich, neben Politik und Literatur, an der Freien Universität studiert. Nun wurden dort die Professuren am Institut Stück für Stück abgebaut. Die Entwicklung, das Fach abzubauen, finde ich für eine Medienstadt wie Berlin absurd.

 

Was muss passieren, dass die Hochschulen auch künftig attraktiver Arbeitgeber mit bleiben?

Wenn man es im internationalen Vergleich betrachtet, haben wir jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die direkt von der Promotion kommen, in Berlin bisher noch nicht genug anzubieten. Es gibt kaum unbefristete Stellen. Immerhin hat die Einstein Stiftung den Universitäten mit großen Berufungen geholfen. Dank Programmen wie der Einstein-Profil-Professur ist es gelungen, internationale Koryphäen an den Berliner Unis zu verstetigen. Das ist ausgezeichnet. Für besonders talentierte Forschende aus dem Ausland, vor allem jene Wissenschaftler*innen unter 40, die in der innovativsten Phase ihres Lebens sind, haben wir aber kaum langfristige Perspektiven im Angebot. Wir können lediglich befristete Postdoc-Stellen anbieten. Die sagen dann: „Dafür gehe ich doch nicht nach Berlin." Selbst die Juniorprofessur ist da eigentlich keine gute Alternative, denn die wird zumeist als Sprungbrett gesehen, um auf eine entfristete Professur zu kommen – und weg sind sie. Das ist nicht nachhaltig. Wir diskutieren im Senat gerade über das Hochschulgesetz und werden dort sowohl im wissenschaftlichen Mittelbau als auch für Hochschullehrer*innen Stellenkategorien schaffen, die die Brücke von der Promotion über einen Tenure-Track in unbefristete, selbstständige, wissenschaftliche Beschäftigung schlagen.

Für die internationale Wettbewerbsfähigkeit unserer Hochschulen ist also ganz entscheidend, dass junge Menschen hier andocken können und dann auch weiterkommen. Dafür brauchen wir auch unbefristete Stellen neben der Professur, in einer eigenen, neuen Kategorie.

 

Wie stehen Sie denn eigentlich einer Öffnung des Forschungsraums Berlin-Brandenburg gegenüber?

Es gibt bereits viele Kooperationen. Was fehlt, ist so eine Art Masterplan. Die Unis reden miteinander: Potsdam, Cottbus, Senftenberg mit der Technischen Universität, der Humboldt Universität, der Freien Universität. Doch es gibt noch keine strategische Debatte, wohin man will man und welche Zusammenarbeit sich dafür konkret anbietet. Wir haben schließlich auch in Brandenburg eine reichhaltige außeruniversitäre Forschungsstruktur, die wir stärker mit den Berliner Hochschulen verknüpft sollten. Die Einstein Stiftung könnte in diesem Prozess gut ein Partner sein. Bei der Stiftung Zukunft Berlin wird das Thema Berlin-Brandenburg bereits intensiv diskutiert.

Auch die Studienmobilität spielt in dieser Öffnung für mich eine große Rolle. Lange vor der Bologna-Reform, als ich noch studiert habe, Ende der 90er, Anfang 2000er Jahre, konnte man im gesamten Raum Berlin-Brandenburg studieren, alle Scheine einfach im Prüfungsbüro abgeben und das war’s. Heutzutage ist das kaum mehr möglich und scheitert daran, dass Modulbeschreibungen nicht exakt gleich lauten. Dann wird der ganz Kurs der einen Uni vom selben Fachbereich an einer anderen nicht anerkannt. Wenn schon den Studierenden die Mobilität erschwert wird, wie soll sich das dann später im System weiter durchsetzen?

 

Wie wollen Sie Open Science Initiativen in Berlin stärken?

Es gibt einen Open Science Masterplan für Berlin, entwickelt vom Open Access Büro Berlin. Einerseits müssen zunächst die Infrastrukturen geschaffen werden. Daran wird schon gearbeitet, das müsste aber noch besser finanziert werden. Bibliotheken sind heute keine Bücheraufbewahrungsanstalten mehr, sondern in der Tat wichtige Publikationsinstrumente für Wissenschaftler*innen. Um dem gerecht zu werden, brauchen die Bibliotheken aber eine gute digitale Infrastruktur und das Personal. Das fehlt vielerorts noch. Außerdem braucht es einen Wandel, was die Anreize, die sogenannten Incentivierungen, in der Wissenschaft angeht: eine Open Access-Publikation muss genauso viel wert sein wie die bei einem Verlag. Publikationszuschüsse für Veröffentlichungen sollten der Normalfall sein, denn es kostet viel, seine Arbeit drucken zu lassen und einen Gewinn macht man in der Regel nicht damit.

