Der Exodus der Zahlenkünstler

Als die Nationalsozialisten in den 1930er Jahren jüdische Mathematiker aus dem akademischen Leben drängten, protestierte kaum ein Fachkollege. Viele Verfolgte flohen ins Ausland. Einige wurden ermordet. Die Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin verlor ihre Stellung als Hochburg der mathematischen Forschung.

Am Samstag, den 29. April 1933, erhält Mathematikprofessor Issai Schur Post vom Preußischen Ministerium für Wissenschaft, Kultur und Volksbildung. Hiermit sei er von seiner Lehrtätigkeit an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität beurlaubt, so das Schreiben: „mit sofortiger Wirkung“. Schur ist wie vor den Kopf gestoßen.

Der hagere Mann mit der filigranen Brille auf der Nase ist erst 58 Jahre alt und seine fachliche Expertise unbestritten. „Einer der produktivsten und ideenreichsten Mathematiker“, bescheinigen ihm Fachkollegen. Seit bald 40 Jahren lebt Schur, der in Mahiljou (Weißrussland) geboren wurde, in Deutschland. Längst hat er die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen. Seit 20 Jahren ist er Professor, seit gut zehn Jahren Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Seine Vorlesungen zur Zahlentheorie und zur Darstellungstheorie von Gruppen sind beliebt. Doch er ist Jude – und aus Sicht der Nationalsozialisten nicht mehr tragbar.

Scharenweise drängen die neuen Machthaber in den 1930er Jahren jüdische Mathematiker wie Issai Schur aus dem akademischen Leben. Mit immer neuen Gesetzen und Schikanen schüchtern sie die Wissenschaftler ein. Viele fliehen ins Ausland. Andere werden ermordet oder nehmen sich das Leben. Und die Friedrich-Wilhelms-Universität verliert ihre Stellung als Hochburg der mathematischen Forschung. Der ideologisch begründete Hass gegen alle Juden ist den Nationalsozialisten wichtiger als Förderung und Schutz erstklassiger Forschung. Weshalb aber erleben die Betroffenen so wenig Solidarität von ihren Fachkollegen? Und warum zögern manche jüdische Forscher ihre Flucht dennoch gefährlich lange hinaus?

"Wenn Hitler es darauf angelegt hätte, Amerika zum Weltzentrum der mathematischen Forschung zu machen, hätte er es nicht besser anfangen können."

Raymond Fosdick (1955)

Die Beurlaubung Schurs im Frühling 1933 kommt nicht überraschend: Bereits im Sommersemester 1931 reißen Jung-Nazis während einer seiner Vorlesungen die Tür zum Hörsaal auf und rufen: „Juden raus! Juden raus!!“ Dann rennen sie davon. Die Studenten im Saal versichern Schur ihrer Sympathie. Doch er und viele weitere jüdische Gelehrte werden in den Monaten darauf zunehmend schikaniert. Nur wenige Wochen vor Schurs Beurlaubung, am 7. April, verabschieden die Nazis schließlich das sogenannte Berufsbeamtengesetz – das ihnen vor allem zur Entlassung unerwünschter Professoren dienen wird. „Beamte, die nicht arischer Abstammung sind, sind in den Ruhestand zu versetzen“, heißt es darin. Zwar ist, wer bereits vor 1914 Professor wurde, von der Regelung ausgenommen. Doch der zusätzliche Passus: „Zur Vereinfachung der Verwaltung können Beamte in den Ruhestand versetzt werden, auch wenn sie noch nicht dienstunfähig sind“ hebelt diesen Schutz wieder aus.

Schur hat die beunruhigenden Entwicklungen im öffentlichen Leben verfolgt und kann es dennoch kaum fassen, als er Ende April 1933 beurlaubt wird. Ob er sich wegen seiner wissenschaftlichen Verdienste zu sicher fühlte? Er wäre nicht der einzige jüdische Mathematiker, der die drohende Gefahr unterschätzt hat. Sein renommierter Kollege Edmund Landau von der Universität Göttingen scherzte 1932, als ein Ministerialrat ankündigte, die Nazis würden im Fall ihrer Machtergreifung in der Lüneburger Heide ein Konzentrationslager errichten: „Dann sollte ich mir unverzüglich ein Zimmer mit Südbalkon reservieren lassen.“ Wahrscheinlich kann Landau, wie so viele andere, nicht glauben, dass die Deutschen wirklich einen solchen Fanatismus entwickeln würden.

Manche Wissenschaftler erkennen den Ernst der Lage früher: Der aus einer jüdischen Familie stammende Mathematikprofessor Richard von Mises, Direktor des Instituts für Angewandte Mathematik der Friedrich-Wilhelms-Universität, bittet, obwohl katholisch getauft, bereits im Oktober 1933 um seine Entlassung und bemüht sich um eine Stelle im Ausland. Ab 1934 arbeitet der Experte für Aero- und Hydrodynamik an der Universität Istanbul. Die Ausnahme-Mathematikerin Emmy Noether von der Universität Göttingen emigriert bereits 1933 und arbeitet später an einem College bei Philadelphia. Und der in Berlin lebende Physik-Nobelpreisträger Albert Einstein verlässt Deutschland 1933 unter Protest Richtung Übersee, um in Princeton (New Jersey) weiter zu forschen.

