Das neue Einstein Zentrum Chronoi weist den Weg für die Altertumswissenschaften der Zukunft: interdisziplinär und weltumspannend. Es knüpft an eine Tradition vernetzter Forschung in Berlin an, die ihren Ursprung bereits im 19. Jahrhundert hat.
Text: Stefanie Hardick
Der Gott des Augenblicks ist ein Flitzer. Dem flinken nackten Mann wächst ein großes Paar Flügel aus dem Rücken, ein kleineres aus den Fußknöcheln. Man könnte ihn für den Götterboten Hermes halten, wäre da nicht seine eigentümliche Frisur: glatzköpfig, mit einer voluminösen Haarlocke über der Stirn. Daran kann man sie beim Schopfe packen, die glückliche Gelegenheit. Und wer den richtigen Moment verpasst, der sieht Kairós, den griechischen Gott des Augenblicks, nur noch von hinten. Sein kahler Hinterkopf entgleitet allen Griffen. Man kann ihn nicht zurückholen.
„Die Symbolik des griechischen Weihreliefs aus dem 4. Jahrhundert vor Christus ist seit langem klar“, sagt Eva Cancik-Kirschbaum. Aber heute beginnen Altertumswissenschaftler und –wissenschaftlerinnen wie sie, anhand solcher antiken Darstellungen den Wandel von Zeitkonzepten zu erforschen: Wie haben Menschen im Altertum das Verstreichen von Zeit empfunden? Verlief ihr Leben wirklich in langsameren Bahnen als unseres in der beschleunigten Moderne? Oder versuchten Menschen immer schon, das Beste aus ihrer Zeit zu machen, sie irgendwie zu managen?
Diesen und anderen Fragen wird sich das neue Einstein Zentrum Chronoi (EC-C) widmen, das im Januar 2019 seine Arbeit aufnimmt. Es wird ein Think Tank für die Altertumswissenschaften sein. Maßgeschneidert für Berlin und in seiner Form weltweit einzigartig. Experten der altertumswissenschaftlichen Fächer – Archäologie, Philologie, Geschichte, Altorientalistik, Philosophie oder Ägyptologie – werden hier gemeinsam mit Forscherinnen und Forschern aus den Sozial-, Natur- und Lebenswissenschaften die Wahrnehmung von Zeit, das Zeitbewusstsein und das Zeitmanagement in antiken Gesellschaften erforschen. Zugleich werden sie hinterfragen, wie das heutige, europäisch geprägte Konzept von Zeit, der „Zeitgeist“, die Altertumswissenschaften prägt. Auch die Zeitgebundenheit antiker Objekte und wie sich der Blick auf sie verändert, ist eine Forschungsfrage. Ein facettenreiches Thema, das bereits der Name des neuen Zentrums aufgreift: Nicht „Chronos“, der griechische Begriff für „Zeit“, ist namensgebend, sondern vor allem „Chronoi“, die vielen verschiedenen, miteinander verknüpften und sich überlappenden „Zeiten“ der antiken Welt. „So ein weitgefasstes Thema ist natürlich riskant, weil die Gefahr besteht, dass man sich verzettelt, weil so viele Leute etwas Interessantes dazu beizutragen haben“, sagt Eva Cancik-Kirschbaum, „aber Forschung wird von der Gesellschaft finanziert und muss Fragen aufgreifen, die öffentliches Interesse finden. Zeit berührt den Menschen – egal, woher er kommt.“
Die Professorin für Altorientalistik an der Freien Universität Berlin leitet das neue Einstein Zentrum als Direktorin gemeinsam mit Hermann Parzinger, Prähistoriker und Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, und Christoph Markschies, Professor für Ältere Kirchengeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Neben den beiden Universitäten und der Stiftung tragen die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, das Deutsche Archäologische Institut und das Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte das EC-C, das für sieben Jahre von der Einstein Stiftung Berlin gefördert wird. Die Kooperation der sechs Institutionen bewährt sich bereits seit 2007 im Exzellenzcluster Topoi, in dessen Fokus die Wechselwirkung von Raum und Wissen in den antiken Zivilisationen am Mittelmeer, im Schwarzmeerraum und im Vorderen Orient steht. Die Zusammenarbeit war so erfolgreich, dass daraus 2011 das Berliner Antike-Kolleg als Dachorganisation für die Altertumswissenschaften in Berlin hervorgegangen ist.
