Rückschläge gehören zur Wissenschaft, doch niemand redet gern über sie. Albert hat Berliner Neurowissenschaftler gefragt, ob Fehler sie vorangebracht haben.
Aufzeichnung: Christina Bylow, Martin Kaluza, Daniel Kastner, Mirco Lomoth, Dietrich von Richthofen
„Wissenschaft ist keine Schicksalsangelegenheit” – Vittorio Gallese
Scheitern ist etwas wirklich Ärgerliches, am meisten ärgert man sich da- bei über sich selbst. Aber natürlich lernt man auch eine Menge. Wissenschaft ist ja keine Schicksalsangelegenheit. Man muss Hypothesen wagen, manche Teile davon bestätigen sich, andere nicht oder nicht in der Weise, wie man es erwartet hat. 2003 habe ich einen Artikel über Schizophrenie verfasst, der im Journal of Psychopathology erschienen ist, er hieß „The Roots of Empathy”. Darin habe ich die Hypothese aufgestellt, dass man Schizophrenie als ein Empathie-Defizit charakterisieren könne, welches durch eine Fehlfunktion von Spiegelneuronen entsteht. Nach vielen Jahren empirischer Forschung und vielen weiteren Artikeln zu diesem Thema muss ich heute sagen, dass die Dinge viel komplizierter sind als damals angenommen. Zwar wurde meine ursprüngliche Hypothese teilweise bestätigt, da wir zeigen konnten, dass bei schizophrenen Patienten die Spiegelneuronen weniger aktiv sind. Doch das ist nur ein Teil der Wahrheit. Wir haben in der Zwischenzeit viele andere Mechanismen entdeckt, die weit über die ursprüngliche Hypothese hinausgehen und zu neuen Fragen und Hypothesen führten. Das zeigt uns wieder mal, dass wir unsere Hypothesen immer wieder an empirischen Ergebnissen überprüfen und korrigieren müssen. Aber es ist auch ein Grund dafür, warum es so aufregend ist, Wissenschaftler zu sein. Jeder Tag ist anders, es gibt keine Routine. Ich sage zu jungen Leuten oft: Als Forscher könnt ihr euer Leben damit verbringen, sehr aufregenden und wichtigen Fragen nachzugehen – ihr seid privilegiert, auch wenn ihr viel weniger Geld verdient als euer Schulkamerad, der Broker geworden ist.
Der Neurophysiologe Vittorio Gallese ist Einstein Visiting Fellow an der Berlin School of Mind and Brain. Im Sommer 1991 entdeckte er mit Kollegen eine neue Klasse von Neuronen, die Spiegelneuronen. Über die Entdeckung und über seine Liebe zu Verdi-Opern spricht er im Beitrag „Ich und Du”.
„Das Scheitern in der Replikation war für viele von uns ein Weckruf!” – Ulrich Dirnagl
Im Centrum für Schlaganfallforschung Berlin wurde ein völlig neuer Ansatz entwickelt, der es möglich macht, Patienten mit Schlaganfall erstmals schon auf dem Weg zum Krankenhaus zu behandeln. Durch ein spezielles Rettungsfahrzeug, das sogenannte STEMO, in dem ein Neurologe mitfährt und das auch einen Computertomografen an Bord hat, kann die Therapie bei dieser Erkrankung, bei der „time is brain” gilt, erstmals innerhalb der ersten Stunde nach Symptombeginn einsetzen (siehe dazu den Beitrag „Zeit ist Hirn”). Wir wollten diese einmalige Chance nutzen, um das weltweit in Tiermodellen effektivste Medikament für Schlaganfälle durch Replikationsexperimente zu identifizieren, um damit dann eine klinische Therapiestudie im STEMO durchzuführen. Leider gelang es uns nicht, die Wirkung auch nur einer der getesteten und in der Literatur als hocheffektiv beschriebenen Substanzen zu replizieren. Dieses eigentlich traurige Scheitern in der Replikation von zum Teil hochrangig publizierten Ergebnissen war für viele von uns ein Weckruf! Es führte zu einer kritischen Analyse unserer präklinischen Forschung, bei der wir eine Reihe von Faktoren identifizieren konnten, die zu mangelhafter Robustheit und Reproduzierbarkeit von Experimenten führen. Seither arbeiten wir konsequent und systematisch an der Verbesserung der Vorhersagekraft für eine klinische Übertragung unserer Schlaganfallforschung.
Der Neurologe und Schaganfallforscher Ulrich Dirnagl ist Direktor der Abteilung für Experimentelle Neurologie an der Charité. In diesem Heft fordert er mehr Mut zum Scheitern und einen Kulturwandel in der biomedizinischen Forschung.
„Offen und ehrlich mit Fehlern umgehen” – Peter Vajkoczy
Man scheitert nie gerne – und dass man etwas daraus gelernt hat, erkennt man immer erst hinterher. Chirurgisch habe ich sehr viel aus meinen Fehlern gelernt: Wie man sie von vornherein vermeidet oder Plan B und C für unvorhergesehene Komplikationen vorbereitet. Eine wichtige Erkenntnis ist aber auch, dass man Fehler nicht vollständig vermeiden kann und offen und ehrlich damit umgehen muss. Man lernt, auf dem Boden zu bleiben.
