Stunde Null

Während in Syrien viele antike Stätten in Trümmern liegen, bereiten Berliner Archäologen gemeinsam mit syrischen Kollegen den Wiederaufbau vor

 

Die Besuchergruppe, die im Berliner Stunde wie die Oasenstadt Palmyra mit ihren Pergamonmuseum das Markttor von Milet betrachtet, ist schwer beeindruckt: Wie kommt es, dass dieser 17 Meter hohe, fast 2000 Jahre alte Fassadenbau mit seinen prunkvollen Bogentoren und Marmorsäulen hier in so gutem Zustand vor den Frauen und Männern steht? „Deutsche Archäologen haben ihn restauriert”, erklärt Omar Rasha* (Name auf Wunsch des Archäologen zum Schutz von Angehörigen und Kollegen geändert) ihnen auf Arabisch, dann fragt er in die Runde: „Erinnert euch das Tor an etwas?” „An meinen Geschichtsunterricht”, antwortet eine junge Frau mit Kopftuch. „An die Antike”, meint ihr Begleiter. „An Zuhause”, sagt ein älterer Herr mit graumeliertem Haar leise. Er seufzt. „Es erinnert mich an unsere antiken Stätten. In Bosra, in Palmyra, in Sweida. Sie waren so schön und sind jetzt zerstört. Was für eine Schande…”

Der Mann ist Syrer, genau wie die anderen Teilnehmer von Omar Rashas Gruppe. Sie haben sich zur „Multaka”-Führung angemeldet, wie „Treffpunkt” auf Arabisch heißt. Denn hier führen Expertinnen und Experten aus Architektur, Kunst oder Archäologie, die meist selbst vor dem Krieg nach Deutschland geflüchtet sind, sie in ihrer Muttersprache durch die weltberühmte Berliner Antikensammlung. Der 31-jährige Archäologe Rasha etwa kommt aus Aleppo. Und je länger er sich mit seinen Landsleuten über die Ausstellung unterhält, umso klarer wird: Sie alle sorgen sich nicht nur um ihre Familien und Freunde in der verlorenen Heimat, sondern auch um die dortigen Kulturschätze.

Vor dem Krieg waren die römischen Wasserräder von Hama oder die Säulenstraße von Apameia der Stolz des Landes, besucht von Touristen aus aller Welt. Die Altstadt von Bosra mit ihrem 15.000 Zuschauer fassenden Amphitheater, die Ruinen der „Toten Städte” in Nordsyrien sowie die Oastenstadt Palmyra mit ihren antiken Tempeln, Toren und Thermen zählten gar zum UNESCO-Weltkulturerbe. „Auch dort waren deutsche Wissenschaftlerinnen und Forscher beteiligt”, erzählt Omar Rasha seiner Multaka-Gruppe. „Jedenfalls bis zum Kriegsausbruch…”. Doch er hat auch eine gute Nachricht: „Sie engagieren sich weiter. Von hier aus, gemeinsam mit arabischen Fachleuten wie mir.”

Rasha spricht vom Berliner Museum für Islamische Kunst (MIK) und dem Deutschen Archäologischen Institut (DAI) – zwei Institutionen, die jahrzehntelang in Syrien geforscht haben. Und nun einen Rettungsplan für das bedrohte Kulturgut verfolgen. Eine der führenden Kräfte dahinter ist die Archäologin Karin Bartl. Sie leitet die DAI-Außenstelle Damaskus, die seit dem erzwungenen Wegzug aus Syrien und einer Interimsphase im jordanischen Amman ihren Sitz in Berlin-Dahlem hat. Ihre Erinnerungen klingen wehmütig: „Als wir im April 2011 unsere Grabungsstätten verlassen mussten, ahnte keiner, dass der Krieg so grausam und zerstörerisch werden würde. Wir dachten, nach ein paar Monaten hat sich die Situation beruhigt und wir können zurück an die Arbeit. Das war leider eine Illusion.” Bartl holt tief Luft. „Natürlich kann man das menschliche Leid nicht vergleichen mit kaputten Steinen. Fast jeder von uns Archäologen trauert um Mitarbeiter und weiß, wie dramatisch die Situation für die Menschen vor Ort und für die auf der Flucht ist. Aber trotzdem ist das Ausmaß der Verwüstung der historischen Stätten in Syrien eine Katastrophe.”

Granaten bersten in nationale Kulturgüter. Panzer rasen durch Ausgrabungsstätten. Historische Burgen werden als militärische Stützpunkte genutzt.

Tatsächlich schert sich keine der Kriegsparteien um die uralten Zeugnisse der Geschichte. Granaten bersten in nationale Kulturgüter. Panzer rasen durch Ausgrabungsstätten. Historische Burgen werden als militärische Stützpunkte genutzt. In Aleppo, Omar Rashas Heimatstadt, zerstören Artilleriefeuer und Bomben die Altstadt, beschädigen die Zitadelle, vernichten im September 2012 den mittelalterlichen Basar, während Rasha mit Kommilitonen für den Studienabschluss lernt. Im Oktober brennt die Umayyaden-Moschee aus, der bedeutendste Sakralbau des Landes; ein halbes Jahr später stürzt ihr 45 Meter hohes Minarett ein. „Es war furchtbar”, erinnert er sich. „Unsere Studienobjekte existierten auf einmal nur noch auf dem Papier.”