 

Stichwort „Digitalisierung“ – wo stehen wir denn da aus Ihrer Sicht in der Schulbildung und wo sollten wir hin?

Ich habe zwei schulpflichtige Kinder, habe also selbst gesehen, wie die Lage zu Beginn der Pandemie war und wie sie im Vergleich dazu heute ist. Auch als Sprecher für digitale Verwaltung und Bildung hatte ich viel mit dem Thema zu tun. Ein großes Problem ist, dass viele Lehrerinnen und Lehrer sich die Kompetenzen, die sie für die digitale Lehre benötigten, erst selbst beibringen mussten. Immerhin wurden hier in kürzester Zeit zumindest Grundlagen geschaffen. Aber wie man Digitalisierung wirklich so nutzt, dass sie auch unter Präsenzbedingungen den Unterricht bereichern können, dieses Wissen ist noch nicht flächendeckend in den Schulen vorhanden. Ein Gewinn im Zuge der letzten Monate ist, dass der es einen ersten Schub für mehr digitale, frei verfügbare Lehrressourcen gibt. Das muss jetzt weiter finanziell unterstützt werden. Die Lehrmaterialien sind da, bei den Grundlagen sind wir vorangekommen, aber in der Frage der Methodik gibt es noch viel zu tun. Entscheidend ist dabei auch die Lehrer- und Lehrinnenausbildung an den Hochschulen. Digitale Kompetenzen für Distanzlehren und -lernen müssen in die Ausbildungspläne aufgenommen werden. Das Thema wird uns mit Sicherhalt erhalten bleiben. Wir werden nicht wieder zum kompletten Präsenzmodus zurückgehen und die Computer in die Ecke stellen, weder an den Schulen noch an den Universitäten oder anderen Einrichtungen.

 

Wie könnten die großen Berliner Eigenbetriebe von der Digitalisierung profitieren?

Ich habe während der letzten fünf Jahre alle großen städtischen Eigenbetriebe besucht und mit den Angestellten gesprochen, die für Digitalisierung zuständig sind. Die haben alle äußerst spannende Projekte in der Schublade oder auch schon in Arbeit, sind aber so mit dem Tagesgeschäft beschäftigt, dass sie hier bis auf wenige Ausnahmen nicht richtig weiterkommen. Das hat sehr viel Potenzial, gerade in Verbindung mit der Forschung. Die Berliner Wasserbetriebe haben beispielsweise Forschungsprojekte, wo sie Sensoren in der ganzen Stadt anbringen, auch in den Abwasserkanälen. Das wird dann mit den Wetterdaten verknüpft. Wenn sich abzeichnet, dass ein Starkregenereignis kommt, sollen die Kanäle digital so gesteuert werden, dass das Abwasser schnell abfließen kann: Schotten auf, alles heraus aus der Stadt.

Ich habe bei meinen Besuchen aber auch erfahren, dass wir ein großes Breitbandproblem in der Stadt haben. Wir haben immer noch weiße Flecken, wo man vielleicht ein Megabit pro Sekunde hat und dann ist Schluss. Aber wenn schon alle Straßen aufgerissen werden für die Sensorik der Wasserbetriebe, können wir doch auch Glasfaser legen. Dazu müsste es vom Land Berlin einen klaren Auftrag geben. Man könnte sagen, wir verlegen Glasfaserkabel über einen eigenen, landeseigenen Dienstleister, damit hier wirklich jedes Haus angeschlossen wird und wir tatsächlich einmal digitale Hauptstadt sein können. Ähnliche Beispiele mit spannender Forschung gibt es bei den Wohnungsunternehmen, bei der BVG und ihrer Nahverkehrsapp Jelbi. Auch der VBB insgesamt macht tolle Sachen über offene Schnittstellen für Verkehrsdaten und versucht, Verkehrsströme in der Stadt klüger zu lenken mithilfe der Daten. Ich war übrigens auch bei Google und habe gefragt: Was können Sie eigentlich der Stadt zurückgeben? Das Unternehmen verdient viel Geld hier, mit Werbung und den durch Google Maps erhobenen Massendaten. Die Verkehrsdaten könnte die Stadt zur Verkehrslenkung und für ähnliche Bereiche bestens nutzen, wenn Google sie spenden würde. Die zeigten sich auch bereit, das zu machen. Dabei ist natürlich wichtig, dass die öffentlichen Infrastrukturen in öffentlicher Hand bleiben, die städtischen Betriebe hier die Oberhand behalten, denn die kann man steuern. Ein großes Unternehmen wie Google allerdings nicht.

 

Vielen Dank für das Gespräch, lieber Herr Schulze.

Herzlichen Dank auch an Sie, Frau Bähr.

 

05. August 2021

Zurück zur Übersichtsseite