In meiner Forschungsarbeit habe ich mit Kollegen mal vier Jahre an einer Fragestellung gearbeitet, die wichtig und neu für die Hirntumor-Forschung war. Es ging darum, dass nicht, wie bisher angenommen, Entzündungszellen aus dem Blut eine hohe Relevanz bei Hirntumoren haben, sondern vielmehr Mikrogliazellen. Mit einem Knochenmark-Chimären und einem Transplantationsmodell haben wir das nachgewiesen. Als wir das Ergebnis gerade bei einem bedeutenden Journal eingereicht hatten, kam die Arbeit von Marco Prinz et al. in Nature Neuroscience raus – gleiches Ergebnis, aber ein eleganterer experimenteller und genetischer Ansatz. Es hat zwei Jahre gedauert, bis unser Manuskript in einem weniger bedeutenden Journal endlich publiziert wurde. Doch es wurde von den Fachkollegen wahrgenommen und wird bis heute häufig zitiert. Das hat mir gezeigt, dass gute und sorgfältige Arbeit langfristig immer die Aufmerksamkeit erhält, die sie verdient. Es hat mir mehr Selbstvertrauen in die eigenen Projekte gegeben.
Der Hirnchirurg Peter Vajkoczy ist Direktor der neurochirurgischen Kliniken der Charité. Im Beitrag „Haben Sie gut gemacht” währt er einen Einblick in seinen Arbeitsalltag.
„Ich ruderte zurück und gab zu, dass mein erstes Gutachten nicht stimmte” – Hans-Ludwig Kröber
Ich habe mal ein Gutachten über einen kleinen Gauner erstattet, der nach der Wende aus Mannheim in die neuen Bundesländer gegangen ist und mit einer Bande dort insgesamt neun Millionen Deutsche Mark von neu eröffneten Konten abgehoben hat. Er wurde inhaftiert, saß in Heidelberg im Gefängnis und war sehr unruhig und verstört. Ich gab ein Gutachten ab, dass er schwer gestört sei und daher vermindert schuldfähig. Aber es stellte sich heraus, dass er nur in Dauerpanik war, seinen Anteil an der Beute nie wiederzusehen. Ich musste ihn später noch einmal begutachten und da war er vollkommen entspannt. Es hatte sich also ein dramatischer Wechsel in seinem Zustand ergeben. Ich ruderte zurück und gab zu, dass mein erstes Gutachten nicht stimmte. Aus diesem Fehler habe ich gelernt, wie viel Spielraum in solchen Fällen möglich ist und was man alles übersehen kann. Wir lernen aus Gutachten, die sich hinterher als unzureichend erweisen.
Der Gerichtsgutachter Hans-Ludwig Kröber ist Direktor des Instituts für Forensische Psychiatrie an der Charité. In „Das Böse ist kein Hirndefekt” warnt er vor der Gefahr, Straftaten im Gehirn zu suchen.
„Wir können Fortschritt durch Scheitern fast nie kommunizieren” – Thomas Südhof
Die meisten Wissenschaftler erleben Momente in ihrer Karriere, in denen es einfach nicht gut läuft. Doch Scheitern ist genauso wichtig wie Erfolg, weil es dazu beiträgt, falsche Entscheidungen und Ideen zu korrigieren.
Als Wissenschaftler erleben wir drei Arten von Scheitern. Das in vieler Hinsicht positivste Scheitern ist, wenn man eine Hypothese aufstellt und heraus ndet, dass sie falsch ist; denn das bedeutet, man hat einen Erkenntnisfortschritt gemacht. In der Kommunikation wissenschaftlicher Ergebnisse haben wir im Moment jedoch ein Problem, weil wir Fortschritt durch Scheitern fast nie vermitteln können. Keines der wichtigen Journale würde das publizieren.
Ich selbst habe gleich mehrere Male erlebt, dass meine Ideen und Hypothesen nicht zutrafen. Das ist schmerzhaft, aber immer nützlich. Als wir vor 30 Jahren begonnen haben, an der Synapse zu arbeiten, dachten wir, dass bestimmte Proteine, etwa Synaptophysin oder Synapsin, für die Informationsübertragung sehr wichtig seien. Also begannen wir damit, sie zu untersuchen. Unsere Hoffnung war, dass wir nur schnell heraus finden müssten, wie genau sie aussehen und welche Rolle sie spielen, um berühmt zu werden. Aber es stellte sich heraus, dass sie in vielen Fällen überhaupt keine Rolle spielen – und wir nicht mal eben so berühmt werden würden. Unser Fehler war, dass wir auf bestehendem Wissen über wichtige und unwichtige Moleküle aufbauten. Stattdessen sollte man offen sein für Neues und alle Perspektiven einbeziehen, nicht nur die bereits bekannten.
