Ich und Du

Vittorio Gallese gehört zu den Entdeckern der Spiegelneuronen. Der italienische Neurologe interessiert sich seit jeher auch für Kunst und Philosophie. Ein Gespräch über seine Leidenschaft für Verdi-Opern, den Fluch der Popularität und seine neuen Forschungen über Empathie und ihre Zukunft im digitalen Zeitalter.


Eine Bücherkammer im Medizinhistorischen Museum der Charité in Berlin-Mitte. Das Gesamtwerk des Pathologen Rudolf Virchow füllt die Regale in dem schmalen Raum. Vittorio Gallese, dunkler Bart, dunkle Augen hinter runder Brille, setzt sich an die lange Arbeitsplatte vor dem einzigen Fenster und lässt sich nicht lange bitten. Ein geborener Erzähler mit didaktischem Talent.

Herr Professor Gallese, beginnen wir mit einer privaten Leidenschaft von Ihnen: Sie sind Mitglied im „Club dei 27. Gruppo Appassionati Verdiani“ – einer Art Giuseppe Verdi-Fanclub in Parma. Was fasziniert Sie so an diesem Komponisten?

Gallese: Mein Vater war ein Opernenthusiast, ich konnte damit zunächst einmal gar nichts anfangen. Im Gegenteil, ich fand Opern langweilig. Bis ich im Auto eines Freundes zufällig etwas Wunderschönes hörte und nicht wusste, was es ist. Mein Freund war erstaunt, dass ich das Liebesduett aus „Un ballo in maschera“ (Maskenball) nicht kannte. Er lieh mir die CD. Danach habe ich mich in Verdi vertieft. Ein furchtloser, unabhängiger Mensch, der genau wusste, was er wollte. Ich zitiere Verdi gern im wissenschaftlichen Zusammenhang. Als es um die Reform des Curriculums für Musikstudenten am Konservatorium in Neapel ging, schrieb er in einem Brief: „Torniamo all’antico e sarà un progresso“ – „Kehren wir zum Alten zurück, und es wird ein Fortschritt sein.“ Das ist natürlich nicht immer wahr, etwa im Hinblick auf Politik (lacht). Als Wissenschaftler jagen wir dem Neuen geradezu obsessiv hinterher. Jeder glaubt, er habe etwas Neues entdeckt. Aber wenn man in die Vergangenheit blickt, merkt man, dass es schon Menschen vor uns gab, die auf dieselben Gedanken gekommen sind wie wir. Das kann bei der Entwicklung neuer Hypothesen sehr helfen. Die historische Perspektive ist für die Wissenschaft unglaublich wichtig.

Bleiben wir noch kurz bei der Musik. Was passiert im Gehirn, wenn uns Musik zu Tränen rührt? Hat das auch mit den Spiegelneuronen zu tun, die Sie erforscht haben?

GALLESE: Wenn wir Musik hören, verwenden wir Areale im Gehirn, die auch für Sprache zuständig sind. Musik hat keine erkennbare Kontur oder visuelle Gestik, aber sicher Stimuli, die sofort körperlich empfunden werden. Das hat mit dem Rhythmus zu tun, auch mit Tonarten – wobei diese nicht universell sind. Auch das Gedächtnis spielt eine große Rolle. Aber wissen Sie, ich versuche zwar, Theorien über ästhetische Erfahrungen zu entwickeln, aber ich beziehe mich dabei vor allem auf Bilder – die Musik lasse ich da außen vor.

Sie wollen sich die Musik als rein emotionales Erlebnis bewahren?

GALLESE: Ja, ich will das schützen. Ich brauche einen Raum, in dem ich mich erholen kann, in dem ich etwas einfach nur genießen kann, ohne mir Gedanken darüber zu machen, auch wenn das manchmal schwer fällt. Denn ich bin vollkommen besessen von den Fragen, die ich mir stelle. Bei allem, was mir im alltäglichen Leben begegnet, egal ob es Filme sind, Artikel oder Bilder, stelle ich sofort eine Verbindung zu den Themen her, an denen ich gerade arbeite.

Als Sie die Spiegelneuronen entdeckten, waren Sie aber mehr im Labor als im Kino oder in Museen. Sie experimentierten mit Affen, denen Sie Erdnüsse vor die Nase hielten.