Als der jungen Archäologe Anfang 2013 nach seinem bestandenen Master in die Türkei  flieht, sind den Kämpfern überall im Land längst Plünderer gefolgt – der illegale Handel mit antiken Objekten ist ein lukratives Geschäft; nicht nur für den IS. Organisierte Banden fallen über die „Toten Städte” her, in Apamea rücken Profi-Räuber mit Baggern an, um Mosaike auszugraben. Im August 2015 – Omar Rasha hat es mittlerweile nach Deutschland geschafft – rücken IS-Truppen in Palmyra ein. Sie enthaupten den 82-jährigen pensionierten Leiter der syrischen Antikensammlung und sprengen unter anderem den Baal-Tempel, eines der wichtigsten religiösen Bauwerke aus dem 1. Jahrhundert n. Chr. im Nahen Osten. Auch das Hadrianstor, ein Triumphbogen mit drei reliefverzierten Bögen, der um 200 n. Chr. zu Ehren des römischen Kaisers Hadrian errichtet worden war, fällt ihnen zum Opfer.

„Je schlimmer alles wurde, umso klarer war für uns: Aufgeben ist keine Option”, sagt Friederike Fless, seit 2011 Präsidentin des DAI. „Wir fühlen uns verantwortlich für die Orte, die wir so lange erforscht haben, und auch für die einheimischen Mitarbeiter.” Also setzte Fless sich mit deutschen und syrischen Kolleginnen und Experten sowie Vertretern der UNESCO als Hüterin der Weltkulturerbestätten zusammen, um gemeinsam zu überlegen: Was können wir aus der Ferne tun?

Schnell fiel der Beschluss, die Grabungswächter vor Ort weiter zu bezahlen; diskret allerdings, um sie nicht in Gefahr zu bringen. Einige syrische Nachwuchs-Archäologen erhielten Stipendien für deutsche Universitäten. Schon länger in Deutschland forschende Iraker und Syrer initiierten am Berliner Museum für Islamische Kunst die Multaka-Führungen, um mit Neuankömmlingen in einen Dialog über die gemeinsame Geschichte zu treten. Neben Omar Rasha fanden hier 25 Geflüchtete eine fachliche Heimat und führen nun auf Arabisch und manche von ihnen auch auf Deutsch durch die Ausstellungen des Pergamonmuseums, durch die Skulpturensammlung und das Museum für Byzantinische Kunst im Bode-Museum sowie durch das Deutsche Historische Museum.

2012 schließlich startete in Berlin das „Syrian Heritage Archive Projekt”. In einer Art Wettlauf gegen das Böse digitalisiert ein Team von DAI und MIK seither Fotos, Artefakte und Pläne aus eigenen und fremden Archiven, die in jahrzehntelanger Feldarbeit in Syrien gewonnen wurden. „Das Ziel ist eine Datenbank mit möglichst vielen Bildern und Informationen von syrischen Bauwerken, Ruinen, Fresken, Mosaiken, Wandmalereien und anderen Kulturschätzen”, erklärt die Chef-Archäologin. „Damit können Ermittler der Polizei Raubgut identifizieren, das illegal im Kunsthandel angeboten wird. Vor allem soll die Datenbank die Grundlage bieten für einen späteren Wiederaufbau.”

Digitalisieren klingt technisch, ist in diesem Fall aber eine archivarische Sisyphusarbeit. Sausan Saleh, eine syrische Archäologin mit mittlerweile deutschem Pass, ist eine derjenigen, die sie erledigt. Ihre Zahlen klingen eindrucksvoll: Allein das MIK besitzt 48.000 Fotos, hinzu kommen riesige Nachlässe ehemaliger Museumsdirektoren, früherer Mitarbeiter der Orientabteilung des DAI sowie aktuellere Forschungsmaterialien. „Bei weitem nicht alle sind ordnungsgemäß beschriftet, einige gar nicht”, berichtet Saleh. „Damit die Datenbank Sinn macht, muss ich jedes einzelne Foto benennen, geografisch verorten, datieren und beschreiben – und zwar mit sämtlichen gängigen Schreibweisen: antiken, arabischen, englischen, französischen, altdeutschen, neudeutschen und so weiter. Falls vorhanden, verlinke ich auch Bibliografien. Das dauert.”

Über 150.000 Objekte sind bereits in die Datenbank „Gazetteer” (was „Ortslexikon” bedeutet) eingespeist. Je nach Qualität der Quelle schafft Saleh 300 pro Tag oder auch nur zehn. Öde wird ihr die Arbeit indes nie. „Mit jedem Bild gewinne ich neue Perspektiven auf meine Heimat”, sagt sie. „Und ich habe das Gefühl, etwas Sinnvolles für mein Land zu tun, obwohl ich sieben Jahren nicht mehr zu Hause war.” Sie schluckt. „Wie alle Syrer habe ich den Krieg und die Sorge um meine Lieben immer im Kopf. Aber hier zu arbeiten, gibt meiner Seele ein bisschen Ruhe.”

