Der Fluch des Pharao

Ein Tag mit Amenemhet III. im Neuen Museum

04:13
Draußen ist es noch dunkel, aber hier im Pharaonensaal bleibt die Sicherheitsbeleuchtung auch nachts an. Der Nachtwächter schlurft vorbei. Er lässt den Blick schweifen über Sphinxen und Büsten, mustert mich kurz, dann verlässt er den Saal. Ich habe nicht mitgezählt, wie oft er heute Nacht schon hier war.

06:38
Die Putzkolonne feudelt den Terrazzo-Boden feucht durch. Mich rühren sie nicht an - nur die Restauratorinnen dürfen mich von Zeit zu Zeit abstauben.

09:13 
In der Empfangshalle trudelt das Kassen- und Garderobenpersonal ein. Die Aufseher versammeln sich an den Schließfächern, ich höre Smalltalk, es geht um Autoversicherungen und anderen neuzeitlichen Schnickschnack. 

09:56 
Ach, heute ist Herr S. wieder mein Aufseher, gemessenen Schrittes betritt er den Saal. Wir kennen uns ganz gut, schon seit knapp zwei Jahren. Er sagt, vom vielen Stehen bekomme er Rückenschmerzen.

10:00
Das Personal öffnet die Haupttür, ich kann jenseits des Prachtsaals einen Menschenstrom ausmachen. Die Spiele mögen beginnen.

10:05
Die erste Besucherin beäugt mich mit kritischem Blick, der Audioguide baumelt vor ihrem Bauch. Gestatten: Ich bin eine Beterstatue aus grün-grau glänzendem Granodiorit. Ich verkörpere Pharao Amenemhet III. der 12. Dynastie, 45 Jahre lang Herrscher über das Mittlere Reich, vor die Götter getreten um 1840 v. Chr. und bestattet in der Hawara-Pyramide südlich von Kairo. Gefunden hat man mich in der antiken Hauptstadt Memphis. 1855 kaufte mich der preußische Generalkonsul Ernst Friedrich August Freiherr von Pentz und ließ mich nach Berlin verschiffen. Soll ich ihm dafür dankbar sein?

10:26
Acht, neun Leute recken ihre Hälse und machen Fotos mit ihren Smartphones und Digitalkameras. Sie laufen einander durchs Bild. Für meinen Geschmack schenken sie der Skulptur zu meinen Füßen viel zu viel Aufmerksamkeit. Die aztekische Adlerschlange gehört eigentlich gar nicht in den Pharaonensaal, sie zieht demnächst ins Humboldt-Forum um. Es ist aber okay, dass die Kuratoren sie hierher gebracht haben, denn früher zierte eine aufgebäumte Uräusschlange auch meinen Kopfschmuck. Die ist leider schon vor langer Zeit abgebrochen, ebenso wie meine Nase und ein Teil meines linken Arms.

10:48
Herr S. ermahnt eine rothaarige Frau. Sie soll sich doch bitte ihren Pullover um die Hüfte binden. Ich ignoriere die Szene und starre auf das Eingangsportal meines Saales. Es ist einem Totentempel nachempfunden - mit einer geflügelten Sonnenscheibe, zwei Uräusschlangen und stilisierten Palmenblättern und Schilfbündeln.

11:01
Ich habe erst seit einer Stunde Publikum und habe schon drei Band-Shirts gezählt: Iggy & The Stooges, David Bowie, Iron Maiden. Ich hoffe noch auf ein T-Shirt von den Bangles. Ich liebe ihren Hit "Walk Like an Egyptian"!

11:34
Ein junger Vollbart macht sich lustig über die abgeblätterte Farbe an den Säulen und in den Nischen des Saales. "Das sieht hier ja aus wie in einer Kreuzberger Kneipe", sagt er. Was Du nicht weißt, mein Junge: Diese Farbreste stammen aus dem 19. Jahrhundert. Maler, Bildhauer und Architekten haben den Saal damals einem unserer Grabtempel nachempfunden.