Issai Schur hingegen harrt in Berlin aus. Die Beurlaubung im April 1933 hat ihn schwer getroffen. Doch ein Angebot aus den USA für eine Professur lehnt er ab. Er fühle sich nicht mehr bei Kräften genug, in einer Fremdsprache zu unterrichten. Er könne Deutschland daher nicht verlassen, gesteht er einem Freund. Er wolle abwarten. Die Begeisterung für Hitler werde sicher bald ein Ende nehmen, die Vernunft obsiegen. 

Anfang Oktober 1933 scheint sich für Schur noch einmal alles zum Guten zu wenden. Seine Beurlaubung wird aufgehoben. Erhard Schmidt, Präsident der Deutschen Mathematiker-Vereinigung in Berlin und Mitbegründer der Funktionsanalysis – ein einflussreicher „arischer“ Kollege –, hat sich für ihn starkgemacht. Eine Ausnahme. Denn die Mehrheit der jüdischen Mathematiker erlebt keine Solidarität. So mancher „arische“ Akademiker aus dem Mittelbau wittert vielmehr die Chance, bei geringer Qualifikation nun selbst einen hohen Posten zu ergattern, und unterstützt die Hetzkampagne der Nazis aus taktischen Gründen.
 

Ludwig Bieberbach propagiert eine „Deutsche Mathematik“

Aber es gibt auch veritable Überzeugungstäter. Ludwig Bieberbach, der an der Friedrich-Wilhelms-Universität lehrt, ist einer von ihnen. Er propagiert eine „Deutsche Mathematik“, die sich klar von der minderwertigen „gegentypischen Mathematik“ abhebe, wie sie vor allem von jüdischen Wissenschaftlern betrieben werde. Bieberbach beruft sich auf die sogenannte Integrationstypologie des Marburger Psychologen Erich Rudolf Jaensch, die zwei Persönlichkeitstypen unterscheidet: den biologische vollwertigen J-Typen sowie den S-Typen, mit „labilem, schwachem Seelenleben“ – der dadurch auch als Wissenschaftler versage. Die Hauptursachen dafür, dass Menschen vom S-Typus entstehen, vermutet Jaensch in Tuberkuloseerkrankungen sowie in „extremer Rassenvermischung“.

Bieberbach erweitert Jaenschs Konzept um antisemitische Elemente: Im Rahmen der „Deutschen Mathematik“ fordert er unter anderem eine Hinwendung zur Geometrie und eine Abkehr von den Forschungsgebieten Algebra und Zahlentheorie, da Letztere – wie überhaupt die gesamte moderne Mathematik – „jüdisch“ und daher minderwertig seien. Den jüdischen Mathematikprofessor und Algebra-Experten Edmund Landau aus Göttingen etwa bezeichnet er entsprechend als „eindringliches Beispiel“ eines S-Typen. Und fordert, die „Pflege deutscher Art“ habe mit der geeigneten Auswahl der Lehrer und Professoren zu beginnen.

Als Studenten 1933 die Vorlesungen Landaus boykottieren, schreibt er: „Man hat darin ein Musterbeispiel dafür zu sehen, dass Vertreter allzu verschiedener Rassen nicht als Lehrer und Schüler zusammenpassen. Der Instinkt der Göttinger Studenten fühlte in Landau einen Typus undeutscher Art, die Dinge anzupacken.“ Bald darauf wird Edmund Landau aus dem Amt gedrängt. Im Februar 1938 stirbt der 61-Jährige in Berlin an Herzversagen.

Das Vorgehen der Nationalsozialisten gegen jüdische Gelehrte wirkt unkoordiniert und oft verwirrend – doch steckt Berechnung dahinter: Die ständig neuen und oft widersprüchlichen gesetzlichen Regelungen, die Demütigungen, Drohungen und Denunziationen zielen allesamt darauf ab, die Betroffenen und ihr Umfeld zu verunsichern. Aus Angst um die eigene Stellung soll niemand für die Opfer Partei ergreifen. 

Allein in Berlin werden im Lauf der 1930er Jahre insgesamt 49 Mathematiker aus dem akademischen Leben gedrängt, 39 von ihnen emigrieren. Aus Göttingen, der zweiten Hochburg der Fachrichtung, fliehen 24 Mathematiker ins Ausland. Die britische Hilfsorganisation Academic Assistance Council verzeichnet im Jahr 1935 insgesamt 1.202 aus Deutschland geflüchtete Wissenschaftler.

Auch der Druck auf Schur wird immer größer.