GALLESE: Sie sitzen jetzt quasi dort, wo damals der Affe war, nur hatte er eine Elektrode im Kopf, was für ihn völlig schmerzfrei war, da es im Gehirn keine Schmerzrezeptoren gibt. Wir untersuchten Neuronen, die die Bewegung der Hand beim Greifen nach einem Objekt steuern. Das Gehirn des Affen war mit einem Monitor verbunden, der ein akustisches Signal sendete, sobald ein Neuron feuerte. Und plötzlich ertönte das Signal, obwohl der Affe gar nicht nach der Nuss gegriffen hatte, sondern nur gesehen hatte, dass einer der Forscher das tat. So stellten wir fest, dass es Neuronen gibt, die beim bloßen Zusehen einer Handlung feuern, wir nannten sie Spiegelneuronen. In monatelangen Kontrollexperimenten bestätigte sich unser Gefühl, etwas Wichtiges entdeckt zu haben.

Zunächst wurden Ihre Forschungsergebnisse nicht ganz ernst genommen, ein paar Jahre später waren sie Popkultur. Spiegelneuronen schienen der Schlüssel zum menschlichen Verhalten, erklärten das Phänomen des Mitgefühls und dessen Abwesenheit. War Ihnen die Stilisierung Ihrer Entdeckung zur Weltformel manchmal unheimlich?

GALLESE: Das war bedauerlich, aber von uns nicht mehr zu kontrollieren. Der Begriff Spiegelneuronen ging in die Alltagssprache ein, kam sogar plötzlich in Romanen vor. Als ein Mann in New York ein ihm unbekanntes Mädchen rettete, das im U-Bahn-Schacht auf die Schienen gefallen war, hieß es in einem Zeitungsbericht: „Nun wissen wir, warum wir altruistisch sind – weil wir Spiegelneuronen haben.“ Das ist eine Schlussfolgerung, die jeder Grundlage entbehrt. Dafür kann man mich nicht verantwortlich machen. Unsere Aufgabe ist es, Experimente durchzuführen, Hypothesen zu erarbeiten, immer neue Fragen zu stellen, die sich aus vorhergegangenen Antworten ergeben. Niemand kann bisher mit Sicherheit sagen, wie das Gehirn arbeitet. Niemand kann behaupten, er verstehe, was Empathie wirklich ist und wie sie zustande kommt. Es gibt unterschiedliche Theorien und unterschiedliche Grauzonen innerhalb jeder Theorie. Die Pop-Qualität der Spiegelneuronen in den Medien wurde letztendlich wie eine Waffe eingesetzt.

Gegen ihre Entdecker?

GALLESE: Ja, um uns herauszufordern. Wenn ein Forscher sein ganzes Leben der Überzeugung ist, soziale Kognition sei vor allem eine Sache der Sprache, und dann komme ich daher und sage, das ist noch nicht die ganze Wahrheit, dann wird ihm das garantiert nicht sonderlich gefallen.

An der „Berlin School of Mind and Brain“ haben Sie nun mit der Sprachphilosophin Valentina Cuccio einen Essay mit dem Titel „The Paradigmatic Body“ geschrieben. Worum geht es Ihnen darin?

GALLESE: Zunächst einmal haben wir zu beschreiben versucht, was die Neurowissenschaften können und was nicht. Ich fürchte, dass die Neurowissenschaften zu viel versprechen. Die Erwartungshaltung ihnen gegenüber ist riesig, jedes Problem sollen sie lösen, alle Fragen beantworten, vor allem die Fragen, die mit dem Menschen geboren wurden: Was heißt es, ein Mensch zu sein? Was macht uns zu Menschen? Sehr lange Zeit haben wir geglaubt, dass unsere Kognition im Wesentlichen von unserer Sprachfähigkeit abhängt, von hochkognitiven Leistungen wie dem schlussfolgernden Denken. Durch Experimente mit Makaken entdeckten wir aber, dass es Spiegelmechanismen gibt, durch die soziale Kognition ohne Sprache vollzogen wird. Man hat die Spiegelneuronen dann später auch bei Singvögeln und beim Menschen nachgewiesen. Ein simples Beispiel: Sie versuchen, die Flasche hier auf dem Tisch zu erreichen, und ich frage Sie sofort: „Wollen Sie etwas Wasser?“ Um herauszufinden, was Sie wollen, brauche ich nicht erst eine mentale Repräsentation Ihrer mentalen Repräsentationen in meinem Gehirn herzustellen. Das lässt sich mit der Aktivität der Spiegelneuronen erklären.

Bekannt wurden Sie auch mit Ihrer Theorie der „Embodied Simulation“ ein für Laien schwer verständlicher Begriff.

