Die Mathematikerin und Regisseurin Ekaterina Eremenko porträtiert in ihrem wunderbar verrückten Film „Colors of Math“ sechs Mathematiker von Weltrang. Ein Beweis, wie sinnlich abstraktes Denken sein kann.
Text: Christina Bylow
Da haben wir den Salat, serviert in einem Restaurant in Lyon. Der Gast, ganz Dandy im Nadelstreifenanzug mit weißer Seidenkrawatte, eine Spinnen-Brosche am Revers, zählt auf, was alles drin ist. Hufe und Maul – „Sachen die keiner will“ – dazu Fleisch, Fisch, Eier und ein paar Blätter Frisée. Cédric Villani beäugt die Schüssel und sinniert: „Der Salat, das Brot und die Eier verkleben den Fisch und das Fleisch – wie auch in der Theorie die Gleichungen Informationstheorie und Strömungsmechanik zusammenbringen.“ Der Wirt fragt, ob mit dem Essen alles in Ordnung sei. Doch, doch, aber hier geht es um das Problem der Unordnung, um Entropie. Die nimmt zu, das fand schon Ludwig Boltzmann Anfang des 20. Jahrhunderts heraus. Aber warum ist das so? Cédric Villani hämmert ein paar Klavier-Akkorde auf den Tisch: „Um das zu verstehen, müssen verschiedene Bereiche kombiniert werden, die nichts miteinander zu tun haben, wie die Informationstheorie und die Physik.“ Was von beidem nun Hufe oder Maul, Fisch oder Fleisch ist, sagt er nicht. Über eines besteht kein Zweifel: Mathematik ist wie Kochen. „Man mischt und mischt und wartet auf eine chemische Reaktion – buff“: Da ist die Lösung!
Wie verführt man einen der innovativsten Mathematiker und Gewinner der Fields-Medaille zu solchem Leichtsinn? Indem man ihn zu einem Experiment einlädt. Such dir einen der fünf Sinne aus, Schmecken, Sehen, Hören, Tasten, Riechen, und kombiniere ihn mit einem mathematischen Problem. Natürlich ist das ein Spiel, keine ernsthafte Beweisführung. Aber hat nicht beides miteinander zu tun? Die Regisseurin Ekaterina Eremenko hat einen wunderbar verrückten Dokumentarfilm über sechs weltbedeutende Mathematiker gedreht: „Colors of Math“ heißt er, im russischen Originaltitel frei ins Englische übersetzt so viel wie „Sensual Math“, Mathematik also mit den Sinnen. Das war zu heikel für den amerikanischen Markt, erzählt Ekaterina Eremenko in einem Seminarraum des Instituts für Mathematik der Technischen Universität Berlin. An der Tür klebt ein Schild mit der Aufschrift „Selbsthilfegruppe Geometrie.“ In rasantem Sprechtempo erzählt die große, schmale Frau mit dem Gesicht einer Renaissance-Madonna vom Erfolg ihres Films. Mitten im Satz wechselt sie vom Englischen ins Deutsche, wortgewandt und mit hartem Akzent. 2013 lief ihr Film in einem Moskauer Kino 15 Wochen lang, jeden Tag. In Nowosibirsk hängte er die amerikanischen Blockbuster ab. Inzwischen ist er in 13 Sprachen übersetzt und kommt demnächst auf DVD heraus.
Cédric Villani ist der Popstar unter ihren Helden. „Anfangs wollte er nicht“, erinnert sich Ekaterina Eremenko. „Er sah nicht ein, warum er drei Tage für einen Film hergeben sollte.“ Als sie ihm von ihrer Idee mit den fünf Sinnen erzählte, sagte er zu und wählte den Geschmackssinn als Vorzeichen für seinen Part. Dem Professor an der École normale supérieur in Lyon bereitet es sichtlich Vergnügen, seine Reflexionen über das „Monster“ der Boltzmann-Gleichung über gefüllten Tellern anzustellen. Einmal stopft er während eines Backwettbewerbs im mathematischen Seminar Kuchen in sich hinein wie ein aufgedrehtes Geburtstagskind.
Einem der sechs Mathematiker teilte Eremenko den Gleichgewichtssinn zu, der eigentlich nicht zu den klassischen Sinnen gehört. Oder hat der andere Fields-Medaillen-Gewinner im Film, Maxim Konzewitsch, vielleicht eher den sechsten Sinn? Beim Spaziergang durch einen herbstlichen Wald bei Paris erscheint der Spezialist auf dem Gebiet der nichtkommutativen Geometrie in Verbindung zu sein mit einer anderen, überirdischen Welt, einem Gebiet der Mathematik, das es noch gar nicht gibt und das er zögerlich in Worte zu fassen versucht.
Selbstversunken dreht Konzewitsch ein spitz zulaufendes Blatt in der Hand hin und her und denkt über dessen Bestreben nach, nicht flach zu sein.