Für die Forscherinnen und Forscher bei Topoi und im Berliner Antike-Kolleg gehört das Aufbrechen der herkömmlichen Grenzen zwischen Geistes- und Naturwissenschaften bereits zum Alltag. Regelmäßig arbeiten sie mit Fachleuten aus der Biologie, Geografie, Physik oder Umweltökonomie zusammen. „Und das macht richtig Spaß, denn die Erkenntnisse sind erstaunlich“, sagt Christoph Markschies. Der Theologe beschäftigt sich unter anderem mit dem Fortleben heidnischer Traditionen im antiken Christentum und forschte über den antiken Heilschlaf. Jahrhundertelang war es üblich, sich in den Tempeln des Heilgottes Asklepios gesund zu schlafen. Als Markschies einem Schlafmediziner von diesem Kult erzählte, wurde schnell klar, dass nicht nur das Wirken der Priester für Linderung sorgte: „Im Tempel schliefen die Gläubigen auf Matten. Auf Matten liegt man besser und schläft ruhiger.“ Religion und medizinisches Erfahrungswissen ergänzten sich. Deshalb sieht Markschies in naturwissenschaftlichen Erklärungen auch keine Entzauberung der antiken Kulturen, sondern eine Bereicherung. „Solange wir das Altertum nur mit den Methoden unserer eigenen Disziplin untersuchen konnten, haben wir schwarz-weiß gesehen. Heute wird unser Bild von der antiken Welt richtig farbenfroh.“
Die Chronoi-Forschung zu Zeit und Zeitbewusstsein wird uns die Menschen der Antike vermutlich noch näherbringen. Eva Cancik-Kirschbaum erzählt, dass schon in Briefen aus dem 3. Jahrtausend darüber gestritten wird, ob man für das Pflügen unbedingt zwei Männer benötigt oder ob man nicht einen Arbeiter wegrationalisieren könnte. „Die Diskussion über Leistung und der damit verbundene Druck auf die Arbeitswelt ist sehr alt“, sagt sie. „Allerdings haben wir über die Jahrtausende kaum Kulturtechniken entwickelt, die uns gegen Zeitdiktate immunisieren könnten.“ Auch über das individuelle Zeitgefühl von Menschen in unterschiedlichen Kulturen geben antike Briefe Aufschluss. War eine Rede kurz- oder langweilig? Welche Beschäftigungen galten als Zeitvertreib und welche Arbeiten als zeitaufwändig? Wie plante man Verabredungen?
2017 wurde die Erforschung der „inneren Uhr“, des körpereigenen Taktgebers, mit dem Nobelpreis gewürdigt. Die Perspektive der Altertumswissenschaften könnte auch der Chronobiologie neue Erkenntnisse bringen, sagt Christoph Markschies. Tickte die Uhr stets gleich schnell? Hat sie sich evolutionär entwickelt oder durch technische Fortschritte wie die künstliche Beleuchtung beschleunigt? Altertumsforscher blicken 12.000 Jahre zurück, bis in die Zeit der Sesshaftwerdung des Menschen und darüber hinaus. „Über größere Zeiträume können wir Veränderungen im Zeitbewusstsein viel deutlicher feststellen als mit jüngeren Quellen“, erklärt Markschies. Und auch ganz praktische Fragen könnten die Chronoi-Forscher künftig in Experimenten klären. Etwa, wie schnell römischer Zement unter Wasser aushärtete. „Leider hat nämlich kein Römer aufgeschrieben, wie lange es dauerte, bis eine Zisterne dicht und betriebsbereit war“, sagt Eva Cancik-Kirschbaum.
Bei Chronoi ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit der Altertumswissenschaften mit anderen Disziplinen die Grundlage aller Forschungsvorhaben. Das Herz des Einstein Zentrums ist ein Fellowkolleg, zu dem die sechs Partnerinstitutionen Forschende aus aller Welt für ein halbes Jahr nach Berlin einladen. Die kleinen Projektgruppen werden so divers wie möglich zusammengestellt: Jüngere und erfahrenere Forscherinnen und Forscher aus aller Welt arbeiten zusammen, immer werden Fachleute aus den Natur-, Lebens- oder Technikwissenschaften Teil der Gruppe sein. Neben den Fellowprojekten sind sogenannte Erkundungen fester Teil des Forschungsprogramms: konzentrierte Spurts, in denen eine Fragestellung daraufhin abgeklopft wird, ob sie sich für ein längerfristiges Vorhaben eignet. Für das gemeinsame Studium der antiken Quellen wurde eine kleine Villa in Dahlem eingerichtet. Ein freundliches Haus, das die Begegnung fördern soll – zwischen den Forschenden und mit der Öffentlichkeit. „Wir haben die Villa extra so eingerichtet, dass sich niemand in eine Ecke verkrümeln kann“, sagt Cancik-Kirschbaum. Vor allem aber stehen den Gastwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern die weltweit einzigartigen Sammlungen, Bibliotheken und Infrastrukturen der sechs Chronoi-Partner offen. Ein Kooperationsmodell, das es so nur in Berlin geben kann, ist Eva Cancik-Kirschbaum überzeugt. Wie die ganze Stadt seien auch die Altertumswissenschaften erfasst von einem einzigartigen „Geist des Aufbruchs“.