GALLESE: Was ich „Embodied Simulation“ nenne, geht über die Spiegelneuronen hinaus. Es beruht auf der Annahme, dass es in unserem Körper fundamentale Mechanismen gibt, die uns einen direkten Zugang zum Geist anderer erlauben, und zwar nicht durch konzeptuelles Nachdenken, sondern durch direkte Simulation des beobachteten Verhaltens. Das heißt nicht, dass wir die Handlungen des anderen imitieren. Gemeint ist vielmehr, dass wir unsere Umgebung im Gehirn abbilden – und zwar nicht allein mittels sprachlicher Prozesse oder auf den Aktivitäten der Sehnerven beruhender Vorgänge, sondern auch durch Bewegungsneuronen. Bewegungsneuronen sprechen auf visuelle, auditive und auf taktile Reize an. Bei den Affen etwa, wurden die Bewegungsneurone auch dann aktiv, wenn sie uns nur hörten. Die funktionale Architektur der „Embodied Simulation“ scheint eine fundamentale Charakteristik unseres Gehirns zu sein, evolutionär gesehen ist es wahrscheinlich der älteste Mechanismus, um unsere Umgebung, Raum, Objekte, andere Individuen zu erfassen.

Zweifeln Sie manchmal an Ihren eigenen Theorien?

GALLESE: Oh ja. Es gibt nicht viel, von dem ich vollkommen überzeugt wäre. Als Wissenschaftler muss man alles anzweifeln. Aber auf eine Überzeugung könnte ich mein Leben setzen: Wir sind soziale Wesen. Unser Ich, unser Selbst, kann nicht verstanden werden, wenn man ein Individuum vom anderen trennt. Das Selbst und der Andere sind zwei wechselseitig miteinander verbundene und untrennbare Einheiten.

„Es gibt kein Ich an sich …“ schreibt Martin Buber, dessen Schrift „Ich und Du“ Sie zitieren.

GALLESE: Ja, 1923! Zur selben Zeit erschienen wie Sigmund Freuds „Das Ich und das Es“.

Können solche Ich-Du-Beziehungen überhaupt noch existieren in einer Welt digitaler Kommunikation?

GALLESE: Ich denke, wir sollten uns vor der Digitalisierung nicht fürchten, aber man muss bei den Kindern schon etwas Vorsicht walten lassen. Meine Frau und ich versuchen, die sozialen Medien nicht zu dämonisieren, aber bei uns zu Hause gelten klare Regeln. Unsere Kinder, die Tochter ist zwölf, der Sohn neun, haben nur am Wochenende Zugang zu Computer, Tablets und Playstation. Denn natürlich besteht das Risiko, dass junge Leute komplett in die virtuelle Welt abdriften. Plötzlich sind sie populär, weil sie viele Likes haben, und nicht weil sie gut Ski fahren oder tanzen können. Und Likes und Friends beruhen immer mehr darauf, was du vorgibst zu sein in dieser virtuellen Welt, und immer weniger darauf, wer du in Wirklichkeit bist. Die direkte soziale Interaktion von Angesicht zu Angesicht, die im Übrigen die anspruchsvollste ist, verschwindet zusehends. Wenn man apokalyptisch sein will, kann man sich eine Welt vorstellen, in der Politik und Menschenrechte an Bedeutung verlieren, weil der Bürger, der sich eigentlich verantwortlich fühlen sollte, einen Zufluchtsort in der virtuellen Welt gefunden hat. Und diese Welt hat er sich auf der Basis seines extremen Narzissmus so eingerichtet, dass alle, mit denen er zu tun hat, genauso sind wie er.
 

Vittorio Gallese ist Professor für Physiologie am Institut für Neurowissenschaften an der Università di Parma und für Experimentelle Ästhetik an der University of London. Im Sommer 1991 gehörte er zur Forschergruppe um Giacomo Rizzolatti, die bei Affen Spiegelneuronen entdeckten. Er ist einer der renommiertesten Experten auf dem Gebiet der Social Cognitive Neuroscience, die das menschliche Verhalten innerhalb der Gemeinschaft erforscht. Als Einstein Visiting Fellow an der Berlin School of Mind and Brain untersucht er die Entwicklung sozio-kultureller Identität. Gerade hat er zusammen mit dem Filmwissenschaftler Michele Guerra ein Buch über Gefühle bei der Betrachtung von Filmen geschrieben: „The Empathic Screen“ wird voraussichtlich 2017 bei Oxford University Press erscheinen.

Interview: Christina Bylow