Am 29. August 1935, nachdem Ludwig Bieberbach, inzwischen Dekan der Friedrich-Wilhelms-Universität, ihn zu einem dringenden Gespräch in sein Büro zitiert hat, bittet er um seine endgültige Entlassung als Professor. Es soll aussehen, als würde Schur „von sich aus“ gehen. Bald darauf darf er nicht einmal mehr Fachbücher aus der Seminarbibliothek ausleihen. Schur versinkt in schwere Depressionen. Besucht ihn ein alter Freund in der Ruhlaer Straße 14 in Berlin-Schmargendorf, wo er mit seiner Frau Regina lebt, so ruft er, wenn er auf dessen Klingeln die Wohnungstür geöffnet hat, manchmal erleichtert aus: „Ach, Sie sind es und nicht die Gestapo!“

Im Sommer 1938 tritt ein, wovor sich Issai Schur schon lange gefürchtet hat: Er erhält eine Vorladung der Staatspolizei. Doch seine Frau Regina verheimlicht ihm das Schreiben und schickt ihn in ein Sanatorium. Denn er hat mehrfach erklärt, bevor er sich von Hitlers Schergen verhören ließe, würde er sich lieber das Leben nehmen. 

Als Regina Schur mit dem ärztlichen Attest für ihren Gatten bei der Gestapo vorspricht, fragen die Männer in Uniform sie nur, weshalb sie und ihr Mann noch nicht ausgewandert seien. Sie gibt zu Protokoll, dass man die Auswanderung vorbereite. Aber erst die Pogromnacht vom 9. auf den 10. November macht Schur endgültig klar, dass er fliehen muss. In ganz Deutschland töten Schlägertrupps Hunderte Juden, fackeln 1.400 Synagogen ab und zerstören etwa 7.500 jüdische Geschäfte.

Doch selbst die Emigration aus dem Land, in dem sie verhasst sind, wird jüdischen Wissenschaftlern inzwischen schwer gemacht. Das erste Ausreisegesuch stellt Schur wenige Tage nach der Pogromnacht. Doch erst nach zwei weiteren Anträgen genehmigt ihm das Ministerium am 14. Januar 1939 „unter Vorbehalt“ die Ausstellung eines Reisepasses. Am 15. Februar 1939 verlassen die Schurs Deutschland in Richtung Palästina. Dort finden viele vor den Nazis geflohene Mathematiker am Einstein Institute of Mathematics der Hebrew University in Jerusalem eine neue Stelle. Ab den 1970er Jahren wird dieses Institut auch als Forschungsanstalt für EDV und Informatik eine wichtige Rolle spielen.

Die Mehrheit der deutschsprachigen Mathematiker-Emigranten zieht es jedoch in die USA. An der New York University bauen sie das Courant Institute of Mathematical Sciences auf: ein wichtiges Zentrum für angewandte Mathematik. Und das Institute for Advanced Study in Princeton (New Jersey), an dem neben Albert Einstein auch der 1940 aus Wien geflohene renommierte Mathematiker Kurt Gödel wirkt, erlebt ebenfalls einen steilen Aufstieg. „Wenn Hitler es darauf angelegt hätte, Amerika zum Weltzentrum der mathematischen Forschung zu machen, hätte er es nicht besser anfangen können“, wird Raymond Fosdick, der langjährige Präsident der Rockefeller Foundation in New York, im Jahr 1955 konstatieren.
 

Einige jüdische Mathematiker aber zögern ihre Flucht zu lange hinaus

Paul Epstein, der an der Universität Frankfurt lehrte, nimmt sich im August 1939, als ihn die Gestapo vorlädt, mit Tabletten das Leben. Sein Berliner Kollege Robert Remak, Experte für Potenzialtheorie und Geometrie der Zahlen sowie Privatdozent an der Friedrich-Wilhelms-Universität, kann sich 1939 gerade noch in die Niederlande retten. Doch dort greifen ihn die Nazis auf, deportieren ihn 1942 ins Konzentrationslager Auschwitz und ermorden ihn.

Issai Schur und seiner Frau Regina schaffen es bis nach Palästina. Als sie im Mai 1939 Tel Aviv erreichen, ist der Mathematiker jedoch gesundheitlich angeschlagen und wirkt wie traumatisiert. Denn auch im Exil hält er sich an die Vorgaben der Nazi-Behörden aus Deutschland und besteht darauf, dass er nicht mehr das Recht habe zu publizieren.

Nur ein einziges Mal gelingt es jüngeren Kollegen, ihn zu einem Vortrag an der Universität in Jerusalem zu überreden. Er beginnt die Vorlesung zu „inequalities in polynomial theory“ wie in seinen besten Zeiten. Doch mitten im Vortrag bittet Schur um Entschuldigung, lässt sich auf einen Stuhl nieder und neigt den Kopf vornüber, als grüble er über ein schweres Problem nach. Wenige Minuten später erhebt er sich plötzlich wieder und beendet den Vortrag so elegant, als sei nichts vorgefallen. In Wirklichkeit aber erlitt Schur während seines Referats einen leichten Herzinfarkt. Wenige Monate darauf, am 10. Januar 1941, stirbt er an einem weiteren Infarkt. Es ist sein 66. Geburtstag.

Ein Jahr später entziehen ihm die Nationalsozialisten posthum die deutsche Staatsangehörigkeit. An jüdische Gelehrte wie Issai Schur, die jahrzehntelang entscheidend zum Ruhm der mathematischen Forschung in Deutschland beigetragen haben, soll in Berlin nichts mehr erinnern.


Text: Till Hein