Das wird der Altorientalistin vor allem im Rückblick klar, wenn sie sich an ihre erste Begegnung mit der Berliner Altertumsforschung erinnert. Im Herbst 1988 kam sie zum ersten Mal aus Tübingen für ein Gastsemester an der Freien Universität nach Berlin. Die Studierenden streikten gerade, die Seminare fielen aus und Cancik-Kirschbaum organisierte sich ihre Studien selbst. In Erinnerung geblieben sind ihr die Fahrten zwischen Universität und Antikensammlung in Westberlin und den Museen auf der Ostberliner Museumsinsel sowie die beeindruckende Materialität der Antike in beiden Teilen der Stadt. „Ich habe schon damals unbewusst verstanden, dass die antike Welt zusammengedacht werden muss. Aber die Institutionen waren voneinander getrennte Anstalten.“ Die Wiedervereinigung und die Exzellenzinitiative führten dann zu der Aufbruchstimmung, die bis heute zu spüren sei. „Die Institutionen sind immer noch da, aber sie haben sich einen Zustand der Fluidität gegeben, der es ihnen erlaubt, unkompliziert ineinanderzugreifen.“ Voraussetzung dafür seien persönliche Netzwerke, die es in der Berliner Altertumswissenschaft seit den ersten archäologischen und völkerkundlichen Expeditionen im 19. Jahrhundert gibt. Damals schon war Berlin ein Zentrum der Altertumsforschung. Die Universität, die Akademie der Wissenschaften, das Deutsche Archäologische Institut und die Museen ergänzten sich auf produktivste Weise und viele Forscher arbeiteten in Personalunion an mehreren Einrichtungen. Die Museumssammlungen boten Forschungsobjekte in Hülle und Fülle. Christoph Markschies erzählt: „Bei vielen Projekten arbeiteten Philologie, Archäologie, Geschichtswissenschaften und Ethnologie munter zusammen. Gefördert von Kaiser Wilhelm II., der Ethnologie als Hobby betrieb.“
Gut einhundert Jahre später festigen sich die persönlichen und institutionellen Verbindungen durch die Zusammenarbeit bei Topoi und im Berliner Antike-Kolleg wieder. Möglich wird so auch die Erforschung großer und übergreifender Themen, die keine Institution alleine bearbeiten könnte. „An einer Akademie arbeiten andere Forschertypen als am Museum oder einer Universität“, sagt Cancik-Kirschbaum. „In Berlin respektiert man Diversität. Und das Forschungsprogramm von Chronoi wird diese Diversität fördern.“ Viel versprechen sich die Direktoren vom außereuropäischen Blick der internationalen Fellows. Eva Cancik-Kirschbaum nennt ein Beispiel: „Man lernt unendlich viel von einem indischen Kollegen, der erklären kann, was rituelle Zeit ist. Dafür haben wir in Europa heute kein Gefühl mehr.“
So wie das Thema „Zeit“ keine natürlichen oder kulturellen Grenzen kenne, so solle auch die Perspektive der Forschung globaler werden. Rom und Griechenland werden künftig nicht mehr als herausragende Kulturinseln im Mittelpunkt der Forschung stehen, sondern als Knoten eines weltweiten Netzes unterschiedlichster Kulturen. In den Blick rückt so zum Beispiel Turfan, eine antike Handelsregion an der Seidenstraße in Ostturkistan, der heutigen westchinesischen Provinz Xinjiang. Zwischen 1902 und 1914 brachten vier Expeditionen des Völkerkundemuseums Tausende von Kunstobjekten und etwa 40.000 Textfragmente in mehr als 20 verschiedenen Sprachen nach Berlin. Sie werden seitdem an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften erforscht. Die Funde zeigen, dass in der Oase fast zwei Jahrtausende lang Menschen der unterschiedlichsten Kulturen und Religionen friedlich zusammengelebt hatten: Christliche Syrer, türkischstämmige Manichäer, Zarathustra-Anhänger, Buddhisten. Turfan war Kontaktbörse zwischen Ost und West, der Handel förderte den kulturellen Austausch, religiöse Gruppen fanden in der kargen Gegend Zuflucht vor Vertreibung. Die Turfanforschung sei beispielhaft für den Gewinn, den eine Gesellschaft aus antiken Quellen ziehen könne, sagt Christoph Markschies: „Die Altertumswissenschaften zeigen uns Modelle für friedliche oder unfriedliche Gesellschaften, für das Management von Diversität, für den Umgang mit unterschiedlichen Religionen und ihren Totalitätsansprüchen.“ Er macht eine Pause. „Und sie bieten die schlichte Freude, immer wieder etwas Neues zu entdecken.“