Die zweite Art zu scheitern ist, wenn man eine richtige Entdeckung macht, aber Kollegen sie nicht akzeptieren oder Journal-Redakteure sie nicht verstehen. Das ist kein wissenschaftliches Scheitern, sondern ein Scheitern an der Kommunikation. Es gibt enorme Probleme, die mit dem Apparat zu tun haben, der die Wissenschaft umgibt, vor allem mit der Publikation wissenschaftlicher Ergebnisse. Das größte Problem ist, dass die Redakteure von wissenschaftlichen Zeitschriften unbegrenzte Macht haben, aber häufig nur begrenztes Wissen – und außerdem oft unter Interessenkonflikten leiden. Ob ein Manuskript überhaupt veröffentlicht wird oder nicht, entscheiden Redakteure, und zwar ausschließlich aufgrund von persönlichem Geschmack – es gibt hier keine überprüfbaren Kriterien. Mir ist es mehrfach passiert und es passiert mir immer wieder, dass ich Entdeckungen, die ich für wichtig halte, nicht veröffentlichen kann. Als Autor bin ich natürlich voreingenommen gegenüber meinen eigenen Arbeiten, und denke immer, dass wir gute Sachen machen, was am Ende nicht immer wahr ist. Aber manche unsere Manuskripte sind wirklich gut, obwohl sie abgelehnt werden!
Die dritte Art des Scheiterns ist, wenn man auf der Karriereleiter nicht aufsteigt, weil man einen Preis nicht bekommt oder einen Posten. Es gab so manche Stelle, die ich gerne gehabt, so manchen Preis, den ich mir gewünscht hätte – aber letztlich haben dann Leute die Stellen und Preise erhalten, die dafür besser geeignet waren, und mein Leben war dadurch auch nicht schlechter.
Der Biochemiker und Nobelpreiträger Thomas Südhof ist Einstein BIH Visiting Fellow am Rosenmund Lab an der Charité. In „Magie und Wahrheit” spricht er über seine Berliner Forschung und die Zukunft der Neuorwissenschaften.
„Perspektivwechsel sehe ich nicht als Scheitern an” – John-Dylan Haynes
Scheitern ist ein sehr starker Begriff. Es gab in meiner Karriere viele Situationen, in denen die Ergebnisse anders waren, als ich erwartet hatte, und sich eine Theorie als falsch herausstellte. Aber daraus kann man immer etwas lernen. Ein Beispiel: Neulich hatten wir die Erwartung, dass Probanden nicht dazu in der Lage sein würden, einmal im Gehirn angebahnte Entscheidungen noch einmal zu ändern. Es stellte sich dann her- aus, dass Probanden das sehr wohl können. Das lässt wichtige Schlüsse in Bezug auf die Mechanismen der Entscheidungsfindung zu aber eben andere als ursprünglich erwartet. Ich neige ohnehin nicht dazu, mich vorab zu stark auf eine Theorie festzulegen. Man sollte immer die Theorie wählen, die die Daten am besten erklärt. Einen solchen Perspektivwechsel sehe ich nicht als Scheitern an, eher als Lernen. Es gibt auch viele Situationen, in denen unsere Methoden nicht die Erwartung erfüllen, dass sie Licht in bestimmte Hirnprozesse bringen. Aber auch da bin ich optimistisch, dass die Zukunft bessere Techniken bringen wird und wir diese Fragen dann beantworten können.
John-Dylan Haynes ist Professor für Theorie und Analyse weiträumiger Hirnsignale am Bernstein Center for Computational Neuroscience und am Berlin Center for Advanced Neuroimaging. In „Mensch Maschine” beschreibt unser Autor Dietrich von Richthofen, wie er sich in Haynes’ Labor das Gehirn auslesen lässt.
„Scheitern ist manchmal genauso wichtig wie Erfolg” – Roarke Horstmeyer
Ich bin vor einiger Zeit daran gescheitert, ein bestehendes mathematisches Modell für die Berechnung der Streuung von Licht im Hirngewebe anzuwenden. Das ist notwendig, um klare Bilder von Neuronen im Gehirn zu bekommen. Doch die Daten, die wir mit unseren Mikroskopen messen konnten, haben nicht erwartungsgemäß zum Modell gepasst. Das hat uns zunächst entmutigt. Aber durch diesen Rückschlag haben wir herausgefunden, dass das Modell fälschlicherweise davon ausgeht, dass Licht im Gewebe in alle Richtungen gleichmäßig streut. Unsere Messungen hingegen ergaben, dass es nur der Richtung folgt, in der es ins Gewebe eintritt. Wir konnten das mathematische Modell so verändern, dass es genau zu unseren Daten passt. Überraschenderweise haben wir dabei auch herausgefunden, wie man die Streuung eines Lichtstrahls im Gewebe rund 100-mal schneller messen kann als bisher. Jetzt messen wir nur noch die wahrscheinlichsten Stellen und füllen den Rest mit vorhandenen Daten digital auf. Das ist ein wirklich großer Fortschritt. Scheitern ist manchmal genauso wichtig, wie Erfolg zu haben.
Elektro-Ingenieur Roarke Horstmeyer ist Einstein International Post-doctoral Fellow am Judkewitz Lab an der Charité. Albert begleitete ihn und den Neurobiologen Michiel Remme auf einen Ausflug in den Treptower Park, in „Zwei Forscher eine Stadt”.