Martin Grötschel liebt Effizienz. Der Mathematiker optimiert, wo er nur kann.
Seine Algorithmen verringern die Wartezeit am Lift, berechnen die Frequenzverteilung von Mobilfunknetzen oder die Taktung von U-Bahnen in Großstädten.
Text: Holger Dambeck
Es ist kurz nach zwölf und Martin Grötschel kommt zum Verschnaufen für eine Kaffeepause in sein Büro. Bis eben hat er eine Mathematikvorlesung gehalten, die nächste Sitzung drängelt schon. Wenn es eine Methode gäbe, aus einer Sekunde zwei zu machen, Grötschel würde sie sofort anwenden. Denn er ist gut beschäftigt als Präsident des Konrad-Zuse-Zentrums für Informationstechnik Berlin, Professor an der Technischen Universität Berlin (TU) und Vorstandsvorsitzender der Einstein Stiftung.
Doch solange man Sekunden noch nicht bei Bedarf verdoppeln kann, macht Grötschel das, was er am besten kann: er optimiert. Er entwickelt Methoden, um Zeit und Ressourcen effizienter zu nutzen. Grötschel ist ein nüchterner, freundlicher Mensch – aber er wird schon mal ungeduldig, wenn ihm etwas zu langsam geht oder umständlich organisiert ist. Wenig überraschend für jemanden, der eigentlich immer auf der Suche nach einer optimalen Lösung ist. „Für mich ist das normal“, sagt er. Er denke sehr genau über Abläufe nach, selbst beim Planen der Wochenendeinkäufe oder beim Kochen zu Hause.
Gemeinsam mit Kollegen hat Grötschel Fahrpläne von Verkehrsbetrieben so lange umgekrempelt, bis weniger Busse dieselben Strecken mit unveränderter Taktung bedienten und trotzdem jeder Fahrer die ihm zustehenden Pausen bekam. Das war nur mit Computerhilfe möglich, denn dabei mussten Abertausende Varianten getestet werden. Ein Beispiel: Soll der 100er Bus an der Endstelle zehn Minuten warten und auf derselben Linie zurückfahren? Oder ist es besser, wenn er nur fünf Minuten wartet, seine Nummer wechselt und auf einer anderen Linie weiterfährt? Durch geschickte mathematische Modellierung und anschließendes Bewerten und Aussortieren suboptimaler Lösungen findet die Software schließlich den gesuchten besonders effizienten Fahrplan.
Das Optimieren hat Grötschel schon als Schüler beschäftigt: „Ich habe mir auf dem Weg in die Schule oder zu Veranstaltungen genau überlegt, welchen Weg ich hin und zurück nehme und wo ich zum Beispiel die Straßenseite wechsle“, erzählt er. Jetzt wollen wir von Grötschels Büro in der TU Berlin zur U-Bahnstation Ernst-Reuter-Platz – und der Mathematiker hat auch diesen Weg längst für sich optimiert. „Nicht den Lift, sondern die Treppe“, meint er. „Das ist schneller und gesünder.“
Beim Herunterlaufen erklärt Grötschel, warum Fahrstühle ein ständiges Ärgernis sind: „Der Mensch wartet halt nicht gern.“ Als Mathematiker kann er dagegen wenig tun, denn beim Fahrstuhl stoßen Algorithmen an ihre Grenzen. „Wenn ich für den ganzen Tag im Voraus wüsste, wer wann von wo nach wo fahren möchte, könnte ich die optimale Reihenfolge der Aufzugsfahrten bestimmen.“ Doch das könne niemand vorhersagen. „Ohne Daten kann man nichts optimieren.“
Während der Fahrstuhl fahre, drückten irgendwo im Haus Leute auf Knöpfe – und darauf müsse der Lift reagieren. „Der Fahrstuhl fährt los, kurz danach kommt eine große Gruppe auf einer anderen Etage zum Lift.“ Hätte man das früher gewusst, wäre der Fahrstuhl anders gefahren.“ So kommt es, dass aufgrund fehlender Informationen Entscheidungen getroffen werden, die sich im Nachhinein als ungünstig herausstellen.“
Das Thema Fahrstuhl wäre damit eigentlich als unbezwingbar abgehakt, aber Grötschel und seine Kollegen haben es trotzdem versucht. In einem Bürogebäude gleich neben der TU müssen Angestellte beim Rufen des Lifts eintippen, in welche Etage sie fahren wollen. Mitunter wird sogar nach der Anzahl der Personen gefragt. „Mit diesen Informationen lassen sich die Fahrstühle deutlich besser steuern.“ Das spare Geld und den Benutzern auch Zeit.
Die wohl beste Lösung für ungeduldige Liftbenutzer kommt allerdings ganz ohne Mathematik aus. „Ein neben dem Fahrstuhl angebrachter Spiegel verringert die gefühlte Wartezeit“, berichtet Grötschel. Das hätten Studien von Liftherstellern gezeigt. Den Leuten werde nicht langweilig, weil sie ihre Frisur ordneten oder die Krawatte zurechtrückten.
Jetzt sind wir in der U-Bahnstation angekommen und studieren den Netzplan der BVG. Wie kommt man von hier am schnellsten zum Brandenburger Tor? Kriegt das ein Experte für Optimierung im Kopf hin? Grötschel macht sich gar nicht erst die Mühe und zückt sein Smartphone. „Ich nutze Routenplaner, so wie die meisten Menschen.“
Auch beim Autofahren vertraut er einem Navi, selbst in Berlin, wo er sich gut auskennt. „Es findet häufig bessere Wege als ich.“ Das Problem des kürzesten Wegs sei dank schneller Algorithmen auch auf kleinen Computern sehr gut lösbar. Clevere Lösungsverfahren weisen jeder einzelnen Straße und jeder Kreuzung Gewichte zu und finden mit raffinierten Verarbeitungsstrategien den kürzesten Weg.
Perfekt könne ein Routenplaner freilich kaum sein. „Der eine will nicht gern links abbiegen, der andere in einem bestimmten Viertel keine Nebenstraßen fahren.“ Wollte man all das berücksichtigen, müsste der Anwender sich durch lange Menüs arbeiten, bis er alles eingetippt habe. „Da muss man einen Kompromiss finden zwischen höchster Genauigkeit und Nutzerfreundlichkeit.“
Das Geschimpfe auf Routenplaner, die einen falsch geleitet haben, versteht Grötschel nicht. „Jeder, der früher mit einem Straßenatlas unterwegs war, hat sich ständig verfahren. Aber das erzählt heute keiner mehr.“ Dass Navigieren unendlich viel besser geworden sei, werde kaum registriert.
Grötschel weiß, dass Menschen das Streben nach immer effizienteren Abläufen auch als Last empfinden. „Niemand muss sich dem, was manche Leute ‚Terror der Optimierung’ nennen, unterziehen“, meint er. „Aber wenn wir nicht die Effizienz unserer Zeit hätten, wäre unser Lebensstandard nicht so hoch.“ Die Wirtschaft gerade in Deutschland profitiere von der Optimierung aller möglichen Prozesse und Bereiche durch Mathematiker.
Dass dies kaum jemandem bewusst ist, wurmt Grötschel schon ein wenig. Aber einen Trost hat er: Die vielen Menschen, die Matheanwendungen wie Routenplaner, Internet-Suchmaschinen oder Computer benutzen, sind der beste Beleg dafür, dass Mathematik das Leben immer einfacher macht.