12:12
Draußen steigt die Temperatur auf über 25 Grad, hier drin bleibt es so kühl wie in einer Grabkammer. Temperatur und Feuchtigkeit misst ein Gerät in einer Nische, das aussieht wie eine Kaffeemaschine mit einer Papyrusrolle darin.

12:58
Eine Frau mit Riemchensandalen und Blumenkleid posiert neben mir, fasst mir für ein Foto fast an den Po. Das überrascht mich nicht, denn der Bildhauer hat mich zu Recht schlank und drahtig gestaltet, 1,91 Meter groß mit nacktem Oberkörper. Sogar an einen Bauchnabel hat er gedacht.

13:04 
Jetzt rennen plötzlich Kinder mit Kladden um mich herum, sie wollen die Hieroglyphen lesen, die in den Pfeiler in meinem Rücken geritzt sind. Schert Euch nicht darum, Kinder! Die Zeichen sind nicht von mir. 600 Jahre nach meinem Tod hat Merenptah, ein Sohn von Ramses II., seine eigenen Inschriften einkerben lassen. Er hoffte, dadurch etwas von der Kraft Amenemhets III. zu gewinnen. Die Menschen glaubten damals, dass Pharaonen in ihren Statuen weiterleben. 

13:33 
Ein Pärchen fotografiert sich gegenseitig, beide tragen Strohhüte. Ihre Smartphones machen Klick- und Spulgeräusche wie bei einer Analogkamera. Tut mir leid, Leute, aber das ist sooo Altes Reich!

14:02
Ein Vater erklärt seinen beiden Kindern die Sphinx-Statue von Schepenupet II. zu meiner Linken und fasst sie dabei mehrmals fast an. Er kassiert eine Ermahnung von Herrn S. - ebenso eine Frau, die mit Blitz fotografiert. Dabei sind sie hier noch nachsichtig mit solchen Dingen. Ein Stockwerk höher, bei der wunderschönen Nofretete ist das Fotografieren komplett verboten. Leider habe ich sie nie zu Gesicht bekommen.

14:24
Ein Mädchen setzt sich im Schneidersitz vor mich und lauscht andächtig dem Audioguide. Sie erfährt, dass in meine Gürtelschnalle mein Thronname eingraviert ist: Ni-maat-Re. Der Name bezieht sich auf gleich zwei Götter.

15:18 
Jetzt wird es im Pharaonensaal voll wie auf einer Pyramidenbaustelle. Seine erste Pyramide musste Amenemhet III. damals ja leider wegen Baumängeln aufgeben. Den Totentempel der zweiten, der Hawara-Pyramide, nannte der antike Chronist Strabon dagegen noch vor 2000 Jahren ein Weltwunder. 

16:11 
Eine japanische Besucherin trägt einen Umhänge-Ventilator mit Katzenohren. Ich bin ganz begeistert.

16:59
Herr S. lehnt sich an eine Fensterbank. Die Besucher tröpfeln jetzt nur noch einzeln herein. Ein Mädchen versucht, meinen Namen zu lesen, sie stammelt: "Amen-, Amnemnem", dann bricht sie ab, mault im Weggehen: "Die hatten komische Namen damals."

17:14
Jetzt kommen die Eiligen, machen letzte Bilder, überfliegen die Texttafeln, eilen weiter. 2.350 Leute waren heute im Museum. Ich schätze, man hat mich 500-mal fotografiert.

17:52
Da ist wieder diese Stimme, die verkündet, dass das Museum in wenigen Minuten schließt.

17:57
Die schweren Holztüren zu meinem Saal fallen knarrend und quietschend ins Schloss.

18:01
Ich bin wieder allein mit der Aztekenschlange und ein paar Sphinxen, Büsten und Statuen. Auch Herr S. ist gegangen. Ihm tut sicher wieder der Rücken weh. Was soll ich da erst sagen, nach fast 4000 Jahren?

 

Text: Daniel Kastner