Eremenko und Konzewitsch haben beide in den 80er Jahren an der Lomonossow-Universität in Moskau Mathematik studiert. Mit 23 Jahren schloss Eremenko das Studium mit Auszeichnung ab. Konzewitsch, fünf Jahre älter als sie, ragte schon damals aus der Nachwuchselite der UDSSR heraus. Als die Sowjetunion Anfang der 90er Jahre kollabierte, ging er ins Ausland, wie die meisten seiner ehemaligen Kommilitonen. Ekaterina Eremenko hat die Lebenswege ihrer Mitschüler an der Moskauer Mathematikschule für hochbegabte Kinder in ihrem 2007 gedrehten Film „My Class“ nachgezeichnet. Am Ende dieser Wiederbegegnungen voller Witz und Wehmut erzählt sie darin auch ihre eigene Geschichte.
Sie verließ die Mathematik nach einer Lebenskatastrophe. Ihre Mutter starb bei einem Autounfall, der Vater, ein Professor für Elektrotechnik, lag lange im Krankenhaus. „Ich konnte damals nicht an einem PC arbeiten, ich weinte so viel, dass ich nichts mehr sah.“ Sie gerät in die glamouröse Gegenwelt der Modebranche. Das hochgewachsene, dünne Mädchen mit den ebenmäßigen Gesichtszügen wird Model für große Modemacher und Magazine. Sie ist in der „Vogue“. Und sie verdient viel Geld in kurzer Zeit. Parallel studiert sie Filmregie an der russischen Hochschule für Filmkunst S.A. Gerasimov. Sie arbeitet als Anchorwoman für TV-Sender, erkundet ihr Land als Fernsehreporterin. Der Liebe wegen zieht sie Ende der 90er Jahre nach Berlin, bringt zwei Kinder zur Welt und studiert ein paar Semester Biologie. Derzeit ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im Sonderforschungsbereich „Discretization in Geometry and Dynamics“ an der Technischen Universität Berlin – ihre Filme sollen die Forschungsarbeit nach außen transparenter machen.
„Colors of Math“ ist für Ekaterina Eremenko „eine Rückkehr zur ersten Liebe“. Hätte sie den Film ohne ihr Mathematikstudium drehen können? Nein, meint sie, aber nicht weil sie die Wissenschaftler nicht verstanden hätte. „Ich wäre zu schüchtern gewesen, die besten Mathematiker zu befragen, worum es ihnen im Moment geht.“
Auf keinen Fall wollte Eremenko das Publikum und sich selbst mit dem vorgestanzten Format populärer Wissenschaftssendungen langweilen.
„Diese Erklär-Filme mit einer Erzählerstimme sind wie Gehirnwäsche“, sagt sie. Sie dagegen wollte den bedeutendsten Mathematikern unserer Zeit beim Denken zusehen. „Ich betrachte sie wie Künstler, wie Poeten.“ Schöne Sätze sind zu hören in diesem Film, klingende Metaphern. „Die Mathematik ist die Musik des Denkens“, sagt Jean-Michel Bismut von der Université Paris-Sud, der nach jahrelanger Arbeit an einem mathematischen Problem die Lösung während einer Wagner-Oper fand. Mathematiker zu sein, ist für ihn ein Leben in einem eigenen Kosmos. Einmal nur hat er diesen Kosmos während der Studentenrebellion um 1968 für drei Jahre verlassen. Doch etwas nie Gekanntes quälte ihn in der gewöhnlichen Welt: Langeweile. Wie kann es anders sein für jemanden, der von sich sagt: „Mathematik heißt für mich, mein Leben zu singen.“
Den Anlass für Eremenkos Film lieferte ihr ein Tag der offenen Tür an der New York University, für den sie einen Film über die Mathematik drehen sollte. Statt eines schlichten Promotion-Clips für ein oft ängstlich beargwöhntes Studienfach entstand ein inspirierendes Kino-Wunder: „Colors of Math“ ist ein Plädoyer für die Autonomie des Denkens, eine Einladung, die Welt mit fragenden Augen zu betrachten. Auch wenn man dabei nicht in so schwindelerregende Denkhöhen gelangt wie Anatoli Fomenko, Aaditya V. Rangan und der Berliner Mathematiker Günter M. Ziegler – die drei anderen Mitspieler in Eremenkos Versuchsanordnung. Es ist nicht wichtig, dass man ihre Reflexionen in ihrer Komplexität wirklich versteht. Eremenko gibt Einblicke in die Vorstellungswelt von Mathematikern, ohne sie dozieren zu lassen.
Jeden von ihnen lotst die Regisseurin für Momente in jenen hoch konzentrierten Zustand hinein, in dem Kreativität entsteht. Etwa wenn Anatoli Fomenko, über das „eindimensionale Plateauproblem“ spricht, anhand einer zitternden Seifenblase, in der sich die Silhouette von Moskau spiegelt. Seine Tuschzeichnungen wiederum sehen aus, als habe man die unendlichen Treppen des Barockmalers Piranesi und die zerfließenden Objekte der Surrealisten übereinander projiziert. Für Fomenko erklären diese Bilder hochkomplexe geometrische Probleme.
In „Colors of Math“ erscheinen die sechs Mathematiker wie Fixsterne im All. Einzigartig, aber auch einsam. Entspricht das der Realität in der Forschung? Nein, sagt Ekaterina Eremenko. Gerade dreht sie einen neuen Film über Teamwork in der Mathematik.