Derzeit sind die syrischen Gazetteer-Daten nur Eingeweihten zugänglich. „Wir wollen den Antikenräubern nicht auch noch Hinweise geben, wo sich schöne Stücke befinden”, erklärt Projektleiterin Karin Bartl. Später hingegen, wenn Frieden herrscht und die Aufräumarbeiten losgehen können, soll das digitale Archiv allen Interessierten offenstehen.

Um diese Stunde Null vorzubereiten, haben DAI und MIK mithilfe von Sondermitteln „Flucht und Migration” des Auswärtigen Amts weitere Projekte lanciert. Zuallererst geht es um Schadenserhebung. Für Aleppo beispielsweise ermittelt Omar Rasha mit Kollegen am MIK, an welchen Gebäuden welche Schäden entstanden sind. Dafür leiten ihm auch vor Ort verbliebene Kollegen Informationen weiter. „Sie gehen damit ein hohes Risiko ein”, sagt Rasha. „Man weiß in Syrien nie, wer einen beobachtet.”

Am DAI wiederum entwickeln deutsche und syrische Experten derzeit ein geografisches Informationssystem zu Palmyra, das wie das Gazetteer-Register später öffentlich zugänglich sein soll. Es basiert auf einer Karte, in der ein deutscher Archäologe 2005, nach jahrzehntelanger Forschungsarbeit, sämtliche Anlagen und Grabungsstrukturen der antiken Stätte verortet und beschrieben hat. Viele davon liegen nun in Schutt und Asche – doch könnten dank dieser einzigartigen Dokumentation und mithilfe von Satellitenaufnahmen und Drohnenbildern in ferner Zukunft wieder rekonstruiert werden.

Palmyra, das westliche Historiker gern als kosmopolitisches Zentrum der Antike feiern, wird von vielen Syrern zuallererst mit einem furchtbaren Folterknast des Assad-Regimes in Verbindung gebracht

„Bevor man mit dem Wiederaufbau loslegt, muss allerdings das ‚Wie?‘ geklärt werden”, betont DAI-Präsidentin Friederike Fless, „egal ob es um Wohnviertel oder historische Stätten geht. Wir Deutsche haben ja Erfahrung damit, aus Trümmerlandschaften Neues aufzubauen. Die Frage ist nur: Geht man vor wie in Münster? Oder wie in Hannover?”

Im Juni 2016 organisierte das DAI daher im Auswärtigen Amt in Berlin eine internationale Konferenz, auf der deutsche und syrische Expertinnen und Experten sowie Vertreter der UNESCO diskutierten: Was steht an, wenn der Schutt erst mal beseitigt ist? Altes vergessen und modern überbauen? Historisch rekonstruieren wie beim Berliner Stadtschloss? So restaurieren, dass die erlittenen Schäden sichtbar bleiben wie im Neuen Museum? Überhaupt: Wo fängt man an und in welcher Reihenfolge geht man vor? Erst Infrastruktur, dann Stadtviertel, dann erst Denkmäler? Oder umgekehrt? Und zuletzt die wichtigste Frage: Wer entscheidet das?

„Die Syrer, nicht wir. Das steht schon mal fest”, sagt die DAI-Präsidentin. Alle anderen Debatten sind nun angelaufen, zum Teil auch anders als von den Gastgebern erwartet. „Für einige arabische Kollegen ist das Restaurieren zerstörter Moscheen oder mittelalterlicher Kastelle beispielsweise erst mal wichtiger als das von antiken Ruinen”, berichtet Fless. Palmyra wiederum, das westliche Historiker so gern als kosmopolitisches Zentrum der Antike feiern und am liebsten sofort wiederaufbauen würden, werde von vielen Syrern zuallererst mit einem furchtbaren Folterknast des Assad-Regimes in Verbindung gebracht, der dort liegt. „Entsprechend schwer fällt es ihnen, unsere Begeisterung nachzuvollziehen.”

Parallel zur Theorie kümmert sich das DAI auch um die Praxis oder vielmehr: um Praktiker. „Gute Ideen nützen ja nichts, wenn keiner das Know-how besitzt, sie auch umzusetzen”, so Fless. Experten von DAI und MIK bilden daher in Nachbarstaaten Syriens – dem Libanon, Jordanien und Ägypten – Einheimische und syrische Flüchtlinge aus: im Vermessen, Kartieren, Datenbankmanagen, Restaurieren, Steinmetzen und zu Handwerkern, die später im Auftrag der Archäologen anpacken sollen.

Multaka-Führer Omar Rasha geht einen ganz ähnlichen Weg: Der junge Archäologe hat im Wintersemester in Potsdam ein Studium als Restaurator begonnen. Auch die Multaka-Touren im Museum will er weiterführen. „Ich bin wahnsinnig glücklich über diese Möglichkeiten”, sagt er. „Mein Traumjob wäre dennoch ein anderer: Ich wünsche mir nichts mehr als irgendwann, wenn der Horror in Syrien endlich vorbei ist, unsere zerstörten Stätten mit wiederaufzubauen.”

Text: Katja Trippel