Mathematik? Die einen hassen sie seit den Schultagen, die anderen lieben sie so sehr, dass sie sie zum Beruf machen. Für den Mathematiker Günter M. Ziegler ist sie die emotionalste Wissenschaft der Welt.
Text: Günter Ziegler
An Schlechtwettertagen fahre ich morgens mit der U 3 zur Freien Universität Berlin, vom Nollendorfplatz bis Dahlem Dorf. Wenn die Bahn noch nicht da steht, warte ich oft gemeinsam mit einer Reinigungsfrau, die den Zug vor der Abfahrt noch durchkehren und Müll entfernen wird: Die sitzt dann auf der Bank am Bahnsteig und löst Sudokus aus einem Rätselheft – mathematische Knobelaufgaben! Da ist er, der alltägliche Spaß am Kniffligen.
Mich hat dieser Spaß schon als Schüler gepackt, etwa in Form des „3a+1“-Problems. Dieser Klassiker unter den Knobelaufgaben wird dem Polen Stanisław Ulam (1909–1984), dem deutschen Numeriker Lothar Collatz (1910–1990) und auch dem russischen Geheimdienst zu Zeiten des Kalten Krieges zugeschrieben. Man sagt, dieser habe mit dem Problem die mathematische Forschung der USA für mehrere Jahre lahmgelegt.
Mit dem „3a+1“-Problem habe ich als Schüler einen ganzen Sommer lang gekämpft. Eine wirklich harte Nuss! Meine Mutter erzählt, ich sei immer mal wieder vom Tischtennis-Spielen von meinen Brüdern weggerannt, um eine Idee zu notieren. Keine meiner Ideen war aber letztlich gut genug, um das Problem zu knacken. Es war trotzdem ein schöner Sommer. Und zu dem Problem komme ich alle paar Sommer mal wieder zurück (obwohl ich inzwischen weiß, dass ich mich mit Zahlentheorie nicht genügend auskenne, um es in den Griff zu bekommen).
Natürlich teilt nicht jeder meine Begeisterung für harte Nüsse, ganz im Gegenteil, es gibt ja auch viele und manchmal sehr lautstarke Mathematik-Hasser! Allzu häufig hört man den Satz: „Mathe hab’ ich schon in der Schule gehasst“. Das mag sein, aber hassen diese Menschen wirklich die ganze Mathematik? Mathematik ist mit ihren vielen Tausend Teilgebieten so bunt und so vielfältig, dass man gar nicht alles an ihr hassen kann! All die Bilder, Formeln, Entdeckungen, Erfahrungen. Aber auch lieben kann man nicht alles an ihr. Mich kann man zum Beispiel weder mit Mengenlehre noch mit Analysis begeistern. Allein schon die Tatsache, dass mir jeder und jede sagen kann (und oft ungefragt verkündet), ob Mathe nun Hass- oder Lieblingsfach war, zeigt, wie emotional das Thema ist! Mathematik, möchte ich behaupten, ist die emotionalste Wissenschaft der Welt.
Wer sich über Mathematik freuen will, muss sie auch sehen lernen. Dazu gehört für mich die fröhliche Fehlersuche mit dem „mathematischen Blick“. Mir fallen immer wieder Fehler auf, wenn irgendwo Zahlen auftauchen. An einer Litfaßsäule in der Maaßenstraße zum Beispiel, an der ich morgens auf dem Weg zur U 3 vorbeikomme, habe ich kürzlich eine Blondine gesehen, die zu einem Werbeslogan lächelte: „Alle elf Minuten verliebt sich ein Single über Parship.“ Ich habe die Blondine ignoriert und über den sinnlosen Durchschnittswert geschmunzelt. Zur Liebe gehören doch immer zwei! Stimmt das denn, dass sich alle 22 Minuten zwei Singles über Parship verlieben? Und dann auch noch ineinander? Mathematische Ignoranz ist weit verbreitet, und wir dürfen uns daran erfreuen!
Als Neuntklässler habe ich mich zum ersten Mal an den „Bundeswettbewerb Mathematik“ herangewagt. Damals war ich viel zu jung dafür, aber ich wollte es halt wissen – und allen zeigen! Drei Monate Zeit für drei Aufgaben, das musste doch zu schaffen sein! Ich habe trotzig immer wieder einen neuen Anlauf genommen und bis zum letzten Nachmittag nicht lockergelassen. Wenn es in einem Jahr nicht klappen wollte, habe ich es im nächsten wieder probiert. Nach vier Jahren hat mich das dann zum Bundessieg geführt. Trotz, Ehrgeiz, Entdeckerfreude – all das gehört zur Mathematik. Und wenn die Probleme zurückschlagen, heißt es: durchhalten, Fehler verstehen und einen neuen Versuch starten.
Wenn man nur lange genug knobelt, dann kommt man selbst auf so verrückte Entdeckungen wie den „Sharir-Würfel“, dessen Konstruktion mir 1999 gelungen ist. Micha Sharir, ein Informatiker aus Tel Aviv, hatte gefragt, ob es einen Würfel geben könnte (also ein Polyeder, mit sechs Vierecken begrenzt, von denen an jeder der acht Ecken drei zusammenstoßen), der so schräg ist, dass die Seitenflächen, die keine Ecke gemeinsam haben, nicht wie bei einem „normalen“ Würfel in parallelen Ebenen liegen, sondern in senkrecht aufeinander stehenden. Geht nicht? Geht doch! Das können Sie sich nicht vorstellen? Das konnte ich auch nicht. Aber ich habe wochenlang daran geknobelt – und irgendwann war die Lösung dann offensichtlich. Ich freue mich noch heute ganz groß über solch kleine Entdeckungen. Mathematik kann stolz machen.
Große Emotionen werden unter Mathematikern nur selten gezeigt, doch es gibt sie. In dem Dokumentarfilm „Fermat’s Last Theorem“ spricht der britische Mathematiker Andrew Wiles, der 1995 das Fermat-Problem gelöst hat (eines der ganz großen Probleme der Zahlentheorie), über den Moment der Erkenntnis, als plötzlich alle Bausteine seines Arguments ganz wunderbar zusammenpassten: „Ich werde nie wieder so etwas Schönes entdecken können“, sagt er und wendet sich mit Tränen in den Augen von der Kamera ab.
Kann man lernen, Mathematik zu lieben? Aber ja – und der erste Schritt auf dem Weg zur Liebe ist das Kennenlernen, vielleicht auch das Wiederentdecken! Und es könnte sogar sein, dass man dabei merkt: „Ich habe sie schon immer geliebt!“